Bevor ich gehe...
Langsam öffnete Bilbo die Augen.
Ein grelles Licht blendete ihn und ließ den kleinen Hobbit blinzeln. Seine Augenlider waren schwer, sein Kopf dröhnte vor Schmerz. Weit über ihm nahm er verschwommen riesige Schatten wahr, die in schwindelerregender Höhe ihre Bahnen zogen. "Die Adler..." murmelte er, noch halb benommen. "Die Adler kommen..."
Langsam richtete er sich auf - und wäre fast wieder gestürzt, hätte er sich nicht an einem der Felsen abgestützt. Sein Kopf fühlte sich an, als würde er platzen und schmerzte bei jeder noch so kleinen Bewegung. Bilbo stöhnte auf und rieb sich die Schläfen. Wo war er? Was war passiert? Sein Blick fiel auf einen Haufen toter Orks. Plötzlich begriff er und die Erinnerungen fanden ihren Weg zurück in sein Gedächtnis. "T-Thorin..." stammelte er und sah sich hektisch um. Die Stille beunruhigte ihn. "Thorin!" schrie er mit all seiner Kraft.
Keine Antwort.
Das musste noch nichts heißen, nicht wahr? Und dennoch breitete sich ein unangenehmes Gefühl in seiner Brust aus und schnürte ihm die Kehle zu. Das Gefühl der Machtlosigkeit. Das Gefühl der Besorgnis. Eine böse Vorahnung. "Bitte, lass mich falsch liegen..." flüsterte er tonlos.
"Bitte, bitte, lass ihn am Leben sein." murmelte er weiter und machte sich auf die Suche.
~~~
Es dauerte nicht lange, bis er ihn sah. Am Boden liegend. Hilflos und allein. Bilbos Herz setzte für einen kurzen Moment aus. "Thorin!" rief er mit brüchiger Stimme, rannte so schnell es seine Beine erlaubten auf ihn zu und kniete sich neben den um Atem ringenden Zwergenkönig auf das vom Kampf zersplitterte Eis, dessen gläserne Struktur von scharlachroten Rinnsalen durchzogen wurde. Von dem Blut seines Freundes.
"B-Bilbo..." Thorin wandte unter Schmerzen seinen Kopf und sah dem Hobbit in die Augen. Seine sonst so kräftige und tiefe Stimme war nur noch ein Krächzen, es schien jegliche Kraft aus ihm gewichen. Er hustete mit einem heisernen, gurgelndem Geräusch auf. Bilbo war den Tränen nahe, versuchte jedoch, ruhig zu bleiben. "Ni-nicht bewegen! Lieg still..." befahl er mit zitternder Stimme und tastete nach Thorins Verletzung. Ein entsetzlich großer, den ganzen Brustkorb durchdringender Stich. Als er die tiefe Wunde sah, aus der das Blut noch immer in Strömen quoll, atmete er scharf ein und hielt sich die Hand vor den Mund. Er konnte ihm nicht mehr helfen, das erkannte er sofort. Tränen stiegen ihm in die Augen, doch er versuchte, gegen sie anzukämpfen. Mit zitternden Händen drückte er auf die Wunde seines Freundes, um den Blutfluss zu stoppen, doch vergebens. Es war zu spät.
"I-ich bin froh, dass du hier bist." keuchte Thorin. "Ich möchte in Freundschaft von dir scheiden..."
Jetzt sah Bilbo auf. "Nein! Nein, nein, nein, nein, nein, du gehst nirgendwo hin!" entgegnete er, plötzlich wild entschlossen. "Du wirst leben!" Woher diese plötzliche Entschlossenheit kam, war ihm selbst nicht klar. Tatsächlich war er sich selbst nicht bewusst, ob er es wirklich so meinte oder ob es lediglich eine beruhigende Floskel war, die ihm über die Lippen gekommen war, mit dem Ziel, ein - wenn auch aussichtsloses - Gefühl der Hoffnung zu verbreiten.
Thorin sah dem Halbling noch immer in die Augen, schnappte nach Luft und schluckte. "Ich.. ich möchte zurücknehmen, was ich am Tor zu dir gesagt habe... D-du hast getan, was ein wahrer Freund tut..."
Jetzt lächelte Bilbo, noch immer Tränen in den Augen. Doch es war kein fröhliches Lächeln. Es war ein trauriges, verzweifeltes, voller Reue, Trauer und... Wut. Aber dennoch ein Lächeln, und ein Lächeln spendet selbst in den aussichtslosesten Situationen Trost. "Vergib mir..." hauchte Thorin. Bilbo sah ihm ins Gesicht, sah, wie das strahlend kräftige Blau seiner Augen immer blasser wurde. Er wusste nicht, was er sagen sollte und schwieg. Er spürte, dass das Ende nahte. Und dass sein Freund dies wusste. Thorin sprach weiter. "Ich war zu blind, es zu sehen.... Es... es tut mir so leid, dass ich dich in solche Gefahr gebracht habe..."
Thorin stöhnte auf vor Qual und wandte sich ab, das Gesicht vor Schmerz verzerrt. Bilbo nahm seine Hand. "Nein." sagte er schnell. "Ich bin froh, dass ich mit dir durch die Gefahren gehen durfte, Thorin! Um jede bin ich froh!" Der Zwerg sah wieder zu ihm auf. Der Hobbit sprach weiter. "Das ist viel mehr, als irgendeinem Beutlin zukommt..."
Der Zwergenkönig lächelte und sah den Halbling an. In seinem Gesichtsausdruck lag etwas, was Bilbo nicht richtig deuten konnte. Güte, Wärme. Aber auch Trauer. Eine Mischung, die er bisher nur bei ihm gesehen hatte - und nicht zum ersten Mal. Aber dieses war mit bitterer Gewissheit das letzte Mal...
"Leb wohl, Meisterdieb..." hauchte Thorin, noch immer dieses unbeschreibliche Lächeln auf den Lippen. Bilbo brach den Blickkontakt für einen kurzen Moment ab, um seine nun in Strömen fließenden Tränen vor ihm zu verbergen. Er biss sich auf die Lippen, war nicht im Stande, auch nur ein Wort zu sagen. Das musste er auch nicht.
"Kehr zu deinen Büchern zurück... und zu deinem Sessel. Pflanz deine Bäume, sieh zu, wie sie wachsen." Thorin hielt kurz inne und schluckte das Blut in seinem Mund hinunter. Es schien, als spürte er die Schmerzen schon gar nicht mehr. "Thorin..." flüsterte Bilbo unter Tränen, doch dieser fuhr unentwegt fort. "Gäbe es nur mehr, die ein Zuhause höher erachten als Gold, ..." Sein qualvolles Lächeln wurde breiter. "... diese Welt wäre ein viel glücklicherer Ort..."
Plötzlich erstarb sein Lächeln, er stöhnte mit einem kehligen, rasselnden Geräusch auf, rang nach Atem und krümmte sich unter den Qualen, die er erlitt, das Gesicht vor Schmerz verzerrt. Jetzt konnte Bilbo nicht mehr ruhig bleiben. "Nein! Nein, nein, nein, nein, nein! Nein! Thorin! Wag es ja nicht..." Reflexartig legte er eine Hand unter den Kopf seines Freundes und hob ihn leicht an, damit er nicht an seinem eigenen Blut erstickte. Mit einem gurgelndem Geräusch würgte Thorin und ein weiterer Schwall tiefroten Blutes ergoss sich über seine ohnehin schon blutgetränkten Kleider und färbte das reine Weiß des Schnees in ein dunkles Rot.
Bald würde alles vorbei sein.
Sie sahen sich an. Wieder war es Thorin, der die plötzlich entstandene Stille brach. "Bilbo... d-da ist etwas, wa... was du wissen musst, bevor ich... gehe..." stammelte er mit letzter Kraft. Bilbo wimmerte nur noch und hielt sich die Hand vor den Mund. "B-bilbo.... ich will, dass du weißt, da... dass... ich... ich dich..."
Weiter kam er nicht. Mitten im Satz zog Thorin scharf Luft ein, atmete langsam aus, und - Stille. Kein Atem. Seine Brust hob und senkte sich nicht mehr. Seine Hand, die der Hobbit noch immer fest an seine Brust gedrückt hielt, wurde schwer und hing nur noch schlaff in Bilbos Armen. Die verblassten, blauen Augen waren weit geöffnet und starrten hoch, in den Himmel, ins Leere.
Thorin war tot.
Bilbo wimmerte, spürte die Tränen nicht, die ihm nun unaufhaltsam die Wangen hinunterrollten. Sein Herz stand still. Nein. Sollte das etwa das Ende sein?! Das Ende von Thorin Eichenschild, seinem König, seinem Anführer, seinem... engsten Freund?! Bilbo stand auf und legte sich am Kopf des Zwergenkönigs nieder, seine rechte Hand auf Thorins Brust, seine linke auf seinem Kopf ruhend. Er legte seine Stirn an die seine und deutete mit der einen Hand nach oben in den Himmel, wo die gigantischen Vögel noch immer ihre Kreise zogen. Er vergrub sein Gesicht in den schwarzen Locken des Zwergen. "Thorin..." flüsterte er und klopfte ihm an die Schulter, so, als wolle er ihn aus einem sanften Schlaf rütteln, wohl wissend, dass dieser es nicht mehr spüren konnte. Er war fort. Schon lange.
"Thorin..." flüsterte er wieder, als würde er mit einem kleinen Kind reden, rüttelte weiter an ihm und deutete wieder in den Himmel. "Die Adler... die Adler. Die Adler sind da."
Doch Thorin hörte nichts mehr.
Sah nichts mehr.
Spürte nichts mehr.
Bilbo wollte das nicht. Er wollte das nicht wahrhaben. "Die Adler..." sagt er ein letztes Mal mit hoher, schluchzender Stimme, bevor er sich abwandte und die traurige Wahrheit Realität werden ließ.
Ein paar Meter entfernt fiel er auf die Knie und weinte. Weinte, bis seine Augen gerötet waren. Weinte, bis er nichts mehr spürte. Weder die Kälte des Eises noch das Kreischen der Adler, weder den pochenden Schmerz seiner Kopfwunde noch die langsam verklingenden Kampfgeräusche, die aus dem Tal nach oben drangen.
~~~
Als die Zwerge ihn fanden, hielten sie ihn zunächst für tot. Zusammengekauert, mit geschlossenen Augen lag er am Boden, nicht fähig sich zu rühren, geschweige denn zu atmen. Die Tränen, die er vergossen hatte, waren inzwischen gefroren und leichte, kleine Schneeflocken setzten sich auf seinem Gesicht ab, welches starr nach oben gerichtet war.
"Bilbo? Bilbo!"
Was war das für eine Stimme? Langsam öffnete er die Augen und starrte in ein ihm wohlbekanntes Gesicht. "Ba-balin?" krächzte er und versuchte, sich aufzusetzen.
"Mein Gott, Bilbo, du lebst!" sagte dieser erleichtert und half dem Hobbit auf die Füße. "Hier ist er, ich hab ihn gefunden!" rief er und winkte drei andere Zwerge herbei.
"Dwalin! Fili! Kili! Ihr lebt?" fragte Bilbo benommen, aber überglücklich, sie zu sehen.
"So schnell wirst du uns nicht los!" antwortete Fili lachend und klopfte dem Hobbit freundschaftlich auf die Schulter. Bilbo lächelte matt. So sehr er sich auch freute, sie alle zu sehen, das bedrückende, schmerzende Gefühl der Trauer um seinen Freund war stärker. Und er war derjenige, der es ihnen sagen musste. Ihnen die schreckliche Nachricht vom Tod ihres Königs mitteilen musste, dem sie aus Überzeugung bis zum Ende der Welt gefolgt wären. Und deren Treue auch über seinen Tod hinaus bestehen würde.
"Wo sind die anderen?" fragte er schließlich.
"Unten, im Tal - auf der Suche nach dir." antwortete Kili. "Und nach Thorin..."
Die Blicke der Zwerge wurden wieder ernst. "Thorin... hast du ihn irgendwo gesehen?" fragte Dwalin mit besorgter Miene. Bilbo nickte stumm und sah auf seine Füße. Für die Zwerge war das Antwort genug. Betreten ließen sie den Kopf hängen. Dwalin sank mit leerem Blick auf einem Stein nieder, Fili und Kili taten es ihm gleich.
Bilbo vermochte nicht, sich vorzustellen, was in ihnen vorgehen musste. Zwei von ihnen hatten ihren Onkel verloren. Den Onkel, den sie über alles liebten und mit dem sie aufgewachsen waren. Der Rest der Gemeinschaft ihren Anführer. Den Anführer, dem sie in den Tod gefolgt wären und für den sie ohne zu Überlegen ihr eigenes Leben gegeben hätten.
Die Stille war schrecklicher als die angsterfüllten Schreie, die während der Schlacht noch erklungen waren und nun wie ausgestorben schienen. Bilbo atmete zitternd durch und vernahm gedämpft das verzweifelte Schluchzen Filis. Ein leichter Windzug kam auf und wehte schwadenhaft leichte Schneeflocken über das grausame Schlachtfeld, welches sich nun stumm wie ein Grab vor ihnen im Tal erstreckte. Die Schlacht war vorbei. Ebenso wie das Leben seines Freundes.
Letztendlich war es Balin, der die Stille brach. "Wo... liegt er?"
Bilbo wies in die Richtung, in der sein toter Freund lag. Er schluckte und eine Träne rann seine Wange hinab. Balin legte ihm eine Hand auf die Schulter. "Ist schon in Ordnung, mein Junge. Ist schon in Ordnung..." Dann nickte er den anderen Zwergen zu, welche langsam in die von Bilbo gezeigte Richtung trotteten. Balin folgte ihnen, drehte sich jedoch noch einmal kurz zu dem Hobbit um. "Willst du nicht mitkommen?" Bilbo schüttelte schnell den Kopf, woraufhin der Zwerg sanft lächelnd nickte und weiterging.
Bilbo konnte sich das nicht noch einmal antun. Ihm lief ein Schauer über den Rücken, als er an die eiskalten, verblassenden Augen Thorins dachte, an die schlaffe, kalte Hand in seinen Armen, an den letzten, rasselnden Atemzug...
Er ließ sich auf einem der Steine nieder und sann nach. Hätte er ihn retten können? Wie sollte er jetzt weitermachen - ohne ihn? Um ehrlich zu sein, hatte er noch nie darüber nachgedacht, wie seine Pläne für sein Leben nach der Rückeroberung Erebors und dem Tod des Drachen aussahen. Der Arkenstein war gefunden. Und seine Aufgabe, der Grund, aus dem er in dieses Abenteuer gestürzt war, somit erfüllt.
Was war das, was Thorin ihm wichtiges sagen wollte? Bei der letzten Frage schluckte er. Er würde nie erfahren, was sein Freund in den letzten Augenblicken seines Lebens dachte, er würde nie erfahren, was Thorin als so wichtig befand, dass er es ihm noch vor seinem letzten Atemzug hatte mitteilen wollen. Bilbo fasste sich ans Herz. Es pochte so schnell, so energisch, als ob es jeden Moment aus ihm herausspringen wollte. Plötzlich wurde er durch einen lauten Schrei aus seinen Gedanken gerissen.
"Schnell! Einen Heiler! Wir brauchen einen Heiler!" - das war Filis Stimme. Was war da los?
Schnell sprang Bilbo von seinem Stein auf und lief in die Richtung, in der die Zwerge vor einigen Minuten verschwunden waren. Plötzlich kam ihm jemand entgegengerannt, in einer derartigen Geschwindigkeit, dass der kleine Hobbit fast in ihn hineingelaufen wäre. "Kili!" rief er, als er den Zwerg erkannte. "Was ist da los?"
Kili hielt kurz in der Bewegung inne, um ihm eine Antwort zu geben. "Ich-ich muss Hilfe holen!" Bilbo sah ihn begriffsstutzig an. "Es-es ist wegen Thorin" stammelte er. Bilbos Herz setzte für dem Bruchteil einer Sekunde aus, als der Zwerg die darauffolgenden Worte sagte.
"Er ist noch am Leben."
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Tjaaaa, wer hätte es gedacht? :D
Das ist das allererste Kapitel meiner allerersten Fanfiction, also seid bitte noch nicht so streng mit mir. Trotzdem würde ich mich natürlich sehr über ein kleines Feedback eurerseits freuen und bin immer offen für Kritik! Jetzt folgen so ein paar unwichtige Infos, überspringt die einfach, wenn Ihr wollt.
Ich weiß selbst nicht mehr so richtig, was mich dazu verleitet hat, diese Bagginshield-Story anzufangen, aber ich hatte zu diesem OTP schon so gut wie alle auf wattpad gelesen und dachte mir - Hey, why not? Um ehrlich zu sein, habe ich dieses Kapi nur veröffentlicht, weil ich von ner Freundin dazu gezwungen wurde. Sie wird zwar absolut nichts vom Inhalt verstehen, weil sie weder das Buch gelesen noch die Filme gesehen hat, aber egal. Fragt nicht.
Und jetzt noch diese Info, die unter jeder Hobbit-Fanfiction steht: Die Figuren und Orte in dieser Geschichte sind selbstverständlich nicht mein Eigentum sondern entspringen der Fantasie von John Ronald Reuel Tolkien und Peter Jackson. (War unnötig, das zu erwähnen, trotzdem scheint es manchen wichtig zu sein)
Voraussichtlich werd ich jetzt so alle zwei Wochen veröffentlichen, aber die Oberstufe ist stressiger als gedacht und daher kann es manchmal zu Unregelmäßigkeiten kommen - versuch ich aber zu vermeiden, indem ich ab und zu ein paar Kapitel vorschreibe.
Das wars auch erstmal für heute. Viel Spaß noch mit dem Rest des Buches ;D
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