Damit du glücklich bist
Bilbo wurde von den ersten blendenden Strahlen des Tageslichts geweckt und fuhr erschrocken hoch.
Er sah sich um. War er eingeschlafen? Die Sonne war inzwischen aufgegangen und warf ein warmes Licht durch die Zeltplane. Als er realisierte, dass er noch immer die Hand Thorins hielt, ließ er seinen Blick zu seinem Freund gleiten. Dieser hatte die Augen leicht geöffnet. Als er sah, dass der Hobbit aufgewacht war, stahl sich ein Lächeln auf seine Lippen.
"Guten Morgen. Ich dachte schon, du wachst gar nicht mehr auf."
"G-guten Morgen..." stammelte Bilbo und gähnte. Guten Morgen. Er grinste, als er daran zurückdachte, wie ihn ebendiese zwei Worte einst in dieses Abenteuer verwickelten. "Ich kann mich gar nicht daran erinnern, eingenickt zu sein... Hab ich lange geschlafen? Oh verdammt, ich muss zu den anderen! Sie suchen mich bestimmt schon..."
Zögerlich ließ er Thorins Hand los. "Bis später... am Besten, ich mach mich jetzt aus dem Staub, bevor mich die Elben noch hier erwischen. Ruh dich weiter aus. Du siehst noch ziemlich... entschuldige, aber du siehst noch ziemlich... krank aus..."
Der Zwerg schmunzelte. "Geh nur. Hauptsache, du lässt bis zu deiner Rückkehr nicht allzuviel Zeit verstreichen..."
Bilbo nickte lächelnd und schlich sich auf Zehenspitzen aus der Sichtweite Thorins, wo er den Ring an seinen Finger steckte.
~~~
Verborgen vor den Blicken aller rannte er freudestrahlend zurück zum Einsamen Berg. Er konnte es kaum erwarten, seinen Freunden zu erzählen, dass Thorin endlich aufgewacht war und freute sich schon auf deren verblüffte Gesichter.
Die Zwerge waren tatsächlich noch nicht aufgewacht und Bilbo fand sie in derselben Position vor, in welcher er sie heimlich verlassen hatte.
Er räusperte sich, woraufhin sich ein paar der Zwerge langsam regten und sich die Augen rieben.
"Es gibt Neuigkeiten!" sagte er mit lauter Stimme, damit ihn auch alle verstanden. Bombur, der bis jetzt noch immer auf dem Boden gelegen hatte, fuhr erschrocken hoch und fluchte leise. "Musst du denn so schreien..."
Nacheinander richteten sich die Zwerge nun langsam auf, gähnten und streckten sich. "Dürften wir vielleicht den Grund erfahren, warum du uns in dieser Herrgottsfrühe aus dem Schlaf schreist?" murmelte Bofur.
"Erstens habe ich nicht geschriehen und zweitens... naja. Thorin ist wach."
Sofort waren alle Blicke auf ihn gerichtet. Bilbo grinste. Auf diesen Moment hatte er sich schon gefreut. Augenblicklich wurde er von Jubelrufen und Fragen überhäuft.
"Wie? Was? Er ist aufgewacht?" "Woher weißt du das?" "Und das sagst du erst jetzt?"
"Ich war bis gerade eben noch einmal unten bei den Elben um nachzusehen, wie es ihm geht."
"Aber du hättest uns doch Bescheid geben können! Wir wären mitgekommen." meinte Kili beleidigt.
Bilbo lachte. "Ihr wart sturzbetrunken. In diesem Zustand hätten euch die Elben bestimmt sowieso nicht zu ihm gelassen."
"Was stehen wir hier eigentlich noch herum? Los, auf zu Thorin!" meinte Bofur und stürzte zur Tür hinaus, vergaß jedoch sein verletztes Bein und fiel zu Boden. Bilbo half ihm wieder auf die Beine und stützte ihn zusammen mit Ori. "Immer mit der Ruhe! Thorin läuft schon nicht weg..." meinte er lachend. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg nach unten.
~~~
Es war ein herzliches Wiedersehen. Die Zwerge versammelten sich rund um das Krankenbett, schilderten ausführlich die Ereignisse der vergangenen Schlacht und erklärten, was geschehen war, nachdem Bilbo ihn halb tot gefunden hatte, erzählten von den Adlern und den Elben, während Thorin aufmerksam zuhörte.
Der Hobbit stand etwas abseits. Seine Sicht auf das Bett war von den zwölf Zwergen versperrt, sodass er nur einen Blick auf das dunkle Haar Thorins werfen konnte.
"Bilbo." hörte er den Zwergenkönig plötzlich sagen. Die anderen Zwerge traten einen Schritt beiseite, damit der Hobbit näher kommen konnte. "Ja?"
"Ich möchte mich bei dir bedanken. Hättest du nicht den Einfall mit den Adlern gehabt, dann... wäre ich jetzt vermutlich tot. Es scheint, du hast mir schon wieder das Leben gerettet, Meisterdieb." Thorin setzte ein warmes Lächeln auf.
Bilbo erwiderte es leicht, schüttelte jedoch den Kopf. Er fühlte sich immer noch in gewissem Maße verantwortlich für den Zustand seines Freundes. "Die Elben waren es, die dir das Leben gerettet haben."
"Tja, dann muss ich mich wohl oder übel bei ihnen bedanken... und entschuldigen, ob es mir passt oder nicht. Vielleicht ist jetzt der richtige Zeitpunkt, unsere alten Streitigkeiten aus dem Weg zu räumen." meinte Thorin mit ernster Miene.
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Die darauffolgenden Tage und Wochen vergingen wie im Fluge. Thorins Wunde heilte dank der Elben erstaunlich schnell, sodass er schon nach einer Woche wieder einigermaßen gehen konnte. Dem Durchsetzungsvermögen der Zwerge war es zu verdanken, dass er schon nach dieser kurzen Zeitspanne zurück in den Berg gehen durfte. Kaum dort angekommen, veranlasste er auch schon wieder den Aufbau Erebors, Dain war mit seiner Armee geblieben und half, ebenso wie die Menschen der Seestadt. Thorin versprach ihnen im Gegenzug einen Anteil am Schatz und den Wiederaufbau der Stadt Thal, in deren Trümmer sich die Menschen zurückgezogen hatten, nachdem Smaug Esgaroth zerstört hatte.
Der Leichnam des Drachen ruhte weiter im See, niemand wagte sich direkt in die Nähe der Stelle, an der er versunken war. Wenn das Wetter ruhig war und kein Wind wehte, konnte man ihn noch immer dort in der Tiefe verwesen sehen und die rötlich schimmernden Goldstücke und Edelsteine erkennen, die vom langen Liegen auf dem Zwergenschatz fest mit seinem Drachenpanzer verwachsen waren.
Die Schäden, die Smaug und die Schlacht der fünf Heere angerichtet hatten, waren binnen weniger Monate behoben. Langsam trat der Frühling ein und Thorin hatte sich als weiteres Ziel gesetzt, die Seestadt wieder als Handelszentrum neu zu errichten und aus dem Tal bestelltes, fruchtbares Land zu machen, da immer mehr Menschen aus dem Süden und Westen zur Stadt Thal strömten.
Die Elben und Menschen bekamen zuvor, was ihnen zustand. Nachdem Thorin der Arkenstein ausgehändigt wurde, erhielt Bard, der zum Fürst von Thal ernannt worden war, einen Vierzehntel Anteil am Schatz für den Wiederaufbau der Stadt und für den Schaden, den das Drachenfeuer in Esgaroth angerichtet hatte. Thranduil erhielt als Dank für die Hilfe auf dem Schlachtfeld und für die Heilung des Zwergenkönigs die Edelsteine, um die er Thorin schon während dessen Gefangenschaft in seinen Hallen "gebeten" hatte. Thorin überließ sie ihm, wenn auch mit einem grimmigen Blick.
Die Nächte wurden kürzer und die Tage länger, das Tal begann grün zu werden und die Vögel zu singen.
Bilbo hatte Heimweh. Aus irgendeinem Grund, der sich ihm nicht ganz erschloss, traute er sich nicht, es einem der Zwerge zu sagen. Er gab sich Mühe, seine Sehnsucht nach dem Auenland so gut es ging zu überspielen. Auf der einen Seite hinderte ihn nichts mehr an seiner Abreise, doch auf der anderen Seite graute es Bilbo davor, Abschied zu nehmen. Abschied von Dori, Nori, Ori, Bifur, Bofur, Bombur, Dwalin, Balin, Oin, Gloin, Fili und Kili. Und vor allem von Thorin. Denn ihm war klar, dass er, sollte er jetzt gehen, nicht so schnell zurückkehren würde. Und er wollte Thorin nicht verlieren. Er wollte keinen Abschied nehmen. Aber er hatte Heimweh.
Er aß kaum noch etwas, und wenn, dann nicht viel (und das will etwas heißen bei einem Hobbit). Oft ging er nachdenklich durch die großen Hallen Erebors, machte lange Spaziergänge durch die Wälder oder saß einfach vor seinem Fenster, sah hinaus ins grüne Tal und den Himmel und dachte an das Auenland...
... und an Thorin.
Dem Zwergenkönig entging Bilbos Traurigkeit natürlich nicht. Oft sah er zu, wenn der kleine Hobbit gedankenverloren umherschlenderte, er lächelte immer weniger. Und es tat ihm weh, Bilbo nicht mehr lächeln zu sehen.
Irgendwann hielt er es nicht mehr aus und fing ihn ab, als er erneut nachdenklich durch die Hallen Erebors schritt.
"Bilbo? Ich würde gerne mit dir reden."
Aus den Gedanken gerissen hob der Hobbit den Kopf und zwang sich ein gequältes Lächeln ins Gesicht. "Ja?"
Thorin räusperte sich verlegen. "W... wollen wir uns vielleicht setzen?" Bilbo nickte.
Sie gingen ein Stück weiter und setzten sich schließlich auf eine Bank vor einem großen Fenster, von dem man das gesamte Tal überblicken konnte. "Worüber willst du mit mir reden?"
Thorin wartete einen Moment, ehe er antwortete.
"Es geht um dich... Lange Monate sind seit der Schlacht der fünf Heere verstrichen und in jedem dieser langen Monate habe ich dein stetig wachsendes Unbehagen gespürt. Es geht dir nicht gut. Das spüre ich."
Der Hobbit sah auf. "Wie... kommst du darauf, dass es mir nicht gut geht?"
Thorin lachte bitter. "Du bist mein Freund, Bilbo. Und ich denke, ich kann behaupten, dass unsere Freundschaft auf Gegenseitigkeit beruht. Doch selbst ein Blinder würde erkennen, dass du dich hier nicht mehr wohlfühlst."
"Verzeih, aber du irrst dich, Thorin. Ich bin gerne hier, bei dir... bei euch."
"Ist das so?" Bilbo wandte seinen Blick ab und sah hinaus auf das Tal, das vor ihnen lag. Thorin fuhr fort. "Heimweh ist etwas ganz Natürliches. Glaub mir, du musst dieses Gefühl nicht vor mir verbergen."
Bilbo sagte noch immer nichts, stattdessen wandte er den Kopf wieder Thorin zu und sah ihm in die Augen.
"Das Abenteuer ist vorbei, die Gefahren gebannt. Alles ist zu einem guten Ende gekommen, die Menschen und Zwerge sehen einer glücklichen Zukunft entgegen. Was ich damit sagen wollte... Du hast deine Aufgabe erfüllt und es war mir eine Ehre, dich als Meisterdieb in die Gemeinschaft aufgenommen haben zu dürfen. Um ehrlich zu sein, hätte ich zu Beginn dieses Abenteuers nie gedacht, dass du mir einmal so viel bedeuten würdest... als... als Freund. Und daher, weil ich dich als Freund so schätze und will, dass du glücklich bist..." Thorin stockte und redete nach einem kurzen Moment weiter.
"Du kannst gehen, Bilbo. So gern ich dich auch hierbehalten würde... du kannst gehen, wenn du magst. Du musst nicht bleiben. Niemand verlangt das von dir."
Der kleine Hobbit sah ihm noch immer in die Augen, berührt von seinen Worten. Schließlich seufzte er. "Das... das ist nicht so einfach." Seine Stimme wurde leiser, bis er schließlich nur noch flüsterte. "Ich will euch... ich... will dich nicht verlieren."
"Aber das tust du doch nicht!"
"Doch, Thorin, das würde ich."
"Ich... wir würden dich besuchen kommen. Und du uns. Wann immer du willst."
"Und wie oft wäre das dann? Einmal im Jahr? Du bist König, Thorin, du hast hier Pflichten. Ich bin ein Hobbit aus dem Auenland, und zwischen dem Einsamen Berg und Beutelsend liegen hunderte Meilen - vielleicht würden wir uns am Anfang noch ab und zu besuchen, aber glaube mir, nach einiger Zeit würden wir uns aus den Augen verlieren. Und das ist der Grund, warum ich nicht zurück will. Nicht zurück kann."
Thorin sah zu Boden. "Ist es das, was dein Herz dir sagt? Dass du jegliche Rücksicht auf deine Gefühle verdrängen sollst? Was ich damit sagen will... du solltest nicht nur unseretwegen hierbleiben. Herauszufinden, wo man wirklich hingehört, ist schwer. Doch hier bist du nicht glücklich. Wenn das jetzt schon so ist, wie soll das dann erst in ein paar Monaten, in ein paar Jahren aussehen?"
"Ich weiß es nicht."
"Gibt es denn in Beutelsend niemanden, der auf dich wartet? Den du vermisst hast?"
Bilbo schüttelte den Kopf. "Weißt du, ich hätte nie gedacht, dass ich in euch einmal so gute Freunde finden würde. Ihr seid meine engsten Freunde, vor... vor allem du. So etwas hatte ich noch nie."
Thorin nickte stumm und Bilbo fuhr fort.
"Es ist ja nicht so, dass ich nicht schon darüber nachgedacht hätte - über meine Abreise. Ich gehöre hier eigentlich nicht hin. Aber immer, wenn ich daran denke, dann denke ich auch daran, was ich gleichzeitig verlieren würde." Dich.
"Du tust dir keinen Gefallen, indem du bleibst, und das weißt du auch." Thorin sah den Hobbit mit einem warmen Blick an - diesem Blick, bei dem Bilbo immer wieder schwach wurde. Nein! Stopp! Wir sind nur Freunde, Bilbo Beutlin. Nur sehr gute Freunde.
"I-ich weiß einfach nicht, was ich tun soll..."
"Ich ertrage es nicht, dich noch länger so zu sehen. Glaub mir, so seltsam es klingen mag, es wäre das Beste für dich, wenn du dich auf den Heimweg machst. Vergiss die anderen und mich für einen Moment und denk an dich! Solltest du nach einer gewissen Zeit im Auenland doch erkennen, dass du lieber bei uns geblieben wärst, dann komm zurück. Wir werden dich jederzeit mit offenen Armen empfangen. Jederzeit. Ich würde mit dir kommen, wenn ich könnte."
Bilbo nickte und lächelte. "Danke." Thorin lächelte zurück. Der kleine Hobbit war so unglaublich dankbar, dass er ihm gerade die wohl schwerste Entscheidung seines bisherigen Lebens abgenommen hatte, auch, wenn die Lösung nicht ganz seinen Wünschen entsprach. Aber die Entscheidung war getroffen. Er würde abreisen.
"Schön, dass du wieder lächeln kannst."
"Thorin, da ist noch etwas."
"Ja?"
"Etwas, was ich dich schon die ganze Zeit fragen wollte... es war nur nie der richtige Zeitpunkt."
"Nur heraus damit." Thorin lächelte ermutigend.
"Kurz bevor du gestorben bist... äh... das heißt... nicht gestorben bist - da wolltest du mir etwas sagen, etwas wichtiges."
Thorins Lächeln erstarb plötzlich. Er räusperte sich verlegen und fuhr sich durch die Haare. "Oh... äh... ja, das..." er atmete tief ein und wieder aus. "Um ehrlich zu sein, erinnere ich mich nicht... t-tut mir leid."
Bilbo runzelte ungläubig die Stirn. Er erkannte, dass Thorin etwas zu verbergen hatte. War es ihm peinlich?
"Schon gut, das... kann passieren. Ich dachte nur, weil es dir offensichtlich wichtig war, dass ich es weiß..."
Thorin sagte nichts und biss sich auf die Unterlippe. So nervös hatte Bilbo den Zwergenkönig noch nie erlebt. Was war denn los? Irgendwie süß, den sonst so selbstbewussten, majestätischen Thorin so unsicher wie ein Kleinkind zu sehen. Irgendwie süß? Ernsthaft, Bilbo?
"Nun, vergessen wir das." meinte er schließlich, um Thorin zu erlösen.
Einen langen Moment lang saßen sie so da und wechselten verlegen Blicke. Irgendwann nach einer Ewigkeit brach Thorin die Stille.
"Wann gedenkst du, abzureisen?"
"So bald wie möglich, nehme ich an. Vielleicht schon morgen oder übermorgen. Aber ich brauche noch Zeit, um mich von allen zu verabschieden."
Thorin nickte. "Ist gut."
Plötzlich sprang er auf und schenkte ihm wieder dieses unbeschreibliche Lächeln. "Weg mit den dunklen Gedanken! Wir sollten die Zeit genießen, in der du noch hier bist. Lass uns zurück zu den anderen gehen und ein letztes Mal auf unsere gemeinsamen Abenteuer anstoßen."
Bilbos Mundwinkel zuckten und er nickte. "Ja, das klingt nach einer guten Idee."
Gemeinsam machten sie sich auf den Weg zurück. Doch für den Rest des Abends kreiste noch immer diese eine Frage in Bilbos Kopf.
Was hatte Thorin ihm sagen wollen?
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Boah, kennt Ihr das, wenn Ihr überhaupt nicht zufrieden mit einem Kapitel seid, es aber trotzdem veröffentlicht?
Eigentlich wollte ich das schon gestern veröffentlichen, aber ich musste ne Deutschklausur nachschreiben und war danach einfach zu fertig, um nochmal online zu kommen XD.
In den letzten Tagen war ich allerdings ziemlich produktiv und hab schon mehrere Kapitel vorgeschrieben - Teil 5 kommt also voraussichtlich schon nächste Woche.
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