Bald

Die schwere Tür fiel wie von selbst ins Schloss, als Thorins steif gefrorene Finger von ihr abließen. Kaum dass sie geschlossen war, verstummte das Grollen und Tosen des Gewitters, lediglich ein zartes, flüsterndes Rauschen erfüllte die von Fackeln gewärmte Luft und erinnerte an den Sturm, der jenseits der Mauern zugange war.

Er drehte den Kopf und betrachtete den Halbling, der sich nun mit dem Rücken gegen die Wand lehnte, als fehlte ihm die Kraft, sich ohne Stütze auf zwei Beinen zu halten. Sein Blick war starr geradeaus gerichtet, als wäre er in Trance oder im Bann eines Tagtraumes. Regenwasser troff von seinen schwer getränkten Kleidern, doch er schien nicht zu spüren, wie kalt es war.

Vorsichtig setzte Thorin einen Fuß vor den anderen und trat neben ihn, ohne ein Wort zu sagen. Für einen kurzen Moment lauschten sie dem leisen, stumpfen Geräusch des prasselnden Regens, dem blassen, hallenden Klang vereinzelter Donnerschläge, dem singenden Rauschen des eisigen Windes, in Gedanken versunken, ihrer Worte beraubt.
Es dauerte eine kleine Weile, ehe Bilbo den Kopf hob, tief ein- und wieder ausatmete, und schließlich begann zu flüstern.

"Unser... unser Kuss..." Er stockte und sah in Thorins blaue Augen. "Was bedeutet das jetzt? Für uns?"

Die Mundwinkel des Schwarzhaarigen zuckten. "Hast du Angst?"

"Ich weiß nicht, ob man es Angst nennen kann." Auf seinen blassen Lippen erschien der Anflug eines Lächelns, doch es blieb dabei. "Es fällt mir nur so schwer zu glauben, dass das gerade wirklich geschehen ist. Und daher... Ja, vielleicht ist es Angst. Die Angst, dass ich gleich aufwachen werde, nur um festzustellen, dass ich mir das alles bloß erträumt habe, dass es nicht echt war."

Thorin musste lächeln, als er das hörte, doch es war ein unsicheres Lächeln und wirkte anders als gewöhnlich. Nicht unehrlich, nur... anders. 

Kurzerhand überwand er die geringe Distanz zu ihm, strich behutsam über seine feuchte Wange und legte den Kopf schief, bevor er sich zu ihm hinunterbeugte und seine Lippen auf die des Halblings legte. Die Berührung war sachte, vielleicht ein wenig verlangender als zuvor, doch noch immer so zart und süß, dass Bilbo nicht anders konnte, als das Lächeln zu erwidern; und auch wenn Thorin es nicht sah, so konnte er es fühlen.

"Hat sich das für dich nach einem Traum angefühlt?" raunte er, als sich ihre Lippen schließlich voneinander getrennt hatten und sie erneut zu Atem gekommen waren. Im dämmrigen Licht der Fackeln konnte er sehen, wie Bilbo errötete, als er langsam den Kopf schüttelte.

"Ich habe so viele Fragen, Thorin", flüsterte er, und das Lächeln verblasste. "Was werden wir jetzt tun? Ich meine, wir... wir sind jetzt keine Freunde mehr, hab ich... hab ich recht?"

Der Schwarzhaarige hob eine Braue, denn diese Feststellung amüsierte ihn. "Du sagst es fast so, als würdest du es bedauern." Vorsichtig tastete er nach den zitternden Händen seines Meisterdiebes und schloss sie in die seinen ein. Sie waren eiskalt. "Wenn ich dir sage, dass ich dich liebe, beantwortet das deine Frage?"

Bilbo senkte den Blick auf ihre ineinander verschränkten Finger, schüttelte langsam den Kopf über sich selbst und seufzte tonlos. "Verzeih mir, ich... ich kann es nur noch nicht fassen, dass du dasselbe fühlst."

"Es gibt nichts zu verzeihen, ich verstehe, worauf du hinaus wolltest. Wir haben uns noch so viel zu sagen, doch es fehlt uns an Zeit." Er lächelte ein wenig breiter und senkte seine Stimme zu einem tiefen Raunen. "Oh, wenn du wüsstest, was ich jetzt am liebsten mit dir machen würde, wären die Zeiten nicht so finster."

Der Halbling spürte, wie er rot anlief und biss sich auf die Unterlippe. "Meinst du denn, sie werden finster bleiben? Die Gefahren sind gebannt, alles was sie uns ließen, sind Schatten. Und als ich vorhin in deine Augen sah, sah ich sie verblassen."

Thorin seufzte und senkte den Blick. "Es klingt so schön, wenn du das sagst, so schön, dass ich es fast glauben will. Nur sind die Schatten, von denen du sprichst, noch nicht ganz verschwunden, unser Konflikt mit Thal ist noch nicht aus dem Weg geräumt. Der Tag wird kommen, an dem ich mich ein letztes Mal vor Bard und Thranduil erklären muss, und wenn sie erfahren, dass in diesem Berg die Jungen Smaugs heranwachsen, meinst du, sie werden uns mit ihnen verfahren lassen wie es uns beliebt? Diese Drachen sind auch die Angelegenheit von Thal, und ich werde sie Bard nicht verschweigen, diesen Fehler werde ich kein zweites Mal begehen. Die nächsten Tage und Wochen und Monate werden nicht weniger dunkel als die bisherigen."

"Ich verstehe, was du mir sagen willst", erwiderte Bilbo mit einem mulmigen Gefühl im Bauch und mit einer Vorahnung von der er hoffte, dass sie nicht wahr würde. Er wusste nicht, was das zwischen Thorin und ihm war, und ob es eine Zukunft hatte; für derlei Fragen war für diesen Moment schlichtweg kein Platz in seinen benommenen Gedanken. Bevor er antwortete, schluckte er. "Ich glaube nicht, dass diese Herausforderungen ein Hindernis für uns darstellen. Sind sie nicht vielmehr ein Grund, noch enger zusammenzuhalten? Ich sehe ein, dass sie uns zwar der Möglichkeit berauben, uns in den kommenden Wochen auf... uns zu konzentrieren, aber ich kann warten, jetzt, da ich weiß, was du empfindest." Er meinte diese Worte ernst, doch wäre er ehrlich mit sich selbst gewesen, so hätte er erkennen müssen, dass er schon jetzt begann, zu zweifeln. 

Thorin betrachtete ihn, in seinen Augen glomm ein kleiner Rest seines Bedauerns. Als er die Lippen öffnete, erkannte Bilbo, dass sie bebten. "Womit habe ich dich nur verdient..." Ob seine Worte direkt an ihn gerichtet waren oder ob es nur ein laut ausgesprochener Gedanke war, blieb dem Halbling verborgen, doch es spielte keine Rolle.

Er konnte dem Drang nicht länger standhalten und musste lächeln. "Wie konnten wir nur so blind sein?" begann er. "Alles, was wir sagten, was wir taten, es... es ergibt alles einen perfekten Sinn. Fast so, als hätten wir es gar nicht sehen wollen. Warum waren wir nur solche Narren?"

"Vielleicht, weil wir dachten, wir sähen nur das, was wir sehen wollten. Macht Liebe nicht bekanntlich blind?"

"Ich habe dieses Sprichwort noch nie aus diesem Blickwinkel betrachtet." Mit einem Mal kam ihm ein Gedanke, der ihm aus irgendeinem Grund Unbehagen bereitete. "Thorin, wie... sagen wir es den anderen? Wir... wir sagen es doch den anderen?"

Der Schwarzhaarige antwortete mit so ruhiger und sicherer Stimme, als hätte er sich diese Frage schon eher gestellt. "Sobald wie möglich. Ich will, dass es alle erfahren, ich habe keine Angst. Doch vielleicht wäre es weise, wir würden sie nicht mit dieser Nachricht überrumpeln, sie kam doch recht überraschend, selbst für uns."

Bilbo nickte. "Meinst du, sie wussten es bereits?"

"Fili und Kili dürften es wissen, da bin ich mir ziemlich sicher - spätestens seitdem das Wort Amrâlimê in ihrem Beisein gefallen ist. Was die anderen betrifft, so weiß ich es nicht, aber..." Er stockte.

"Aber?"

"Gandalf weiß es", murmelte Thorin und blickte nach unten.

"Gandalf?" Bilbo lachte, und sprach mit gedämpfter Stimme weiter, als befürchtete er, gehört zu werden. "Wie hat er davon erfahren?"

Als wäre es ihm unangenehm oder aber als hätte ihn eine unangenehme Erinnerung dazu getrieben, sah Thorin erst betreten zur Seite, ehe er eine Antwort gab. "Eines Tages stellte er mir diesbezüglich eine Frage, und als ich die Antwort verweigerte, zog er seine Schlüsse daraus. Ein paar Monate danach, am Tag vor deiner Abreise, sprach er mich ein letztes Mal darauf an."

Dass Bilbo sich an dieses Gespräch erinnerte, löste etwas bei ihm aus, und sein Lächeln verblasste allmählich. "Du weißt schon so lange, was du fühlst?" flüsterte er in brüchig klingenden, wispernden Worten.

Auf Thorins Lippen zeichnete sich der Anschein eines Lächelns ab, doch es war einer Natur, die Bilbo weder deuten noch verstehen konnte. "Bitte, lass uns ein andermal darüber sprechen, ich habe genug von der Vergangenheit."

Kaum dass dieser Satz seine Lippen verlassen hatte, biss er die Zähne aufeinander, schloss die Augen und hielt den Atem an, seine rechte Hand wanderte langsam und vorsichtig an die Stelle, an der unter dem Mantel und einem dünnen Hemd die verheilende Naht lag. Bilbo kam nicht umhin zu bemerken, dass seine Finger zitterten, als sie sich in den von Regen durchtränkten Stoff seiner Kleider krallten, und als der Schwarzhaarige in einem schmerzvoll langen, tonlosen Stöhnen den Atem ausstieß, strich er ihm behutsam über die Schulter.

"Wir sollten dafür sorgen, dass du ins Bett kommst", flüsterte er und setzte ein Lächeln auf.  "Komm schon, ich bring dich dorthin."

Thorin öffnete die Augen wieder, die er im Delirium des Schmerzes geschlossen hatte, und sah ihm ins Gesicht, mit einem Ausdruck, der sich dem Halbling nicht erschließen wollte. "Oh, ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist."

Bilbo zog eine Braue hoch, sprach jedoch nicht.

Auf den blassen Lippen des Zwergenkönigs zeichnete sich ein schiefes Grinsen ab. "Nun ja," fuhr er fort, "ich bin mir nicht sicher, ob ich mich noch beherrschen kann, wenn wir dasselbe Zimmer teilen."

"Spinner." Der Meisterdieb verdrehte die Augen und konnte eine Grinsen nicht länger verhindern. Sachte trat er einen Schritt näher, ließ beide Hände vorsichtig hinter Thorins Nacken wandern und legte den Kopf schief. "Ich liebe dich", flüsterte er in einem monotonen, verträumten Seufzen, und als er es sagte, konnte er fühlen, wie süß diese Worte auf seiner Zunge schmeckten. 

"Und ich dich", erwiderte der Schwarzhaarige in einem milden Raunen, und Bilbo spürte, wie seine Hände langsam über seine Seiten und seinen Rücken fuhren. Er fühlte die Röte in seinen Wangen, das kalt-warme Kribbeln auf seiner Haut, die Hitze der Fackeln und seines Gegenübers. Ihre Berührungen wirkten verunsichert, noch immer im Schatten der Furcht, dass dieser Abend nur ein Traum und ihr Kuss nur eine Fantasie gewesen war. 

Sie küssten sich ein weiteres Mal, als wollten sie sich dessen gewiss werden, und auch wenn sie spürten, wie unerfahren und ungewiss es sich anfühlte, so spielte es keine Rolle. Im Moment zählten nicht die Ängste, die sie in vergangenen Nächten um den Schlaf gebracht hatten, es zählten nicht die Sorgen, denen sie sich in nicht allzu ferner Zukunft würden stellen müssen. Es zählte nur dieser Moment, nur das Hier, nur das Jetzt.

Sie sahen sich gezwungen, ihre Lippen voneinander zu trennen, als sie hörten, wie sich Schritte näherten. 

Sie taten es, ohne sich abzusprechen, in diesem Augenblick fühlte es sich an wie eine reine Selbstverständlichkeit - sie hatten nicht das Bedürfnis, dem Kommenden erklären zu müssen, weshalb sie sich küssend in den Armen lagen, wenn sie es selbst noch nicht recht begreifen konnten, doch Bilbo kam nicht umhin, einen leichten Anflug von Bedauern zu verspüren, als sie die Hände voneinander ließen und einen Abstand zueinander einnahmen, der für Außenstehende weniger fraglich erschien, und er konnte Thorin ansehen, dass er das gleiche dabei spürte.

Es waren die Schritte von Fili, wie sich wenige Augenblicke später herausstellte, als der Blonde mit leichtem Gang um die Ecke bog, und als er den Hobbit und seinen Onkel sah, erstarrte er kurz in seiner Bewegung, ehe er den Mund öffnete.

"Ich... ich wusste nicht, dass ihr hier seid", stammelte er zögernd, als wollte er sein Kommen rechtfertigen und entschuldigen, doch Bilbo ahnte, dass er es sehr wohl gewusst hatte, und vermutlich war genau das der Grund, aus dem er gekommen war. Um sich zu vergewissern, dass es zu keinem zweiten Schlag und vielleicht sogar zu etwas Schlimmerem würde kommen können. Der Blick, mit dem Fili seinen Onkel musterte, verschaffte ihm Gewissheit, dass diese Annahme berechtigt war, und als er es erkannte, kroch eine lähmende, schwere Traurigkeit in seine Glieder, die er sich nicht erklären konnte. 

Der Blonde ließ seinen Blick verwirrt von einem zum anderen gleiten, versuchte, einen Sinn hinter der offensichtlich gebesserten Laune Thorins zu erkennen, doch sein Mühen schien vergeblich, und er schüttelte den Kopf, als er es einsah.

"B-balin würde gerne mit dir sprechen, Bilbo", fuhr er fort, während er den Hobbit betrachtete. Schließlich drehte er den Kopf und sah Thorin in die Augen, senkte seine Stimme, sodass sie fast zornig klang.  "Ist das in Ordnung für dich, Onkel?" 

Es war offensichtlich, was er mit dieser Frage bezwecken wollte, doch der Schwarzhaarige hatte nicht die Nerven, sich über seinen Tonfall zu beschweren, nicht jetzt, nicht hier.

"Das kann mein Meisterdieb selbst entscheiden", entgegnete er mit fester, aber sanfter Stimme, wohl wissend, dass er Fili das Misstrauen schwer verübeln konnte. Er wandte den Blick von ihm ab und richtete ihn auf Bilbo. Seine Mundwinkel zuckten, und während er sprach, blieb ein leichtes Lächeln auf seinen Lippen. "Geh nur. Wir werden dieses Gespräch fortführen, und das so bald wie möglich."

"Aber schaffst du es denn allein auf dein Zimmer?" fragte der Halbling, noch immer in Sorge angesichts seiner Wunde, deren Nähte bereits mehr als einmal gerissen waren. Thorin nickte sachte, noch immer mit einem beseelten Lächeln auf diesen weichen, sanften Lippen, nach denen Bilbo sich jetzt schon sehnte.

Die Frage war Fili nicht entgangen, und als er der kränklichen Blässe im Gesicht des Schwarzhaarigen gewahr wurde, begann etwas tief in ihm sich zu sorgen. "Geht es dir nicht gut?" fragte er und trat einen halben Schritt näher.

Thorin lachte. "Nicht gut? Es geht mir blendend."

"Das freut mich zu hören", erwiderte Fili, offensichtlich überrascht. "Weshalb seid ihr so nass, wart ihr etwa draußen?" fragte er mit einem prüfenden Blick auf ihre vom Regen getränkten Kleider und ihre nassen Locken, als wären sie ihm erst in diesem Moment aufgefallen. 

Wieder war es Thorin, der sprach, und Bilbo war ihm ausgesprochen dankbar dafür, denn nach diesem Abend fühlte er sich nicht annähernd in der Lage, auch nur einen klaren Satz zu formulieren. 

"Wir waren nur kurz Luft schnappen, das war alles."

Der Blonde zog eine Braue hoch. "Bei dem Unwetter?"

"Wird das ein Verhör?"

Fili schüttelte den Kopf, langsam und noch immer mit dem Blick von jemandem, der sich sicher war, dass irgendetwas nicht stimmte, dass irgendetwas in der Luft lag. "Wir... wir haben uns nur Sorgen gemacht." Er legte den Kopf schief, fixierte die Augen seines Onkels und senkte seine Stimme. "Vielleicht weißt du ja, weshalb."

Thorin senkte den Blick, bevor er etwas erwiderte, denn er wusste in der Tat weshalb, und als er erkannte, dass Fili womöglich von den anderen geschickt wurde, um sicherzugehen, dass er Bilbo nicht noch mehr Schmerzen bereitete, musste er schlucken. Der Halbling an seiner Seite konnte spüren, dass er bei dem Gedanken daran traurig wurde, und als er sprach, klangen seine Worte gefasster, wehmütiger.
"Was das betrifft, so habe ich...", er sah zu Bilbo, "haben wir euch etwas zu erklären."

Der kleine Hobbit sah zurück, nickte und blickte dann wieder zu Fili. "Aber das wird nicht mehr in dieser Nacht geschehen."

"Nein, nicht mehr heute", wiederholte Thorin und sah wieder zu seinem Neffen, "und doch so bald wie möglich. Bis dahin wünsche ich eine angenehme Nacht. Fili," raunte er, nickte dem Blonden zu und tat schließlich dasselbe bei Bilbo. "Mein... Meisterdieb."

Der Halbling nickte zum Abschied zurück, und konnte ein schiefes Lächeln nicht länger verhindern. "Mein König."

Ein letzter Blick, ein letztes Lächeln, dann wandten sie sich voneinander ab und gingen in entgegengesetzte Richtungen. 

~~~

Als Bilbo das spärlich beleuchtete Zimmer betrat, konnte er nicht anders, als sich erschlagen zu fühlen, denn kaum dass er einen Fuß über die Schwelle gesetzt hatte, verstummten die Gespräche, die er zuvor nur murmelnd vernommen hatte und jeder der elf Zwerge, die bei Kerzenlicht an einem länglichen Tisch saßen, richtete seinen Blick auf den kleinen Hobbit, als erwarteten sie eine Antwort auf eine Frage, die sie nicht gestellt hatten.

Verwirrt sah er zu Balin. Auf seiner rechten Seite war ein einzelner Stuhl, der noch unbesetzt war, und als er sah, wie Fili zu den anderen trat und sich nicht setzte, sondern sich mit verschränkten Armen gegen die Wand lehnte, musste er annehmen, dass dieser Platz für ihn bestimmt war. 
Vorsichtig trat er einen Schritt näher, blieb jedoch stehen und wartete darauf, dass jemand sprechen würde, denn er selbst fühlte sich noch nicht in der Lage, es zu tun. 

"Wie hat er es aufgenommen?" fragte Balin nach einer Zeitspanne von gefühlten Dekaden. Der Ton in seiner Stimme gefiel Bilbo nicht, doch der Grund dafür blieb ihm verborgen.

"Wie hat er... was aufgenommen?" Er wusste, dass er einen merkwürdigen Anblick abgeben musste, so durchnässt wie er war und wie er zwischen Tisch und Tür von einem Fuß auf den anderen wippte. Er spürte, wie ein einzelner Tropfen eiskalten Regenwassers sein rechtes Bein hinabglitt und erschauderte.

"Deinen Entschluss", erklärte der Weißbärtige. "Kili meinte, du würdest demnächst wieder den Heimweg antreten."

Der Halbling ließ seinen Blick zu dem braunhaarigen Neffen Thorins gleiten und sah, wie dieser nachdenklich die Brauen wölbte. Er musste etwas entgegnen, das wusste er, doch ihm kam nicht in den Sinn, welche Antwort angebracht gewesen wäre, denn er hatte mit Thorin nicht über seinen Heimweg gesprochen, er hatte genau genommen seit ihrem Kuss nicht mehr daran gedacht. Mit langsamen, erzwungenen Worten begann er zu sprechen, während er einen halben Schritt näher trat, ohne es zu wollen. 

"Wir haben lange miteinander gesprochen. Es war das seltsamste Gespräch, das ich jemals geführt habe, und es ist anders ausgegangen, als ich ursprünglich dachte."

Balin nickte, nicht weil er wirklich verstand, was Bilbo da faselte, sondern weil er ihm das Gefühl geben wollte, verstanden zu werden. Es bewirkte nichts. "Zu welchem Schluss seid ihr gekommen?" fragte er schließlich, zog dann jedoch eine Braue hoch und ergänzte seine Frage. "Ihr seid doch zu einem Schluss gekommen?"

Bilbo sah auf seine Zehen. "Wir haben uns versöhnt", flüsterte er, als könnte er es selbst nicht glauben. Durch die Menge ging ein verblüfftes Raunen, ein Murmeln, doch es ging unter, als von jenseits der Mauern der dumpfe Klang eines Donnerschlags ertönte.

Der Halbling hob den Kopf und sprach weiter, dieses Mal mit festerer Stimme. "Ich kann noch nicht gehen. Ich dachte, es würde ihn zur Einsicht zwingen, es nicht nur bei leeren Worten zu belassen und diesem Berg den Rücken zuzukehren, aber nach dem, was er gesagt hat-"

"Was genau hat er dir gesagt?" fragte Balin, der sein Zögern bemerkt hatte.

Die Frage war Bilbo unangenehm, und das zeigte sich. "Ich... ich finde nicht, dass ich das sagen muss."

"Bitte verstehe meine Frage nicht falsch", fuhr der Zwerg fort, denn er sah ihm an, dass genau das der Fall war. "Dass du gewillt bist, trotz allem an diesem Ort zu bleiben, erfüllt uns mit Freude, doch wir können uns in Zeiten wie diesen nicht auf bloße Worte stützen, es steht zu viel auf dem Spiel. Vor wenigen Stunden noch hat er dir ins Gesicht geschlagen, und jetzt, am Abend desselben Tages hat sich seine Meinung von dir ins Gegenteil verwandelt? Dass du mit dem Gedanken spieltest, zu gehen, und nun plötzlich wieder bleiben willst, erfüllt uns mit Hoffnung, aber auch mit der Sorge, dass diese vielleicht falsch ist, so wie die anderen Male. Selbst du hast dich in ihm geirrt, mehr als ein Mal, daher verzeih uns, wenn wir eure Versöhnung hinterfragen - sie kam ja regelrecht aus dem Nichts."

Bilbo starrte auf den Stuhl, der noch immer unbesetzt vor ihm stand, doch er setzte sich noch immer nicht, sondern sann darüber nach, wie er sich herausreden könnte, ohne von ihrem Geständnis, von ihren Küssen und von ihrer beider Blindheit zu erzählen, die es ihnen unmöglich gemacht hatte, ihre Gefühle zu begreifen. Er spürte die wartenden Augenpaare auf sich ruhen und zu einer anderen Zeit hätte ihn das nervös gemacht, doch nicht dieses Mal, denn er konnte ihre Sorgen verstehen und war zu benommen, um es ihnen übel zu nehmen.

Nach einer kurzen Zeit öffnete er die Lippen. "Man könnte sagen, dass uns beiden während dieses Gesprächs etwas klar geworden ist. Und mit einem Mal war alles selbstverständlich, es kam nicht aus dem Nichts. Es hat sich so angefühlt, als hätte es geschehen müssen, und das schon seit einer langen, langen Zeit." Seine Mundwinkel zuckten, als er in ihre Gesichter sah. "Ich sehe, meine Worte verwirren euch. Vielleicht werdet ihr ihren Sinn erkennen, wenn  die Zeit reif ist."

"Reif?" fragte Nori. "Reif wofür?"

"Für die Erklärung?" fragte Fili, löste sich von der Wand und trat einen Schritt näher, was zur Folge hatte, dass nun er im Zentrum der Aufmerksamkeit stand und sich gezwungen sah, seine Frage zu erklären. "Onkel sprach vorhin davon."

Kili hob eine Braue. "Du hast ihn noch angetroffen?"

"Körperlich ja, doch mit dem Kopf schien er woanders."

"Ginge das vielleicht auch ein wenig genauer?" schaltete sich nun wieder Balin ein, ein wenig ungeduldig, doch noch immer ruhig und beherrscht.

Fili zuckte mit den Schultern. "Ich hab ihn kaum wiedererkannt, er war wie ausgewechselt. Unbeschwerter als gewöhnlich, geradezu beschwingt, und doch wich er meinen Fragen aus wie ein alter Geheimniskrämer."
Einen kurzen Moment lang sagte er nichts mehr, richtete den Blick starr geradeaus und sann über das Geschehene nach. Dann, ganz langsam, nahm er Blickkontakt zu Bilbo auf, legte den Kopf schief und musterte ihn, so direkt und so durchdringend, dass sich der Halbling zu fragen begann, ob der Blonde begann, seine Schlüsse zu ziehen, ob er begann, zu begreifen, doch er fand keine Antwort in seinen Augen.

"Ich frage mich, was du mit meinem Onkel angestellt hast, Bilbo", sagte er schließlich, und vielleicht war es nur das flackernde Licht der Kerzen, doch es schien so, als trüge er den Anflug eines schiefen Lächelns auf den Lippen. "Was ist los mit dir? Du bist so schweigsam."

Der Hobbit nickte. "Und das werde ich bleiben." 

Er brach den Blickkontakt abrupt ab, schloss die Augen und richtete sie nach einer kurzen Pause auf den Rest der Gemeinschaft, als er meinte, seine Gedanken gesammelt zu haben - so gut es in seinem Zustand nun eben ging. 

"Ihr könnt mich nicht dazu zwingen, euch eine Erklärung zu geben, zu deren Aussprache ich nicht das Recht besitze", begann er. "Mir ist gerade bei diesem Gespräch eine Menge klar geworden, und ich habe erkannt, dass Thorin kämpft, und das seit Tagen, seit Wochen, wahrscheinlich schon seit Monaten. Ihr wollt wissen, warum ich bleibe, warum ich ihm verzeihe? Ich tue es, weil ich nicht zulassen werde, dass er diesen Kampf alleine austrägt. Ich tue es, weil ich will, dass er diesen Kampf gewinnt."

Er spürte, wie sein Brustkorb brannte und atmete tief ein und wieder aus, ehe er fortfuhr. "Und ich denke, dass wir alle diesen Wunsch haben. Unser aller Ziel ist der Sieg, doch wenn wir uns jetzt von ihm abwenden, tragen wir nicht nur die Last seines Verlustes sondern auch die Mitschuld an seiner Niederlage."

Er lächelte, sachte und fast unmerklich, und senkte seine Stimme. "Nun, ich werde mich nicht von ihm abwenden und keiner von euch wird es tun, das weiß ich, denn ich kenne euch. Und das ist alles, worauf es im Moment ankommt."

Als er geendet hatte, erfüllte ein leeres Schweigen den Raum, es war nicht beklemmend, nicht schwer, nicht erdrückend. Vereinzelt senkten die Zwerge ihre Blicke oder nickten sich zu, und Bilbo beruhigte das, denn es bedeutete, dass sie sich vorerst mit seinen Worten zufrieden gaben. Vorerst. 

Er räusperte sich, als er meinte, die Stille hätte lange genug gedauert.

"Verzeiht mir nun, wenn ich euch verlasse - ich habe vorhin im Regen den ein oder anderen Tropfen abbekommen und..." Er musste nicht weitersprechen, damit sie den Wink mit dem Zaunpfahl verstanden. Seine Kleider hingen nass und schwer an ihm hinab, als hätte er ein Bad im Langen See hinter sich.

Balin nickte, und zum ersten Mal an diesem Abend sah er den Anflug eines blassen Lächelns auf seinem Gesicht. "Wir wollen dich nicht weiter aufhalten. Vielen Dank für deine Worte, wenngleich wir noch immer nicht wissen, was es mit Thorins Erklärung auf sich hat."

Bilbo nickte. "Ihr sollt es bald erfahren."

~~~

Die Tür fiel ins Schloss.

Er wusste nicht, ob er es ertragen würde, ihn heute noch einmal zu sehen. Bei dem Gedanken, wie viele Tage und Nächte sie in Fantasien versunken miteinander verbracht hatten, als Freunde, die zu blind, zu gebrochen, zu unsicher waren um zu erkennen, dass sie keine Freunde waren, wurde ihm unwohl und er entschied sich, nicht weiter darüber nachzudenken.

Sie hätten es leichter haben können als jetzt, doch was bringt es, das zu bedauern, was hätte sein können. Sie hatten ihre Chancen nicht genutzt, nicht gesehen oder ignoriert und nun, da es fast zu spät war, hatten sie das erste Mal gewagt den Mund aufzumachen. 

Sie konnten glücklich sein. Für den Moment.
Aber auch zuversichtlich?

Alles, was sie sich jemals erträumt hatten; alles, was sie jemals wirklich wollten hatten sie nun bekommen. Doch sie hatten einsehen müssen, dass sie Narren gewesen waren und dass sie vielleicht noch immer welche waren. Und so weh ihm der Gedanke auch tat, er wusste, dass es in der Natur von Narren liegt, leichtsinnig zu handeln.

Was war das zwischen Thorin und ihm? Eine verbotene Romanze? Eine bloße Laune? Eine Torheit? Als sie sich geküsst hatten, hatte es sich nach Liebe angefühlt, doch Bilbo war sich nicht sicher, was Liebe eigentlich war. Sie hatten sich von Leichtsinn treiben lassen, vom Leichtsinn frisch Verliebter. Es hatte sich gut angefühlt, und doch so verboten, so undurchdacht. Wie ein Fehler, in gewisser Weise, ein Fehler, den sie nur allzu gerne begangen hatten.

Ihm wurde schummrig, als ihm dämmerte, wie weh ihm der Gedanke tat, ihren Kuss einen Fehler zu nennen und entschied sich kurzerhand dafür, eine entscheidende Tatsache für diesen einen Abend zu ignorieren; die Tatsache, dass Thorin ein König war und sich an Pflichten halten musste; Pflichten, die sich im schlimmsten Fall nicht mit einer Liebesbeziehung zu einem Halbling in Einklang bringen lassen würden. Und es würde ihm gelingen, diesen Abend nicht mehr daran zu denken, oder zumindest so zu tun. Sie würden noch Zeit bekommen, sich darüber klar zu werden.

Mit matten Schritten ging er den Gang entlang, und als er sich wieder ins Gedächtnis rief, wie es sich angefühlt hatte, Thorins Lippen zu berühren, musste er sehr, sehr breit lächeln, und die dunklen Gedanken fielen von ihm ab, ließen ihn vorerst zufrieden.

Von draußen erklang ein Donnern, hohl und rauschend, und das wispernde Zischen der Fackeln auf dem Gang klang wie das Flüstern lauernder Geister. Er spürte, wie ihm ein Schauer über den Rücken lief, doch vielleicht war es auch nur ein Regentropfen. Bilbo seufzte. Er musste auf sein Zimmer und endlich aus diesen Kleidern raus, und das so schnell wie möglich. Nur vielleicht würde er einen kleinen Umweg nehmen und zuvor an eine Tür klopfen, die nicht die seine war.
Ganz vielleicht.

Er lächelte und setzte seinen Weg fort.

~~~

Die Ketten klirrten leise, als sie ihre Köpfe hoben, und mit ihren halbblinden Augen den schwachen silbernen Lichtschein fixierten, der sich aus der Dunkelheit schälte.
Der Boden war kalt und nass, und als sie ihre Glieder streckten, hörten sie ein Rascheln. Es kam von dem spärlichen Haufen Stroh, der sie warm halten sollte, doch das wussten sie nicht. 
Regen fiel in schweren, platschenden Tropfen auf den dunklen Stein, das fahle Mondlicht ließ sie glitzern.

Ein Blitz erhellte die kleine Kammer, sie erschraken und duckten sich, zitternd, hilflos, verängstigt. Als der Donner folgte, entfuhr ihnen ein gurgelnder, verschreckter Laut, und sie begannen zu fauchen wie zwei kleine, in die Ecke gedrängte Katzen.

Das Metall schnitt sich in ihr Fleisch, als sie versuchten, sich zu bewegen, die Ketten schleiften über den rauen Untergrund und zerrten sie zu Boden. Wimmernd verfolgten sie das Toben des Sturms, das Peitschen des Regens, das Stöhnen des Donners, und vergruben ihre schweren Köpfe unter ihren dünnen Flügeln, um ihre Augen vor dem Licht und ihre Ohren vor dem Widerhall zu bewahren.

Die Glieder ihrer Ketten waren derb und groß, und die Kraft ihrer dünnen, schwachen Arme war zu gering, um sich ihrem Gewicht zu widersetzen.

Bald.

Bald würden sie stark genug sein, sie zu zerreißen.





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Ich hätte niemals gedacht, wie unangenehm es sein kann, zwei gewisse Charaktere einen so simplen Satz wie "Ich liebe dich" sagen zu lassen.
Ich weiß nicht, woran das liegt, ich weiß es wirklich nicht.

Aus Zeitgründen hab ich diesen Teil hier mehr oder weniger erbrochen, weil meine Inspiration irgendwie das Handtuch geworfen hat.

Mein Vorrat an Kapiteln ist leider (mal wieder) aufgebraucht, und ich befürchte, der nächste Teil wird wieder außerhalb des normalen Rhythmus' erscheinen müssen, es tut mir leid. Ich kann nur schlecht all die Vorträge und Hausaufgaben ignorieren, die hier täglich online eintrudeln und es mir schwer machen, mit gutem Gewissen an dieser Fanfiction zu schreiben.

Wer immer ihr seid, danke für 12,9 K Reads, das ist... fdhjskfgjsg.
Ich bin sprachlos.
Danke.

*wischt sich gerührt eine Träne aus dem Augenwinkel und disappariert*

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