Kapitel 4
Das Innere des Zuges ist mehr, als ich erwartet hätte. Der Boden ist dunkel, aber die Möbel und die Wände sind so glänzend, dass ich mein Spiegelbild darin betrachten kann. Große, längliche Fenster geben den Blick auf die Hügel von Distrikt 1 frei, während wir uns in Bewegung setzen. Ich komme aus dem Staunen gar nicht mehr raus, als ich mit dem Finger über die Bezüge der Plüschsessel streiche und mein Blick auf die Teller fällt, auf denen sich perfekte rote Äpfel stapeln. Toby lehnt mit verschränkten Armen an der Wand, als hätte er schon immer gewusst, wie diese Züge von innen aussehen. "Das ist..." Ich suche eine Weile nach den passenden Worten. "Unfassbar", beende ich schließlich meinen Satz und drehe mich zu den anderen. "Es ist unfassbar!" "Ich weiß!", flötet Meralda, ehe sie ihr Gewand glatt streicht. Schließlich greift sie zu meiner Hand und gibt Toby die Geste, ihr zu folgen. "Kommt mit, Kinder! Ich zeige euch euer Abteil." Sie führt uns die edlen Gänge entlang, bis wir an zwei Türen angelangen. "Macht euch noch mal frisch", sagt Meralda lächelnd, "in einer Stunde gibt es Mittagessen." Ich nicke kurz, dann drücke ich die Klinke der Tür, die in meinen Abteil führt, hinunter und trete ein. Das Zimmer, das für mich hergerichtet wurde, ist atemberaubend. Es verfügt sogar über ein eigenes Bad mit warmem Wasser und flauschigen Handtüchern. Das Bett ist breit, Decke und Kissen schillern violettfarben. Schade, dass ich es nie benutzen werde. Von Distrikt 1 aus sind es ungefähr fünf Stunden, mit diesem Zug vielleicht sogar nur vier bis zum Kapitol. Daher verbringen nur die äußeren Distrikte eine Nacht im Zug. Trotzdem kann ich all das ausnutzen, und so schmeiße ich mich glucksend auf das Sofa mit dem edlen Bezug und den vielen, weichen Kissen. Für ein paar Minuten liege ich bloß da und versuche zu entspannen. Danach tapse ich ins Bad, um mich zu waschen. Nicht, dass es nötig wäre, schließlich habe ich am Morgen noch geduscht, aber ich muss es einfach ausprobieren. Ich putze mir die Zähne mit richtiger Zahncreme, eine bessere, als die, mit der wir in Distrikt 1 unsere Zähne putzen. Mit einem weichen, ungebrauchten Lappen und einer lecker riechenden Seife wasche ich mein Gesicht, schließlich schlüpfe ich sogar aus meinem Kleid und sehe, was der prunkvoll verschnörkelte Kleiderschrank zu bieten hat. Natürlich werde ich nicht enttäuscht. Es gibt Kleider in allen erdenklichen Farben und Mustern, kurze Hosen, lange Hosen, Röcke, Blusen und Strickjacken. Alles für mich. "Wie großzügig", murmele ich grinsend, während meine Finger mal hierhin, mal dorthin greifen. Am Ende entscheide ich mich für eine schlichte, okkafarbene Hose und eine weiße Bluse ohne Ärmel. Zufrieden betrachte ich mein Spiegelbild, dann fällt mein Blick auf die große Uhr über meinem Bett. Die Stunde muss um sein, weswegen ich entscheide, nach den anderen zu sehen. Das Essen ruft.
Sie sitzen im Speisewagen an einem runden Tisch mit weißer Decke, daneben ein riesiges Buffet. Ich brauche nicht einmal einen Knopf drücken, denn die Türe öffnet sich von allein, und zwar ohne auch nur ein leises Geräusch zu machen. Noch immer bin ich fasziniert von diesem Zug, wie er lautlos und ohne zu wackeln durch die Landschaft rauscht. Wären die Fenster nicht da, an denen die Felder und Bäume vorbeifliegen, könnte man meinen, man bewege sich gar nicht.
Als Meralda mich sieht, springt sie juchzend auf. Es ist ihr Job, die Tribute zu mögen, ich glaube, es fällt ihr nicht einmal schwer. "Kindchen!", ruft sie überschwänglich, während sie eilig auf mich zustöckelt. "Da bist du ja endlich! Hübsch siehst du aus." Sie betrachtet zufrieden mein Outfit. "Guter Geschmack, guter Geschmack", sagt sie zufrieden. "Es gab ein Jahr, da hat sich das Mädchen zugehangen mit Schmuck, die buntesten Kleider hat sie getragen! Und das zum Essen." Meralda schüttelt bei der Erinnerung verständnislos den Kopf. Den Kommentar, dass sie selber aussieht wie ein bunter Papagei, verkneife ich mir lieber. Wer weiß, wie schnell sie sich verärgern lässt. "Danke", sage ich deswegen mit einem höflichen Knicks. "Mein Großvater hat eine große Textilfirma." Meralda flötet irgendwas zustimmendes, dann führt sie mich zum Tisch. Beim Blick auf die köstlichen Speisen läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Von dem betörenden Geruch ganz zu schweigen. Und als wären die dampfenden Töpfe, Pfannen, das viele Gemüse und die sorgfältig zubereiteten Nachspeisen nicht genug, wird auch noch ein Spanferkel aufgetischt. Gierig werfe ich einen Blick darauf, während ich mich setze. "Lasst es langsam angehen", meint Shane kichernd. "Das ist ganz schön viel, was man verdauen muss. Nehmt euch nicht zu viel, ihr könnt niemals alles essen, aber doch ziemlich viel, wenn ihr kleine Portionen nehmt." Er schenkt uns ein strahlendes Lächeln. Und da beschließe ich, ihn zu mögen, denn für jemanden, der so gefährlich und so bärenstark ist wie Shane, hat er eine äußerst liebe und vertrauenswürdige Ausstrahlung. Es ist erst zwei oder drei Jahre her, seit er die Spiele gewonnen hat, indem er seine Gegner mit den bloßen Händen umbrachte. Das war auch das Jahr, als sie die Tribute in eisige Kälte steckten... Damals habe ich gedacht, er sei nicht ganz richtig im Kopf, aber anscheinend ist er ganz vernünftig. Ich gebe mir einen Ruck und lächele zurück. Shane ist zwar nicht mein Mentor, sondern Toby's, aber im Gegensatz zu Mya zeigt er wenigstens Interesse. Meine Mentorin ist nicht mehr so jung wie er, um die dreißig, schätze ich. An ihre Spiele kann ich mich jedoch nicht erinnern. Aber es muss etwas besonderes gewesen sein; sie ist so zierlich und klein, wirkt so zerbrechlich. Ihre dunklen, kurzen Haare stehen wirr vom Kopf ab. Eine Weile verhaken sich unsere Blicke und dabei beschleicht mich ein Unbehagen.
Ich schaffe es leider wirklich nicht, alles zu probieren und an die kleinen Portionen halte ich mich auch nicht, denn ich esse haufenweise Rote Beete. Danach zwei große Stücke Spanferkel und ich bin eigentlich schon satt. Aber ich zwinge mich, wenigstens noch ein bisschen von dem Kartoffelgratin zu essen, bevor ich zu den Nachspeisen übergehe. "Und", sagt Toby plötzlich und es dauert seine Zeit, bis ich verstehe, dass er mich meint, "warst du auch in der Akademie?" Ich sehe von meinem Teller auf und suche in seinem Gesicht irgendein Anzeichen von Spott, Humor, oder irgendwas, das darauf hindeuten würde, dass die Frage nicht ernst gemeint hat. Doch er wirkt ganz unschuldig. "Klar?", sage ich fragend. Warum sonst sollte ich freiwillig gehen? "Ich hab dich nie gesehen", meint er schulterzuckend. "Geht mir genau so", murmele ich, dann schiebe ich mir meine letzte Gabel Kartoffelgratin in den Mund. Insgeheim weiß ich immer noch nicht, wie das sein kann. "Angreifer oder Verteidiger?", bohrt Toby weiter. Ich kaue, schlucke, dann antworte ich stolz: "Angreifer." Es wird mir immer ganz warm ums Herz, wenn ich von meiner Lieblingswaffe und meinen Fähigkeiten rede. "Ich auch", sagt er, "wie kann das sein?" Ich zucke die Achseln. "Weiß nicht. Welche Waffe?" Ich merke wie Meralda, Mya und Shane unser Gespräch neugierig verfolgen. Nun ja, Mya vielleicht nicht. Sie ist immer noch damit beschäftigt mich anzustarren, als ob sie jeden meiner Gesichtszühe deuten wolle, als ob sie versuche, herauszufinden, wie mein Denken funktioniert. Es ist mehr als Neugier. Ich versuche, mein Unbehagen über ihren scannenden Blick zu verbergen. Toby lehnt sich, lässig grinsend, in seinem Stuhl zurück. Mit einer Hand tätschelt er seinen Bauch, die andere umfasst sein kristallartiges Glas. "Siehst du schon noch", meint er, auf einmal viel ausgelassener als bei der Ernte und auf der Autofahrt zum Bahngleis. Vielleicht war seine Verschlossenheit auch nur eine Masche, um die Zuschauer zu beeindrucken - hier werden wir schließlich nicht gefilmt. Womöglich verhalte ich mich sogar selbst anders. "Los, sag schon", dränge ich ihn. "Es ist... ziemlich ausgefallen." Wie zu erwarten. Als Speerwerfer hätte ich ihn ohnehin nicht eingeschätzt. Aber es muss etwas sein, das seine katzenhaften Bewegungen erklärt. "Bogenschießen?", rate ich. "Ausgefallener." Ich spiele mit einer meiner gewellten Haarsträhnen, während ich versuche, mir die vielen Waffenstände in der Akademie vorzustellen. "Wurfaxt", sage ich schließlich. Toby schüttelt lachend den Kopf. "O nein", scherze ich, "sag' nicht, du drischst mit entsetzlichen Keulen auf andere ein!" Er kichert amüsiert, während er den Kopf schüttelt. "Die Vorstellung gefällt mir. Nur - leider nein." Denk, denk, denk! Aber mein Kopf ist wie leer gefegt, und da unterbricht Meralda unsere Konversation mit einem hysterischen Aufschrei. "Hurtig, hurtig in den Salon, Kinder! Die Zusammenfassung der Ernte fängt in einer Minute an!" Ein Glück, dass wir den Abwasch nicht selber erledigen müssen. So können wir alles stehen und liegen lassen und siedeln zum Salon um, wo ein paar dunkle, edle Sessel auf uns warten. Kaum dass wir sitzen, fängt die Zusammenfassung auch schon an. Als erstes ist da der Film, der Vertrag wird wiederholt, dann kommt auch schon Distrikt 1. Meine freiwillige Meldung wird in voller Länge gezeigt; die Hände zu Fäusten geballt stürme ich wie ein hungriger Wolf auf die Bühne, der eine Horde Lämmer sieht. Danach kommt Toby mit seinen blitzenden Augen und der gefährlichen Ruhe. Zufrieden mit meinem Auftritt kann ich mich zurücklehnen. Aber etwas angespannt bleibe ich trotzdem - immerhin muss ich jetzt auf die anderen Tribute achten. In 2 ist da ein Mädchen, das sich, wie ich, freiwillig meldet. Doch sie ist anders, so engelsgleich. Mit weißblondem, wallendem Haar schwebt sie zur Bühne, die Augen groß und blau, helle, lange Wimpern. Aber ihre Arme wirken recht kräftig für jemanden, der so weiblich ist. Eine Weile ist nur das Schweigen der Menge zu hören, die geschockt davon ist, so ein liebliches, bildhübsches Mädchen gehen lassen zu müssen. Der Junge ist klein und stämmig, der erste heute, der gelost wurde. Komischerweise meldet sich keiner. Aber ich glaube, der Kleine weiß sich trotz seines Alters zu helfen und ich wette insgeheim, dass er stärker ist als Toby. Es geht so schnell weiter, dass nicht imstande bin, mir die Namen zu merken. Distrikt 3. Die beiden wirken ausgezehrt, bleiben mir nicht im Gedächtnis. Der Junge ist ein Zwölfjähriger, also sind es beide recht hoffnungslose Fälle. Bei Distrikt 4 jedoch lehne ich mich vor. Die Betreuerin greift in die Schüssel mit Namen, holt ein Zettelchen hervor und liest:"Sita Moysen!" Ein Raunen geht durch die Menge, als Sita zur Bühne geht. Sie ist jünger als ich, jedoch nicht zu jung und hat glattes, schwarzes Haar. Der Junge ist ein weiterer Freiwilliger, und somit ein weiterer Verbündeter. Die beiden aus 5 ziehen einfach an mir vorbei, in 6 jedoch wird ein Mädchen gelost, das die längsten Beine hat, die ich je gesehen habe. Sie ist schlank, aber an den richtigen Stellen gerundet. Ich wette, im Kapitol werden sie sie verehren. Ihr winziger Distriktpartner wirkt elendig neben ihr. Distrikt 7. Wieder ein außergewöhnliches Mädchen, das diesmal aussieht wie aus einer anderen Welt. Sie ist vielleicht gerade mal dreizehn, vierzehn Jahre alt, die verfilzten Haare fallen ihr in einem satten Orange bis in die Kniekehlen hinab. Ich bekomme die Losung des Jungen gar nicht mit, so sehr bin ich gebannt von ihrem Gesicht. Weiße Haut, schwarze Augen, Sommersprossen. Als sie ausgeblendet wird, merke ich, dass mein Puls nach oben geschossen ist. Während die beiden aus 8 eingeblendet werden, schließe ich die Augen und zwinge mich zur Beruhigung. Auf das Tributpaar aus 9 achte ich ebenfalls nicht, aber Distrikt 10 gilt meine volle Konzentration. Nicht dass ich etwas Besonderes erwarte, aber ich will wissen, mit wem ich es aufnehmen muss. Das Mädchen ist sehr jung, wirkt aber erstaunlich selbstbewusst. Die braunen Zöpfe wippen auf und ab, während sie die Treppen zur Bühne hinaufhopst. Ihr Mittribut bleibt mir nicht im Gedächtnis. Distrikt 11. Das Mädchen ist hübsch, ihre Haut hat die Farbe von Kaffee und doch spüre ich, dass ihre Chancen ziemlich schlecht stehen. Der Junge dagegen ist eine echte Überraschung. Er ist groß, stämmig, hat breite Schultern und Oberarme. "Speerwerfer", kommentiert Toby, der sich in seinem Sessel vorgelehnt hat. Ich will etwas sagen, aber dann wird Distrikt 12 eingeblendet und die Worte verfallen in meinem Kopf. Das Tributmädchen bricht in Tränen aus, als ihr Name gezogen wird und bei dem Namen des Jungen lache ich laut los. Er heißt Cole! Wie passend, da sie in 12 Kohle ausgraben. Auch Toby kichert vor sich hin, doch als wir Mya's stechendem Blick begegnen, vergeht uns das Lachen. "Unterschätzt niemals eure Gegner", sagt sie ruhig. Ein Wunder, dass sie überhaupt gesprochen hat. Ich starre wieder auf den Bildschirm, obwohl gerade die Hymne verklingt und keine Tribute mehr zu sehen sind. Wenig später ist die Bildfläche schwarz. "Holt eure Sachen aus eurem Abteil, falls ihr sie mitnehmen wollt", flötet Meralda. "Wir gehen in den Barwagen." Ich stutze. "Warum sollen wir unsere Sachen dann mitnehmen?" "Ihr müsst nicht, ich will nur nicht, dass ihr später rumjammert, weil ihr was vergessen habt", sagt Meralda schulterzuckend. Grinsend wende ich mich zum Gehen ab, um den anderen zu folgen. "Ich vergesse nichts, danke." Mein Blick wandert zu der Uhr an der Wand. Es ist eins. Noch zwei, vielleicht drei Stunden, dann sind wir da.
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Danke für 100+ Leser ♥ Kommis würden mich wie immer SEHR freuen *-*
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