An der Schwelle der Vernunft

"Thorin?" 

Der Zwerg sah ihm in die Augen. "Was liegt dir auf dem Herzen, Meisterdieb?"

"Ich... ich weiß nicht so recht wie ich es sagen soll..." Der kleine Hobbit trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. 

"Nur heraus damit." Thorin lächelte ermutigend.

Bilbo schluckte. "Bei... bei unserem letzten Gespräch, am Vortag meiner Abreise..."

Der Zwergenkönig sah auf und das Lächeln wurde schwächer. "Ja?"

"Ich... hatte dir gesagt, dass es da jemanden gibt, der... mit dem ich mir ein gemeinsames Leben vorstellen könnte." Er machte eine kurze Atempause. Thorin schwieg und sah ihn noch immer begriffsstutzig an.

"Ich habe lange überlegt, wie ich es dir sagen soll. Und jetzt, wo die Zeit unseres Abschieds gekommen ist, ist - finde ich - ein guter Zeitpunkt, um dir zu sagen... äh... naja, um dir zu sagen..." Er errötete. Sein Gegenüber sah ihm tief in die Augen. 

Thorins Lächeln wurde wieder breiter und ließ das Herz des kleinen Hobbits höher schlagen. "Wir werden uns eine lange Zeit nicht sehen, Bilbo. Wenn du mir etwas Wichtiges mitzuteilen hast, solltest du es jetzt tun - so eine Gelegenheit wird so schnell nicht wiederkommen."

"Ich... ich wollte nur, dass du weißt..." er stockte. 

"...dass ich mich in dich verliebt habe." 

Thorins Lächeln verschwand augenblicklich. Ein unerträgliches Schweigen entstand. Bilbo biss sich auf die Unterlippe und schloss die Augen. 

Der Zwergenkönig schnaubte und erhob voller Verachtung seine Stimme. "Seit wann? Und wann hattest du vor, mir das zu sagen?!"

Bilbo stand nur da, wusste nicht, wie er reagieren sollte. Er hatte einen furchtbaren Fehler begangen, das war ihm nun klar. Er hatte die Freundschaft zwischen ihnen zerstört. Er hatte Thorin für immer verloren.

Dieser trat einen Schritt näher. 

"Antworte, Halbling!" Thorins Stimme war voller Zorn und purer Abneigung. Dem kleinen Hobbit lief eine Träne über die Wange.

"Weißt du nicht, wer ich bin?! Antworte! Du stehst vor einem König!" 

Der Zwerg ging mit schnellen Schritten um ihn herum, um ihm ins Gesicht zu sehen, doch Bilbo wandt sich von ihm ab, das Gesicht tränennass. Thorin schnaubte wutentbrannt.

"Was hast du dir dabei gedacht, Dieb?!" Er lachte verächtlich. 

"Du bist ein kleiner, wertloser und unbedeutender Halbling aus dem Auenland! Nicht wirklich meine Liga, denkst du nicht auch?"

Bilbo konnte sein Schluchzen nicht mehr zurückhalten. Thorin lachte erneut hasserfüllt auf und fuhr fort.

"Dachtest du wirklich, du wärst gut genug für mich? Schon, als ich dich das erste Mal in Beutelsend gesehen habe, konnte ich gleich erkennen, dass keinerlei Kampfgeist und Treue in dir steckt. Dass du uns nur aufhalten würdest. Dass du irgendwann verschwinden würdest, wenn es dir zu gefährlich wird!"

Jetzt erhob Bilbo seine vor Tränen zitternde Stimme. "Ich habe dir das Leben gerettet, so wie du mir! Ich habe euch nie im Stich gelassen und meine Treue zu dir währt bis heute - für immer!"

"Oh, wirklich?! Warst du mir immer treu, Halbling? Hat dich diese... Treue, wie du sie nennst, auch dazu verleitet, mir den Arkenstein zu stehlen und ihn unseren ärgsten Feinden auszuhändigen?!"

"Ich wollte einen Krieg verhindern... Du sagtest..." Bilbo schluchzte auf. Seine Stimme war nur noch ein Flüstern. "Du sagtest, du hättest mir verziehen..."

Thorin lachte wieder auf. "Oh, bist du dir sicher? Ich kann mich leider nicht daran erinnern!" 

Er wandte noch immer lachend dem nun ohne Hemmungen schluchzenden Bilbo den Rücken zu. "Wie konntest du es nur so weit kommen lassen! Als ob ich dir jemals irgendwelche Hoffnungen gemacht hätte! Als ob ich auf kleine, unwichtige Kerle wie dich stehen würde! Bei Mahal, schämst du dich nicht?!"

Bilbo konnte nichts mehr sagen. Seine Kehle schmerzte. Seine Augen brannten. Sein Herz war gebrochen. 

"Thorin..."

"Nenn mich nicht so! Du hast jedes Recht verwirkt, mich bei meinem Vornamen nennen zu dürfen! Du redest mit einem König!"

Er flüsterte, so leise, dass er schon glaubte, Thorin hätte ihn nicht gehört. "Ich sollte gehen..."

Der Zwergenkönig brach in ein schallendes, verächtliches Gelächter aus. "Ja, genau! Geh zurück! Geh zurück zu deinem Auenland, wo dich niemand vermisst hat! Verflucht sei's! Kehr um und komm nie wieder! Ich brauche dich nicht mehr! Niemand braucht einen kleinen, naiven Halbling wie dich!"

Bilbo ging immer weiter, hielt sich die Ohren zu und weinte, schluchzte und schniefte, doch er konnte noch immer das schallende Lachen von Thorin vernehmen. Das schallende Lachen der Person, die ihm auf dieser Welt am meisten bedeutete. Und die sich gerade lauthals über ihn lustig machte. 

Er ging weiter, Schritt für Schritt, bis ihn die unerträglichen Schmerzen auf die Knie zwangen, seine Beine nachgaben und er schließlich heulend auf dem Boden lag. 

Er weinte, bis er nicht mehr konnte, bis seine Augen gerötet waren und sein Brustkorb drohte, zu zerspringen. 

Bis seine Augenlider vor Erschöpfung schwer wurden... 

... und er von vollkommener Dunkelheit umgeben wurde.

~~~

"Nein!" 

Schweißüberströmt fuhr der kleine Hobbit hoch. Ein frischer Luftzug kam ihm entgegen. Es dauerte einen kurzen Moment, bis er realisierte, wo er war. Hektisch sah er sich um.

Das waren nicht die steinernen Mauern Erebors. Er sah Bäume. Ein Wald. Er lag auch nicht auf kaltem Stein, sondern unter einer warmen Decke. Sein Herz, das bis zu diesem Zeitpunkt rasend schnell geschlagen hatte, beruhigte sich und Bilbo atmete erleichtert aus. Er hatte geträumt. Nur ein Traum. Es war nur ein Traum, Bilbo.

Er fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht und traf auf etwas nasses. Hatte er wirklich geweint? 

Noch immer leicht benommen und verwirrt aufgrund des Geträumten blickte er nach oben. Langsam beruhigte er sich wieder und die Erinnerungen an die letzten Tage fanden ihren Weg zurück in sein Gedächtnis.

Er lag, sicher und warm in eine Decke eingerollt, unter einem schützenden Felsvorsprung am Rande des Düsterwaldes. Er hörte Regentropfen platschen und sah nach oben. Die Sonne war von einer dicken Wolkenschicht verdeckt, doch trotz des kühlen Regens war es erstaunlich warm, weshalb der kleine Hobbit die Decke abstreifte. 

Bilbo schniefte und rieb sich erneut über das Gesicht. Er hatte wirklich geweint. Mit einer Hand fasste er sich an sein Herz. Das, was Thorin gesagt hatte... wie er gehandelt hatte - all das fühlte sich noch immer so real und verletzend an, dass ihm war, als ob ein Dolch sein Herz durchbohrt hätte.

Er schüttelte traurig den Kopf und kam langsam wieder vollkommen zur Besinnung. Kein Grund zur Beunruhigung. Es war schließlich nur ein Traum, nicht wahr?

Ja, tatsächlich. 

Nur ein Traum. Ein böser, schlechter Traum. 

Und nicht der erste.

Neun Tage waren bisher verstrichen, seit er sich von Thorin und den anderen verabschiedet hatte. Neun Tage ohne die sanfte, raue Stimme und die Wärme seines besten Freundes hatten einen kleinen Stich in seinem Herzen hinterlassen, doch er war versucht, dies so gut es ging vor seinem Reisegefährten geheim zu halten - auch wenn er sich sicher war, dass Gandalf schon so eine Ahnung entwickelt hatte, was in den grauen Gedanken des kleinen Hobbits vorging.

Lange Nächte waren seit ihrer Abreise verstrichen. Lange Nächte voller Angst. 

Denn selbst wenn Bilbo versuchte, Thorin tagsüber aus seinen Gedanken zu verbannen, so kehrte der Zwergenkönig, der dem Meisterdieb das Herz gestohlen hatte, nachts immer wieder in dessen Kopf zurück und nahm die Gestalt von wirren Träumen an. 

Träume von Thorin, der der Drachenkrankheit verfiel und alles ins Verderben stürzte. Träume von Thorin, der einen grausamen Tod erlitt. Und Träume wie gerade eben.

Tatsächlich stellte er traurig fest, dass es ihn nicht einmal mehr überraschte, solche Träume zu haben. Er hatte sich inzwischen daran gewöhnt, jede Nacht aufs Neue in die enttäuschten, wütenden und verletzten blauen Augen Thorins zu blicken.

Und das war der Grund, warum er nachts nie wirklich schlief. Oft hatte er nur dagelegen, nachdenklich und meistens mit Tränen in den Augen in den Nachthimmel gestarrt, hinauf zu den Sternen. Nicht selten hatte er sich dabei ertappt, wie er darüber nachsann, ob Thorin vielleicht gerade dasselbe tat, dasselbe dachte oder fühlte. Denn dadurch fühlte er sich ihm nah. Er fühlte sich nicht allein unter all den Sternen. Da er sich einredete, dass es noch jemanden unter ihnen gab, der im gleichen Augenblick zu ihnen aufsah und an längst vergangene Tage und Abenteuer dachte, an Drachenfeuer, Kriege, Freundschaft. An ihn.

In der Dunkelheit ließ er diese Gedanken zu, ließ sie in seinem Kopf Fantasien spinnen. Fantasien, die sich nie erfüllen würden. Denn die Nacht gibt den Gedanken freies Spiel.

Es waren schlaflose Nächte vergangen, in denen der kleine Hobbit nur so getan hatte, als ob er schlief. In der Dämmerung, wenn sie sich nach einem langen Tagesritt einen Schlafplatz gesucht hatten und der Zauberer und der Hobbit mit ihren Mänteln bedeckt unter dem Sternenhimmel lagen, versuchte Bilbo, die Augen offen zu halten. Jedes Mal huschte ein Lächeln auf sein Gesicht, wenn er das leise Schnarchen des Zauberers vernahm und er wusste, dass er nun ungestört nachsinnen konnte. 

Fast jeden Abend hatte er sich, mit den Armen unter dem Kopf, auf den Rücken gelegt und zugesehen, wie das letzte rote Licht des Tages von der Dunkelheit verschlungen wurde und sich nach und nach die weit entfernten reinen Lichter der Sterne ausbreiteten, genau wie seine Gedanken.

Auf einen Stern freute er sich jedes Mal besonders. Der hellste unter ihnen, der jede Nacht aufs Neue als erster erschien und als letzter wieder verschwand. Wie ein Hüter über die Sterne, wie... ein König. Ein König unter den Sternen. Ein König... 

Jedes Mal, wenn er diesen Stern sah, musste er an Thorin denken. Jede Nacht sah er hoch zu ihm und jede Nacht, so schien es, blickte der Stern in seinem hellen Schein zu ihm zurück. Wie zwei Freunde, die einander behüteten.

Trotz des kalten Lichts der Sterne strahlte dieser eine gewisse Wärme aus. Von außen kalt und grau, doch von innen schien ein rötliches, heißes Feuer zu brennen, von dem ein warmes, sanftes Licht ausging. Und das machte ihn so besonders, so einzigartig. Wie Thorin.

Oft merkte Bilbo nicht, dass er die ganze Nacht da lag und den Stern nachdenkend betrachtete, sah, wie er erschien und wie er wieder verschwand. 

Und in den Nächten, in denen er schlief, plagten und verfolgten ihn furchtbare Träume. Mehr als einmal war er davon aufgewacht, dass er laut den Namen seines besten Freundes gerufen hatte und mehr als einmal hatte er sich daraufhin wieder in den nächsten Traum geweint.

Am Tage verdrängte er seine Gefühle erfolgreich, doch wenn es dunkelte, tobten sie wie ein Sturm in seinem Kopf und fielen wie hungrige Wölfe über ihn her.

Bilbo schüttelte den Kopf und streifte diese Gedanken ab. Es war mitten am Tag gewesen, als Gandalf und er nach Schutz vor dem Regen gesucht hatten und schließlich unter diesen Felsvorsprung gekrochen waren, um eine kurze Pause einzulegen. Er war groß genug, dass auch die Ponys darunterpassten, die sie vom Volk der Waldelben für den Rückweg erhalten hatten. 

Da Bilbo die vorige Nacht kein Auge zugemacht hatte, war er wahrscheinlich vor Erschöpfung hier niedergesunken und eingeschlafen - so erklärte es sich der Hobbit jedenfalls.

Wo war Gandalf eigentlich? 

Er drehte sich um. Dort saß er, mit einer Pfeife in der Hand und einem Lächeln auf dem Gesicht. "Ausgeschlafen?"

Bilbo streckte sich und gähnte. "Wie lange sind wir schon hier?"

"Noch keine Ewigkeit, mein Freund. Du hast nur zwei Stunden geschlafen." Er blies einen Rauchring in die Luft, der sich, kurz bevor er den Hobbit erreichte, in Luft auflöste.

"Du hättest mich ruhig wecken können." Dann wären mit Thorins Worte erspart geblieben...

Der Zauberer lächelte wieder. "Du brauchst deinen Schlaf, Bilbo. Vor wenigen Stunden wärst du fast vom Pony gefallen. Und, um ehrlich zu sein - diese kleine Rast kommt auch mir ganz gelegen." Er blies einen weiteren Ring in die Luft und sah ihm nachdenklich nach.

Bilbo stand auf und streckte sich. Sein Rücken schmerzte - er war einfach nicht dafür gemacht, Nacht für Nacht auf hartem Boden zu schlafen. Ein kleines Lächeln huschte über sein Gesicht, als er an sein weiches Bett im fernen Beutelsend dachte - ja, zugegeben, er hatte es wirklich vermisst, aber er ließ dennoch kein Wort der Beschwerde über seine Lippen kommen, denn was hätte das schon geändert?

"Sobald der Regen nachlässt, können wir unsere Reise fortsetzen." sagte er. Es war weniger eine Aussage, die an Gandalf gerichtet war, sondern mehr eine allgemeine Feststellung an sich selbst.

Der Zauberer nickte. "Es dauert keine drei Tage mehr, bis wir den Düsterwald umrundet haben. Von da an werden wir zu Fuß weitergehen müssen."

"Ist mir nur recht..." murmelte Bilbo. Er war nicht gerade der geborene Reiter, und auch, wenn er sich mittlerweile recht gut auf einem Pony halten konnte, so waren Hobbitfüße doch eher zum Laufen gemacht.

Eine Weile sagte niemand von ihnen etwas und sie saßen unter dem großen Felsen und lauschten dem Platschen und Prasseln des warmen Regens. 

"Gandalf..." 

"Ja?"

"Werde ich sie wiedersehen?"

Der Zauberer sah auf, so als hätte er mit allem gerechnet, nur nicht mit dieser Frage. Dann senkte er seinen Blick wieder, nahm einen kräftigen Zug aus seiner Pfeife und sah wieder hinaus in den Regen.

"Das wirst du, mein Freund, das wirst du. Die Zeit verstreicht schneller als man glaubt... und vermag es, die ein oder andere Wunde zu heilen - egal, von welcher Natur sie ist."

Jetzt war es Bilbo, der aufsah. "Von welchen Wunden sprichst du?"

Die Frage war unnötig, da er verstand, worauf sein Gegenüber hinauswollte - er stellte sie dennoch.

Der Zauberer ließ sich Zeit mit seiner Antwort.

"Abschied zu nehmen ist schwer. Besonders der Abschied von denjenigen, die uns am meisten bedeuten. Diese Erfahrung hast du schon vor nicht allzuvielen Tagen gemacht und ihre Folgen quälen dich." Der kleine Hobbit wollte etwas sagen, um dem zu widersprechen, doch Gandalf ließ ihm keine Zeit für eine Rechtfertigung, denn er fuhr schon fort.

"Ich mag ein alter Mann sein, Bilbo Beutlin, doch ich bin noch lange nicht blind." Er nahm wieder einen Zug aus seiner Pfeife. "Vertraue mir, wenn ich dir sage, dass du die richtige Entscheidung getroffen hast. Egal was Thorin gesagt hat, es war weise, zu gehen."

"Thorin... Wieso Thorin?" Es war seltsam für Bilbo, den Namen plötzlich wieder auszusprechen, nachdem er sich neun lange Tage geschworen hatte, es nicht zu tun. Er hatte es in dieser Zeit bisher erfolgreich gemeistert, diesen Namen zu vermeiden, doch jetzt, wo er wieder über seine Lippen gekommen war, fühlte er sich erstaunlich leichter.

"Er wird dich angefleht haben, zu bleiben."

"Nun... Nein, Gandalf. Nein, das hat er nicht. Er war sehr verständnisvoll, er hat mir sogar dabei geholfen, diese Entscheidung zu treffen." Bilbo war verwirrt.

Gandalf hingegen wirkte erstaunt und erfreut gleichzeitig. "Oh, tatsächlich? Das ist gut. Sehr gut sogar. Vielleicht hat er es dann endlich eingesehen..."  Der letzte Satz war nur ein Murmeln, kaum verständlich. Er setzte sich wieder die Pfeife an den Mund.

"Hat was eingesehen?" 

Der Zauberer, der gerade dabei gewesen war, einen Rauchring zu blasen, verschluckte sich plötzlich und hustete heftig, sodass ihm schließlich der Qualm zu den Nasenlöchern herauskam. Offenkundig hatte er nicht damit gerechnet, dass der Hobbit den letzten Satz mitgehört hatte, doch er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen - was natürlich gekonnt misslang.

"Oh... Tja..." Er räusperte sich. "Ach, sieh doch! Der Regen hat aufgehört."

Bilbo schüttelte den Kopf. "Du weichst mir aus. Was soll Thorin eingesehen haben?"

"Sei nicht so neugierig! Er... er hat mich in einer bestimmten Sache um Rat ersucht. Er hat mir damit sein Vertrauen in mich bewiesen und ich wäre ein Narr, den Zorn eines Königs wie Thorin auf mich zu ziehen, indem ich seine privaten Angelegenheiten ausplaudere. Das würdest auch du nicht wollen."

Private Angelegenheiten. Meine Güte...

"Und trotzdem geht es bei diesen... privaten Angelegenheiten, wie du sie nennst, um meine Abreise. Also auch um mich, denke ich."

"Du solltest das lassen."

"Was?"

"Denken. Das tust du ohnehin zu viel. Manche Dinge sollten lieber ungesagt bleiben und in Vergessenheit geraten."

Bilbo seufzte. Aus dem Zauberer würde er wohl nichts mehr herausbekommen. Still saß er da und sah wieder zum Waldrand. Der Regen hatte tatsächlich aufgehört. Eines der Ponys schnaubte. Gandalf richtete sich auf und sah den Hobbit fragend an.

"Weiter?"

"Weiter..."

~~~

Der Tag neigte sich dem Ende zu und Bilbo konnte sich kaum noch im Sattel halten. Der Himmel hatte bereits am Horizont eine rötliche Färbung angenommen und tauchte die Landschaft in ein mystisches Licht, welches nur ab und zu von den Schatten der gewaltigen Bäume unterbrochen wurde. Gandalf summte (nun ja - brummte traf es wohl eher) eine kleine Melodie. Ein schöner Abend.

Bilbo schloss die Augen und atmete tief durch. Plötzlich stahl sich ein Lächeln auf seine Lippen. Er wusste selbst nicht so recht, warum. Doch er stellte fest, dass es ihm ausgesprochen gut tat.

Eine unerwartete innere Feststellung ließ seine Gesichtszüge jedoch wieder ernst werden. Er hatte jetzt schon einen halben Tag nicht mehr an Thorin gedacht. So gar nicht an ihn gedacht. Das... war doch etwas Gutes, nicht wahr? Ein erster Schritt auf dem Weg, seine Gefühle für ihn zu begraben und vernünftig zu denken.

Ja, vernünftig, Bilbo. 

Willkommen an der Schwelle der Vernunft. 

Verlasse sie nicht gleich wieder!

Er musste wieder lächeln angesichts seiner plötzlichen Stimmungsschwankung.

Thorin war ein Freund. Nicht mehr und nicht weniger. Ein Freund. 

Perfekt. Du hast es kapiert, Bilbo. Sei stolz auf dich!

Ja, tatsächlich war er auch ein bisschen stolz auf sich. Es hatte nur neun Tage Abstand gebraucht, um zu akzeptieren, dass da nie mehr als Freundschaft zwischen ihm und Thorin sein würde.

Sein Lächeln wurde breiter. Es war eindeutig die richtige Entscheidung gewesen, zu gehen. Seine Sicht war nun klarer, sein Herz um einiges leichter. Er fühlte sich befreit und war sich sicher, in dieser Nacht ruhig schlafen zu können.

Gandalfs Summen endete plötzlich - so abrupt, dass Bilbo aus seinen Gedanken gerissen wurde und zu ihm aufsah. 

"Alles in Ordnung?"

Der Zauberer sah ihn an. Seine Mundwinkel zuckten. "Du lächelst wieder - das erste Mal seit neun Tagen."

"Ja..." Er seufzte, lächelnd natürlich. "Weißt du - ich freue mich einfach darauf, wieder nach Hause zu kommen."

Gandalf nickte verständnisvoll und setzte seine kleine Melodie fort, während sie weiter im Gegenlicht der roten Sonne ritten.

~~~

Sie schlugen ihr Nachtlager unter einer alten, knorrigen Eiche auf, die ihre Äste wie schützende Arme über sie streckte. Durch ihr dichtes, leuchtend grünes Blätterdach fielen nur einzelne Strahlen des letzten Sonnenlichts auf sie hinab. Eine dünne Wolkenschicht verbreitete sich und ließ sie verblassen.

In einigen Metern Entfernung konnte man den Rand des Düsterwaldes erkennen, der schon von Weitem das Gefühl in einem verbreitete, von gierigen Augen beobachtet zu werden. Verständlich, wenn man die Erfahrungen gemacht hatte, die Bilbo einst in seinen Träumen verfolgten. Doch er schüttelte die Gedanken an riesige, beharrte Spinnenbeine und triefende Giftstacheln ab. Es war ein zu schöner Abend, um solch finsteren Erinnerungen nachzugehen.

Der kleine Hobbit legte sich auf den Rücken und verschränkte die Hände unter dem Kopf. Er schloss die Augen und versuchte, sich auf die Geräusche seiner Umgebung zu konzentrieren - das hatte ihm schon als Kind beim Einschlafen geholfen. Er hörte das leise Zirpen der Grillen und das sanfte Rauschen des Windes, der leicht wie eine Feder über die wogenden Grashalme strich und mit den Blättern der alten Eiche spielte. 

Eines der Ponys schnaubte leise und der Wind trieb sein Spiel in den hohen Baumwipfeln fort.

Unter das Rascheln der Blätter mischte sich plötzlich etwas anderes.

Ein... Krächzen. Ein Krächzen?

Bilbo öffnete die Augen. Das Geräusch kam immer näher. Erst jetzt erkannte er, dass es zu einem Raben gehörte, der weit oben am Himmel flog.

Der kleine schwarze Punkt war vor dem mittlerweile dunkelblauen Himmel kaum auszumachen, doch jetzt, wo Bilbo ihn entdeckt hatte, folgten seine Augen ihm misstrauisch, sahen, wie der Punkt größer wurde und schließlich in erkennbarer Rabengestalt über ihren Köpfen entlangflog.

Irgendetwas behagte Bilbo nicht bei der Sache. Von jetzt auf gleich war er wieder hellwach. Mit seinem linken Ellbogen stieß er Gandalf an, der dadurch murrend aus seinem Halbschlaf erwachte.

"Wa-was ist denn?" Der Zauberer gähnte und setzte sich auf.

"Sieh nur, dort!" Der kleine Hobbit wies in Richtung des Raben.

Gandalf kniff die Augen zusammen, bemüht, etwas in dieser Dunkelheit zu erkennen.

"Ein Vogel, na und?" 

"Ein Rabe, ja. Irgendetwas gefällt mir daran nicht..."

"Bilbo, mein Freund, ich bin müde und geschafft von unserer Reise... Wenn du mich jetzt jedes Mal weckst, wenn du einen Vogel siehst, dann..." Der Hobbit unterbrach ihn. 

"Nein, nein, sieh doch mal genauer hin! Er... er sieht so aus, als ob... Mein Gott, ich könnte schwören, er sucht etwas... oder jemanden."

Der Zauberer hatte für Bilbos Theorie nur ein weiteres müdes Gähnen übrig. 

"Gandalf! Ich meine es ernst! Dieser Vogel dort beunruhigt mich..."

"Du solltest schlafen, Bilbo. Morgen haben wir ein gutes Stück Weg vor uns..."

Der kleine Hobbit ignorierte ihn und senkte seine Stimme zu einem nachdenklichen Murmeln. "Tagelang keine Vögel... Das liegt an der Finsternis, die in diesem Wald herrscht... Und jetzt, mitten in der Nacht fliegt ein Rabe über unseren Köpfen?"

"Ich sagte es schon, du denkst zu viel..."

"Sieh nur! Er... mein Gott, er hat uns entdeckt!"

"Ach, das bildest du dir nur ein, er..." Gandalf stockte, als er genauer hinsah. "Tatsächlich..."

Bilbo kaute auf seiner Unterlippe, während der Vogel näher kam. Der Zauberer sah ihm sein Unbehagen an.

"Raben sind keine bösartigen Geschöpfe, mein Freund."

"Der Rabe ist nicht der Grund, es..." er flüsterte. "... es ist vielmehr die Frage, warum er uns sucht."

Still saßen sie da und sahen zu, wie der krächzende Rabe näher kam. Es dauerte nur wenige Sekunden, dann hatte er sie erreicht.

Als er vor ihnen auf dem Boden aufkam, krächzte er erneut, diesmal jedoch lauter und kräftiger, so als wäre es als Begrüßung gemeint. Bilbo erinnerte sich, dass Balin einmal davon gesprochen hatte, dass die Raben einst eng mit dem Volk Thrors befreundet waren, sich mit ihnen unterhalten konnten und gegen Bezahlung mit kleineren Kostbarkeiten geheime Botschaften überbracht hatten. War das auch die Absicht dieses Vogels?

Bilbo sah ihn erstaunt an. Er hatte etwas in seiner rechten Klaue, weswegen er auf einem Bein humpelnd näher kam und sich schließlich direkt vor ihnen unter dem Baum niederließ, offenbar erschöpft von einem langen Flug.

Weder der Hobbit noch Gandalf sagten etwas, sie betrachteten nur neugierig das kleine Geschöpf vor ihnen. Vorsichtig zog der Vogel mit seinem Schnabel eine kleine Papierrolle aus seiner Klaue und legte sie langsam vor Bilbo ab.

"D-danke..." stammelte dieser.

Der Rabe sah ihn aus großen Augen an, bevor er sich wieder aufrichtete, laut krächzte und sich schließlich wieder in die Lüfte schwang. 

Verdattert sah Bilbo ihm nach, wie er in dieselbe Richtung verschwand, aus der er gekommen war. Und aus der sie gekommen waren. Die Richtung des Einsamen Berges.

Eine Weile verstrich, in der der Hobbit und der Zauberer nichts taten, sondern nur dem Raben nachblickten, dessen schwarze Gefiederfarbe bald nicht mehr von dem tiefen Blau des Nachthimmels zu unterscheiden war, auf dem nun nach und nach die ersten Sterne erschienen. Ein Stern schien besonders hell, wie in jeder Nacht - und ließ den Hobbit wie jedes Mal in eine ferne Gedankenwelt abdriften.

Als der Rabe vollkommen aus ihrem Sichtfeld verschwunden war, räusperte sich der Zauberer. "Nun... willst du ihn nicht öffnen?"

Bilbo nickte und griff mit zitternden Fingern nach dem zusammengerollten Stück Papier. Vorsichtig rollte er es auf. Es war ein schmutziger, zerknitterter Briefumschlag, ohne Siegel oder Schriftzug. Der kleine Hobbit wand ihn in seinen nervösen Händen.

"Oh!" Auf der Rückseite des Umschlags waren in feinen, dünnen Linien geschriebene Buchstaben zu erkennen. Das Papier des Briefumschlags war so verdreckt und die Tinte so verwischt, dass er sie beinahe übersehen hätte. Wahrscheinlich war der Brief dem Raben mehrmals aus den Klauen gefallen oder hatte zu viel Kontakt mit dem Regen gehabt.

Bilbo kniff seine Augen zusammen, um die Schrift entziffern zu können. Laut las er vor.

"Adressiert an: Herrn Bilbo Beutlin, Meisterdieb des Königs unter dem Berge, irgendwo auf dem Weg nach Beutelsend"

Kein Absender. Bilbo kam die Schrift seltsam vertraut vor, sie wirkte trotz sicher geführter Feder recht ungleichmäßig und kindlich.

"Wer mag mir so etwas schicken?" fragte er, eher eine Frage an sich selbst als an Gandalf.

"Etwas in deiner Stimme sagt mir, dass du es bereits erahnst. Und ich glaube, wir haben denselben Gedanken." antwortete der Zauberer. Er wirkte angespannt und Bilbo meinte, eine tiefe Sorgenfalte auf seiner Stirn zu erkennen, doch das konnte auch an den Schatten seiner buschigen Augenbrauen liegen.

Vorsichtig öffnete er den Umschlag und zog ein dünnes, zusammengefaltetes Pergament hervor, dessen bräunliche Färbung trotz der Dunkelheit erkennbar war. 

Langsam und mit klopfendem Herzen entfaltete er es. Dieselbe Handschrift, diesmal jedoch nicht so verschmiert. Der Umschlag war Gott sei Dank dick genug gewesen, sodass der Regen dessen Inhalt nicht zugesetzt hatte. Die Schrift war noch krakeliger als auf dem Umschlag, ohne große Mühe war zu erkennen, dass der Text in großer Hast und Eile verfasst worden war.

Dann las er vor, mit vor Nervosität zitternder Stimme. Und während er las, verfinsterte sich sein Blick von Zeile zu Zeile mehr.

"Bilbo, mein Freund,

Ich bin mir nicht sicher, ob Dich der Brief rechtzeitig erreicht - und ob er Dich überhaupt erreicht, mag noch in den Sternen stehen. Dennoch dürfen wir nichts unversucht lassen.

Bitte verzeih mir, denn ich würde Dich nicht um Folgendes bitten, wenn es nicht von größter Priorität wäre und es gut möglich ist, dass unser aller Schicksal von Deiner Entscheidung abhängt.

Ich dürfte Dich eigentlich gar nicht fragen - Du hast natürlich das Recht, abzulehnen, doch ich ersuche Dich hiermit dringlichst, Deine Rückreise abzubrechen, um auf schnellstem Wege zurück zum Einsamen Berg zu gelangen.

Gewiss fragst Du Dich, weshalb. Nun - ich will nicht lange Reden schwingen, sondern gleich auf den Punkt kommen.

Mit dem Tag Deiner Abreise ist ein Tag voller Dunkelheit über Erebor eingebrochen.

In den Hallen unseres Königreiches ist ebendie Finsternis eingekehrt, die unserem König einst den Verstand raubte - und es nun wieder versucht.

Ja, es geht um Thorin.

Wenn Du das hier liest und wenn Dir etwas an ihm liegt, dann bitte ich Dich aus ganzem Herzen: Kehr um! 

Ich schreibe diesen Brief im Geheimen, nur wenige sind eingeweiht, denn ich kann nicht riskieren, dass Thorin von diesem Unterfangen Kenntnis erhält. Nach langen Gesprächen mit Balin und meinem Bruder haben wir den Entschluss gefasst, Dir diese Nachricht zukommen zu lassen. 

Thorin hat in Dir einen Freund gefunden, dem er vertraute und der ihm vertraute, wenn es kein anderer tat. Wir sind uns sicher, dass Deine Anwesenheit eine große Hilfe dabei sein würde, unseren König aus den Schatten und dem Feuer der Krankheit zurückzuholen, von der sein Herz so gnadenlos zerfressen wird.

Wir werden auf Deine Ankunft warten. Solltest Du entscheiden, Deine Reise fortzuführen, so werden wir Dich nicht aufhalten. Doch solltest Du umkehren, so sei Dir unser Dank gewiss! Doch sei gewarnt: Thorin ist nur noch ein Schatten seiner selbst - er wird nicht der sein, den Du verlassen hast.

Mögest Du die richtige Entscheidung treffen!

Hochachtungsvoll,

Fili"



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Tjaaa, wie wird er sich entscheiden? Wird er umkehren? Das und vieles mehr erfahrt Ihr in dem nächsten Kapitel! Okay, Spaß beiseite, es ist natürlich offensichtlich, wie er sich entscheiden wird XD.

Ich hab gerade eine Bio-Klausur geschrieben und definitiv wird nichts gutes dabei rauskommen... Eine Tüte Mitleid, bitte. 

:D Nee, Spaß.

Wie immer vielen Dank für's Lesen, Voten und Kommentieren. Kann man gar nicht oft genug sagen.

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