Kapitel 3

Während der Bürgermeister den Hochverratsvertrag vorliest, betrachte ich Toby Gomez und versuche angestrengt mich an ihn zu erinnern. Aber ich kenne ihn nicht; alles an ihm ist unbekannt. Ich merke, wie auch er auch er mich aus seinen blitzenden Augenwinkeln mustert, sodass ich kurz den Blick senke. Warum meldet sich so einer freiwillig? Ich habe mit einem stämmigen Jungen gerechnet, nicht mit einem von so schlanker Statur. Seine Bewegungen haben etwas von zeitloser Eleganz, sein Gang zur Bühne war geschmeidig und leichtfüßig. Aber irgendwas muss er ja beherrschen, sonst wäre er nicht vorgetreten. Ich lege eine Hand in die Hüfte, ehe ich wieder aufsehe und meinen Blick durch die Menge hüpfen lasse. Ich sehe Gesichter voll Erstaunen, welche, in die der Neid geschrieben ist und auch solche, die erschrocken wirken. Der Bürgermeister beendet seinen Vortrag und Meralda nimmt seinen Platz ein. "Gebt euch die Hände, Kinder", flötet sie feierlich. Ich nehme die Hand aus meiner Taille und halte sie in Toby's Richtung. Seine schlanke Hand greift danach, um erstaunlich fest zuzudrücken. In seinen Augen glänzt der Wahnsinn, um seine Mundwinkel zuckt es. Ich schenke ihm ein flüchtiges Lächeln, dann nehme ich meine Hand zurück. "Fröhliche Hungerspiele! Und möge das Glück stets mit euch sein!" Meralda lächelt uns liebevoll an und legt uns ihre langen Arme um die Schultern. So gibt sie uns an die Friedenswächter weiter, die uns in das Rathaus führen, wo es für jeden von uns einen Raum gibt, in dem wir auf die Abfahrt warten. Eine Stunde geben sie uns, um uns von unseren Liebsten zu verabschieden, bevor wir ins Kapitol aufbrechen. Ich war noch nie im Rathaus, aber ich habe mir immer vorgestellt, wie es wohl aussieht. Jedoch hätte ich nie erwartet, dass es so schlicht gehalten ist - der Boden besteht aus dunklem Edelholz, die weißen Wände sind nicht einmal verziert. Lediglich in Vitrinen befinden sich Auszeichnungen und Verträge. Es ist fast schon enttäuschend. Der Raum, in den sie mich führen, ist da um einiges besser. Durch die hohen Fenster flutet das Sonnenlicht; in der Ecke wartet ein rotes Sofa auf mich. Davor steht ein kleines Tischchen, gedeckt mit haufenweise Leckereien. Einer der Friedenswächter schubst mich sanft hinein, ehe die Tür hinter mir krachend ins Schloss fällt. Voller Ehrfurcht drehe ich mich um meine eigene Achse, während ich beginne zu strahlen. Hier drin werde ich nicht gefilmt, also kann ich meinen Emotionen freien Lauf lassen. Lange bin ich jedoch nicht allein, denn schon zwei Minuten später geht die Tür wieder auf und meine Großeltern kommen hinein, Blaze hängt ihnen an den Fersen. Und zum ersten Mal seit Jahren schließt Großmutter mich in ihre steifen Arme. Ich erwidere die Umarmung beinah gerührt, ehe sie wieder von mir ablässt. "Seht sie euch an", sagt sie stolz an Großvater und Blaze gewandt. "Du hast einen wunderbaren ersten Eindruck geschaffen", sagt Großvater sachlich. "Die Leute haben Angst vor dir." Ich bedenke ihn mit einem intensiven Blick. "Ich will euch nicht enttäuschen." Er schüttelt den Kopf. "Das tust du nicht." Nun schiebt sich mein kleiner Bruder in den Vordergrund und wirft sich mir um den Hals. "Komm ja zurück!", mahnt er. "Keine Sorge, Blaze", flüstere ich, während ich beruhigend durch seine Haare streiche. "Ich gewinne das Ding." Lächelnd löst er sich von mir. "Sky, denk an das, was ich dir gesagt habe", sagt Großvater, "dass du keine richtige Konkurrenz hast." "Es gibt andere Karrieros", werfe ich ein, nur um zu sehen, wie er reagiert. "Ignorier die Schmerzen, die du haben wirst", befiehlt er mit eindringlichem Blick. "Und du musst Sponsoren gewinnen!", ruft Großmutter dazwischen. "Ihr raubt den Mentoren ihren Job", sage ich schroff. "Wir zweifeln nicht eine Minute an deinem Sieg", sagt Blaze aufmunternd. "Und die Mentoren werden dir dasselbe erzählen." Da packt mich die Sorge, ob es falsch ist, solch eine Überheblichkeit an den Tag zu legen. Bis zu den eigentlichen Spielen ist noch eine Woche Zeit. Ich sollte mich nicht in Dinge verbeißen, die noch warten können. Und mein Sieg kann warten, auch wenn ich mich auf ihn freue. Mein kleiner Bruder bemerkt meine Zweifel. "Freu dich einfach auf das, was kommt", sagt er sanft. Ich blinzele ihm entgegen. "Okay." "Und sei liebenswürdig. Ersetze dein Grinsen durch ein Lächeln", sagt Großmutter. "Ich werde es versuchen", seufze ich, "aber eigentlich ist es der Job der Stylisten und der Job meiner Mentorin, aus mir einen Tribut zu schaffen, den die Zuschauer lieben." Eine Weile sehen die drei mich an; ich starre zurück. Großmutter ergreift als erste wieder das Wort. "Wir gehen jetzt nach Hause, Sky. Sei ein stolzer Tribut und vertritt Distrikt eins so gut es geht! Wir sehen dich morgen Abend." Sie meint die Eröffnungsfeier, bei der die Tribute den Bürgern des Kapitols erstmals vorgeführt werden, in Kostümen und Kleidern, die das Hauptmerkmal jedes Distriktes wiederspiegeln. Ich hoffe, mein Stylist ist kein Dummchen... "Ja." Ich nicke, dann nehme ich Blaze noch einmal in die Arme. "Bis bald." Großvater und ich tauschen einen ernsten Blick. Dann sind sie weg. Durch die Tür und weg. Ich durchquere mit großen Schritten den Raum und lasse mich auf dem roten Sofa nieder, dann schnappe ich mir eine Weintraube. In Gedanken gehe ich die Termine durch, die auf mich zukommen werden. Heute Abend die Eröffnungsfeier, also ist morgen der erste Trainingstag, danach logischerweise der zweite. Am Dritten ist das Einzeltraining, bei dem die Spielmacher uns mit Punkten bewerten. Der Tag danach steht unseren Mentoren und Meralda zur Verfügung, die uns auf das Interview vorbereiten, das am letzten Abend vor den Spielen stattfinden wird. Erst danach starten wir in die Arena. Kommt das hin? An den Fingern zähle ich die Tage ab. Ja, es sind fünf Tage. Am Sonntag beginnen die eigentlichen Spiele. In meinen Fingern juckt es, als ich an das Training denke und ich merke, wie ich mich schon jetzt darauf freue. Allerdings bin ich auch neugierig, was die Tribute aus den anderen Distrikten angeht. Ist es so wie jedes Jahr, also Gute aus 1, 2 und 4, oder gibt es auch Ausnahmen? Starke Tribute aus den außenliegenden Distrikten, zehn zum Beispiel? Ich weiß es nicht, aber spätestens, wenn wir uns im Zug die Zusammenfassungen ansehen, bekomme ich einen ersten Eindruck. Beim Training kann ich mir einen guten Überblick verschaffen, für wen die Chancen gut, und für wen die Chancen schlecht stehen. Ich muss wissen, wer in der Arena als erstes ausgelöscht werden muss, bevor es ernst wird. Eine Weile überlege ich sogar, mich als Einzelkämpferin zu outen, um nicht im Schlaf von einem meiner Verbündeter erstochen zu werden, verwerfe die Idee aber wieder. Entspann dich, murmle ich mir zu. Eins nach dem anderen. Fünf Minuten weiter, als ich mir gerade eine kleine, mit Zwiebelcreme bestrichene Scheibe Brot in den Mund schiebe, geht die Tür auf. Wie erwartet ist Daisy gekommen, um sich zu verabschieden. Unschlüssig steht sie in der Mitte des Raumes und sieht mich an. "Komm her." Ich klopfe auf die freie Stelle neben mir und ringe mir ein Lächeln ab. Wenn ich sie listig angrinse, geht sie ja wieder, oder? Daisy kommt zu mir und setzt sich auf das Sofa. "Freust du dich?", fragt sie, nachdem wir uns eine Weile räuspernd angesehen haben. "Ja, natürlich", sage ich, "sonst hätte ich mich kaum freiwillig gemeldet." "Du bist nicht die einzige gute in diesen Spielen, Sky", flüstert Daisy. Ihre Augen sind geweitet, die Pupillen groß und schwarz. "Das weiß ich doch. Trotzdem bin ich gut vorbereitet", sage ich. Daisy nickt. "Ja, aber hast du einen Moment drüber nachgedacht, dass du sterben könntest? Ich meine, dann siehst du deine Familie nie wieder." "Daisy, mir ist es egal, dass ich sterben kann." Sie blinzelt, dann sieht sie auf ihre Fußspitzen. "Ja, schon klar." Wieder legt sich ein unangenehmes Schweigen über uns, das erst unterbrochen wird, als Daisy sich vom Sofa erhebt. "Viel Glück, Sky", murmelt sie, auf irgendeine Art bedrückt. Aufmunternd ziehe ich sie in meine Umarmung. "Mach's gut. Viel Glück bei deiner Krankenschwesterausbildung." "Danke." Und fünf Sekunden später sitze ich wieder alleine im Raum, warte darauf, dass die Stunde endlich vorbei ist. Um die Zeit zu vertreiben, verschlinge ich ein riesiges Stück Sahnetorte, doch ich werde nur noch unruhiger. Vor allem denke ich über Daisy's Worte nach, dass ich sterben könnte, dass es noch andere gute gibt, und je länger ich darüber nachdenke, desto mehr verärgern sie mich. Wollte sie mir auf ihre schüchterne Art und Weise sagen, dass sie nicht an mich glaubt? Dass sie mich zu schwach findet, um die Spiele zu gewinnen? Oder sieht sie die Dinge eher objektiv, denkt an die vierundzwanzig Tribute, von denen nur einer gewinnen kann? Was auch immer es ist, es stört mich. Ich darf keine Angst haben und Selbstzweifel erst recht nicht. Im Endeffekt ergreifen sie Überhand von mir und dann habe ich versagt. Aus lauter Frust stopfe ich ein weiteres Stück Sahnetorte in mich hinein, und da ich weiß, dass eh keiner kommt, übe ich mich im Lächeln. Als Meralda hereinkommt, um mich abzuholen, schmerzen meine Kiefer, so sehr habe ich mich bemüht, freundlich zu wirken. In dem schwarzen Wagen, in dem sie uns zum Zug bringen, entscheide ich mich jedoch um. Am Bahnsteig werden Kameras aufgehangen sein und da ich mich eben bei der Ernte noch als entschlossene Kämpferin gegeben habe, kann ich jetzt nicht lächeln wie jemand, der keiner Fliege was zu Leide tut. Grimmig schaue ich aus dem Fenster, während sich Toby mit Shane Fepress unterhält. Weil wir in Distrikt 1 viele Sieger haben, können wir es uns erlauben, dem weiblichen und dem männlichen Tribut jeweils eigene Mentoren zuzuteilen. Mya scheint sich im Moment jedoch wenig für mich zu interessieren, denn sie redet angeregt mit Meralda über Gott und die Welt. Am Bahnsteig angekommen, wimmelt es von Menschen und Reportern mit insektenartigen Kameras, die wir jedoch nicht weiter beachten. Stattdessen laufen wir, ohne sie eines Blickes zu würdigen, beinah im Eilschritt zum Eingang des Zuges. Und als sich die Türen mit leisem Zischen hinter uns schließen, verschlägt mir die Inneneinrichtung fast den Atem.

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Hey, meine Lieben ♥ Die Leserzahl von mörderisches Vergnügen ist zwar noch zweistellig, aber ich würde sagen, sie entwickelt sich. Ganz liebe Grüße und Küsse gehen an meine allerbeste Freundin Lara, die wohl mein größter Fan ist. Lara, ich hab dich lieb!

Bitte lasst mir einen Kommi da. ♥

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