Kapitel 6

Als ich am Abend den Speisesaal betrete, bin ich noch satt von dem üppigen Buffet im Zug. Trotz alledem lacht mich die deftige Lauchcreme-Suppe nahezu an und ich beschließe, wenigstens eine Schüssel davon zu nehmen. Wir haben nur diese fünf Tage. Wir müssen alles greifen, was wir nehmen können, wir müssen in diesen fünf Tagen leben wie im Schlaraffenland. "Und" Meralda zwinkert uns zu. Inzwischen hat sie ihre bunten Gewänder gegen einen fliederfarbenen Hosenanzug mit Federgürtel eingetauscht. "Die Zimmer sind toll, nicht wahr?" Ich nicke, während ich meine Suppe löffele. Die Sahne läuft über meine Zunge, meinen Hals hinunter und wärmt mich von innen. Der Geschmack ist umwerfend, so viel anders als in unserem Distrikt. "Ich habe nie zuvor solche Zimmer gesehen", stimmt Toby zu. Aber irgendwie wirkt er nachdenklich, nicht ganz bei der Sache. Meine Augen ruhen auf seiner Mimik und versuchen, ihr die Antworten auf die Fragen zu entnehmen, die sich in mir aufgestaut haben. Wer ist Toby Gomez? Was sind seine Fähigkeiten? Kann ich ihm trauen? Letzteres nagt am meisten an mir. Ich weiß, dass wir Verbündete sind, aber es macht mir Angst, ihn nicht durchschauen zu können. Auf einmal sind seine Augen auf meine gerichtet und reißen mich aus den Gedanken. "Sky, hast du Geschwister?" Mein Herz wummert, obwohl seine Stimme ganz ruhig ist. Gefährlich ruhig.  Ja, Toby ist durchaus wie ein Raubkatze. Ruhig und anmutig und dennoch gnadenlos mit ihrer Beute. "Äh, ja", gebe ich stotternd hervor. "Ja, ich habe einen Bruder. Blaze." Mit zittrigen Händen greife ich zu meinem Glas und leere es mit großen Zügen. Selbst das Wasser schmeckt hier anders als daheim. Toby mustert mich mit blitzenden Augen. "Geht er in die Akademie?", fragt er schließlich. Ich nicke bloß. "Dann kenne ich ihn." Endlich wendet er den Blick auf das Stück Fleisch, das er auf dem Teller liegen hat, und er nimmt sein Messer, um ein Stück davon abzuschneiden. "Er ist ein guter Speerwerfer", fügt er hinzu. Warum kennen wir uns nicht? Wir müssten uns eigentlich schon mal gesehen haben, aber nein, so ist es nicht. Wir sind einander völlig fremd. "Nun ja." Toby räuspert sich, dann lacht er auf einmal. Ich merke, wie die anderen ihn verwirrt anschauen und schüttele verständnislos den Kopf. Der Junge muss etwas Falsches an sich haben. Anders kann ich mir sein wandelndes Verhalten nicht erklären. "Was ist so lustig?", frage ich barsch. "Schon gut", winkt Toby ab. "Es war nur eine lustige Erinnerung." Ich sehe ihn abwartend an, doch kommt von ihm nicht mehr. An was auch immer er denken musste - er behält es für sich. Und ehrlich gesagt interessiert es mich auch nicht groß.

Später, als ich im Bett liege, nehmen meine Gedanken mal wieder ihren Lauf. Halten mich vom Schlafen ab. Diesmal handeln sie von den anderen Tributen, vor allem von dem kleinen Mädchen aus 7. Ihre schwarzen, beschwörenden Augen gehen mir einfach nicht aus dem Kopf. Sie sah überhaupt nicht so aus, als würde es ihr etwas ausmachen, hier zu sein. Gefühlskalt, ist das Wort, das mir dazu einfällt. Ja, sie ist gefühlskalt, aber nicht leer, nein. Als sie in die Bildfläche trat, wirkte sie sehr lebendig, auch wenn sie sich ruhig verhielt und nichts besonderes tat. Sie musste nichts tun, um mich zu faszinieren, sie hat einfach so viel Charisma, dass ihr Auftreten allein atemberaubend ist. Dagegen kommt mir mein Fauchen vor den Leuten am Bahnhof künstlich und unüberzeugend vor, was es anscheinend aber nicht ist. Die Menschen waren verrückt danach. Und trotzdem - aus irgendeinem Grund verspüre ich zum ersten Mal in meinem Leben ein Ziehen in den Fasern meines Körpers, ein flattriges Gefühl in meinem Magen, das mir die Luft stoßweise aus der Lunge presst. Angst, schießt es mir durch den Kopf, aber ich wehre mich gegen diesen Gedanken. Ich kenne keine Angst, rede ich mir ein. Ich darf mich nicht fürchten und schon gar nicht in den Spielen. Angst ist gefährlich. Sie ergreift Macht über meinen Körper und kontrolliert mich. Wenn ich Angst habe, reagiere ich falsch, überstürzt, und vor allem reagiere nicht ich, sondern das Mädchen, das sie aus mir macht. Furcht ist überflüssig. Ich bin ein Karriero. Komme aus Distrikt 1, bin Favorit. Habe jahrelang trainiert. Kann morden, kenne über vierzig Arten, jemanden mit einem Messer zu töten. Bin schnell. Habe Verbündete und jede Menge Sponsoren. Noch dazu bin ich die Älteste, warum also sollte ich mich vor einem kleinen Mädchen aus 7 fürchten? Richtig, ich habe keinen Grund. Und trotzdem - ich wünsche mir, dass ihr Name heute nicht gezogen worden wäre. Sie ist als erstes dran, denke ich verbittert. Ja, das weiß ich schon jetzt. Sobald ich in den Spielen ein Messer in den Händen halte, werde ich es benutzen, um sie zu töten. Gestillt von diesem Gedanken drifte ich langsam in einen oberflächlichen, traumlosen Schlaf ab.

Ich wache früh am nächsten Morgen mit knurrendem Magen auf. Doch sicher ist der Speisesaal noch nicht geöffnet und deswegen bleibe ich liegen und lausche den fremden Geräuschen des Kapitols. Es sind Autohupen, lachende Menschen, Musik. Irgendwo knallt es, wahrscheinlich eine Maschine, von der ich keine Ahnung habe. Klappernde Absätze auf Stein. Hohe, gekünstelte Stimmen im Kapitolakzent. Etwas fehlt, denke ich bei mir. Angestrengt liege ich da und überlege, was es sein könnte, bis es mir nach Minuten wie Schuppen von den Augen fällt. Es ist das Vogelgezwitscher, das fehlt. Hier im Kapitol haben sie zwar all die Technik, über die wir in den Distrikten nicht verfügen, genau die Technik, die sie so mächtig macht. Aber für die Macht haben sie die Natur aufgegeben. Ich liebe das Kapitol und all seine Vorteile, aber die Vögel, die mich daheim morgens aus den Träumen singen, fehlen mir hier. Aus irgendeinem Grund verspüre ich ein Ziehen in der Brust, weswegen ich schnell aus den Bett springe und in die Dusche hechte. Es dauert seine Zeit, bis ich die Logik hinter den vielen Knöpfen verstanden habe, aber letzendlich geht es schnell. Schon nach zwanzig Minuten stehe ich frisch geduscht und angezogen in meinem Zimmer und weiß nicht, was ich tun soll. Schließlich gehe ich doch in den Speisesaal. Und tatsächlich sitzt dort eine schmale, kleine Person mit schwarzen, zackigen Haaren und trinkt dieselbe dunkle, bittere Flüssigkeit wie Großmutter und Großvater es jeden Morgen tun. Mya. Kurz verspüre ich das Bedürfnis, einfach wieder zu gehen, bevor sie mich merkt, aber ich bleibe stehen. Recke das Kinn und straffe meine Schultern. Irgendwann wird der Moment kommen, da wir beide ernsthaft miteinander reden müssen. Und je früher, desto besser. Ich setze ich vorsichtiges Lächeln auf und gehe auf sie zu. "Morgen, Mya", sage ich, unmittelbar bevor ich ihren Tisch erreiche. Mya sieht mich nicht an, zuckt nicht zusammen, zeigt keine Regung, nichts. Ich bin ihr tatsächlich egal. Ich wende mich schon ab, um zum Buffet zu gehen, da spricht sie meinen Namen aus. "Sky Hunter." "Ja?" Langsam drehe ich um. War es doch eine schlechte Idee, herzukommen? Ich weiß es nicht. Eine Weile sagt Mya nichts, dann jedoch fährt sie bedächtig fort:"Ich denke, du verleihst deinem Namen alle Ehre." Ich blinzele überrascht, als sie mir plötzlich direkt in die Augen schaut. "Wie.. meinen Sie das?", frage ich verwirrt. "Nun", sagt Mya, bestreicht eine dünne Scheibe Weißbrot mit Butter. "Hunter. Jägerin. So ist es doch, nicht wahr? Du bist eine Jägerin. Hunter." Kurz überlege ich, ob ihr wohl der Kaffee nicht bekommt, aber der kalte Schauer, der mir über den Rücken läuft, überzeugt mich vom Gegenteil. Sie meint es ernst. Ich habe tatsächlich eine verrückt gewordene Mentorin bekommen. "Ja, ich bin eine Jäherin", antworte ich mit fester Stimme. Es hat keinen Sinn, einen Rückzug zu starten. Ich bin hier, weil ich töten will. Meine Mentorin ist die letzte, von der ich mich unterkriegen lasse. "Es gibt viele Jäger, die mit Übermut hinausgezogen und nie wieder zurückgekehrt sind, Liebes", sagt Mya. Liebes.  Ich verziehe das Gesicht. Das Wort klingt in ihrem Mund angsteinflößend und nicht liebevoll oder mütterlich. "Was wollen Sie mir damit sagen?", frage ich. "Ich will dir sagen, dass es nicht reicht, ein Karriero zu sein."  Ihre Stimme ist jetzt klar. Ich spüre einen Stich im Magen, wieder dieses flattrige Gefühl in meinen Lungen. Wollte Daisy mir genau das sagen, als sie sich von mir verabschiedete? Dass ich nur eine von vielen bin? Dass ich mich womöglich überschätze?

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War eher ein Lückenfüller, aber was soll's? Über Kommis freue ich mich jederzeit! ♥

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