Kapitel 20

Drei Friedenswächter nehmen mich und Clarisse in ihre Mitte und führen uns in die Katakomben, wo jeder von uns Tributen einen Raum zugeteilt bekommt, in dem er die letzten Minuten vor den Spielen verbringt. Auch Toby und Samson werden fortgeführt; es ist das letzte Mal, dass ich ihn so sehe. Das nächste Mal, wenn wir uns wiedertreffen, werden wir auf's Füllhorn zujagen. Noch immer wirkt dieser Gedanke in meinem Hirn deplaziert, vor allem, wo ich nun so vieles habe, an das ich denken muss. Meine Eltern. Blaze. Mein Team. Ob ich eine Strafe bekomme und wenn ja, welche.

Clarisse schweigt den ganzen Weg. Ich kann nicht behaupten, dass ich ernsthaft daran arbeite, ein Gespräch mit ihr anzufangen, doch als ich ein paar Witze darüber mache, wo der Luxus des Kapitols denn hier in diesen schlecht beleuchteten, unverputzten Gängen geblieben ist, presst sie stur die Lippen aufeinander. Und ich dachte, alte Damen seien weise. Aber, wer weiß, vielleicht herrscht im Kapitol sowieso eine ganz andere Auffassung von Intellekt.

Der Raum bleibt uns jedenfalls allein überlassen. Keine Friedenswächter. Neugierig sehe ich mich um. Der Boden besteht aus weißen Fliesen, die sich bis zu der Hälfte der Wände hinaufziehen. An der Wand mir gegenüber ist ein Tisch mit einem Buffet in Mini-Format aufgebaut, zu meiner Linken hängt ordentlich sortiert meine Garderobe und weiter rechts befindet sich eine gläserne Röhre mit Metallboden. Das Startloch. Mein Herz zieht sich bei seinem Anblick vor Aufregung zusammen, mein Magen macht einen Satz. Clarisse schließt die Tür hinter uns und geht zur Garderobe. "Du solltest dich umziehen. Sie geben uns eine knappe halbe Stunde. Wenn du noch essen willst..." Sie scheint sich daran zu erinnern, dass sie mich ja eigentlich eisern ignorieren wollte und presst die Lippen wieder zu einem schmalen Strich zusammen. Ich seufze. "Entspann' dich, Clarisse." Ich straffe meine Schultern, während ich die Worte zurechtlege. "Hier drin hängen keine Kameras, hinter denen ein Prüfer sitzt, der sichergehen soll, dass du auch ganz bestimmt unfreundlich zu mir bist." Ich gehe dennoch auf sie zu, schlüpfe aus meinen komfortablen Kleidern und streife die dicke Baumwollunterwäsche über. Clarisse steht mit verschränkten Armen daneben. Ich nehme eine khakifarbene Hose mit vielen Taschen vom Bügel, fahre mit dem Finger über den Stoff. Er ist ebenfalls dick und als ich die Hose überstreife, erweist sie sich als äußerst ungemütlich. Außerdem ist sie mindestens zehn Zentimeter zu lang, passt obenrum jedoch perfekt. Clarisse reicht mir dennoch einen Gürtel, wenn auch widerwillig. Er ist aus schwarzem Leder und lässt sich leicht umlegen. Schließlich deute ich stumm auf die viel zu langen Enden der Hose. Clarisse bückt sich seufzend, um sie aufzukrempeln. "Wir haben ausversehen die falschen Größen angegeben", murmelt sie. "Ausversehen oder extra?", frage ich dazwischen. Sie hält inne und blickt auf. "Ich sagte doch, ausversehen." Ich verenge die Augen zu Schlitzen. "Und ich frage mich, ob das eine der Konsequenzen ist, mit denen ich nun leben muss." Mit grimmiger Miene reiße ich das dunkelgrüne T-Shirt an mich. Es wundert mich zwar, dass die Hose so dick und dieses Shirt so dünn ist, aber ich versuche, mir meine Verwirrung darüber nicht anmerken zu lassen, als ich es überstreife. Der weiche, elasthische Stoff elektrisiert meine Haare, sodass sie zu Berge stehen. Ich mache mir gar nicht die Mühe, sie zu bändigen, sondern sehe stattdessen an mir herunter. Erleichtert stelle ich fest, dass das T-Shirt im Gegensatz zu der Hose sehr wohl gut sitzt; es liegt eng an, der runde Ausschnitt ist jedoch recht luftig. Ich runzele die Stirn, als Clarisse mir eine grob gestrickte Jacke mit feinen Knöpfen reicht. "Was sollen diese ganzen Unterschiede?", will ich wissen, während ich das schwarze Jäckchen überziehe. Clarisse tut auf scheinheilig. "Welche Unterschiede? - Vergiss nicht, die Jacke zuzuknöpfen!" Sie fährt sich energisch durch das dicke, weiße Haar. Auch heute fällt es ihr glatt wie ein Wasserfall auf die Schultern und ich frage mich abermals, ob es sich wohl um eine Perücke handelt. Widerwillig knöpfe ich die Strickjacke zu. Clarisse erläutert mir unterdessen, dass es innerhalb der Arena wohl große Temperaturunterschiede geben wird, weswegen sich die Spielmacher für Kleidung in mehreren Lagen entschieden haben. Ich nicke nur. Schließlich hilft sie mir in den weinroten Ponscho, der zwar warm ist, mir aber als äußerst unpraktisch erscheint. Clarisse winkt ab. "Du kannst ihn ausziehen, wenn du ihn nicht brauchst. Ich schätze aber, dass er dir dennoch nützlich werden könnte. Trag ihn immer am Mann. Die Spielmacher haben immer einen Grund für die ausgewählte Kleidung." Wow. Das waren ja mehr als zwei Sätze am Stück! Ich verkneife mir den Kommentar und greife stattdessen zu der letzten Lage des Outfits. Es handelt sich um ein einfaches, durchsichtiges Regencape mit riesiger Kapuze. Clarisse rollt es auf, um es in einen kleinen Beutel zu packen, den sie mir an den Gürtel hängt. Ich will gerade fragen, ob das erlaubt ist, als sie schon sagt: "Keine Sorge. Jeder Tribut bekommt so ein Ding." Anschließend reicht sie mir die kniehohen schwarzen Lederstiefel. Sie liegen eng am Bein an, nehmen mir jedoch keinerlei Freiheit und lassen sich gut tragen. Sie sind mit dichtem Fell gefüttert, was mich schließen lässt, dass es wohl kalt wird. Aber zum Glück ist die Sohle dick und wasserfest; das Profil eignet sich zum Laufen. Ich mache probeweise ein paar Schritte hin und her, um die Garnitur zu testen, und nicke schließlich. "Sitzt perfekt." Bis auf die Hose. Aber auch diesen Kommentar verkneife ich mir, denn ich kann von Glück reden, dass Clarisse sich überhaupt hat erweichen lassen. Diese neu gewonnene Harmonie möchte ich nicht gleich wieder zerstören.

In den letzten Minuten trinke ich zwei Gläser kristallklaren Wassers und esse kleine Pfannküchlein mit Ahornsirup und Wallnüssen. Zwar bin ich nicht sonderlich hungrig, aber ich möchte mir den Luxus nicht nehmen - wer weiß schon, welches Essen die Arena für uns bereithält? Dann, als eine angenehme Computerstimme verkündet, dass ich die Röhre innerhalb der nächsten Minute betreten soll, löst sich meine oberflächle Ruhe in Luft auf und wird von einem prickelnden Gefühl ersetzt. Meine Sinne spannen sich an. Ein Schauer fährt über meinen Rücken, als ich ihn begradige. Jetzt ist es so weit. Mit steifen Beinen stehe ich auf und schüttele meine kribbelnden Hände. Ich kann es gar nicht erwarten, endlich ein Messer in den Händen zu halten und es in der nächstbesten Tribut zu pfeffern. Jahrelang habe ich hiervon geträumt und es so weit geschafft. Aufregung und Vorfreude mischen sich unter die Angst vor dem Ungewissen. Das Blut rauscht nur so in meinen Ohren. "Dreißig Sekunden", verkündet die Computerstimme. Clarisse steht ebenfalls auf und kommt auf mich zu. Es ist, als wolle sie etwas sagen, aber sie klappt den Mund wieder zu. Ich kann es ihr nicht verübeln, denn auch von Mya habe ich keinen letzten Rat bekommen. Als die Frauenstimme sagt, ich hätte noch zehn Sekunden, laufe ich auf das Startloch zu, doch unmittelbar vorher packt Clarisse mein Handgelenk. Ich wirbele umher. "Sei tapfer, Sky." In ihren Augen sehe ich Sorge. Sorge und etwas anderes, das ich nicht definieren kann. Ich nicke, dann drehe ich mich um. Mit dem Rücken zu Clarisse betrete ich die Röhre und drehe mich auch dann nicht um, als mich der Druck des Abhebens durchfährt. Sämtliche Organe in meinem Bauch flattern.

Das erste, was ich dann sehe, ist Sonnenlicht, das so grell ist, dass ich die Augen zukneifen muss. Ich schirme mit der Hand meine Augen ab, um mich besser umsehen zu können. Das Herz klopft mir bis zum Hals. Blumen. Wir sind auf einer riesigen Lichtung, die aufgebaut ist wie eine Obstbaumplantage. Birnen, Kirschen, Äpfel, alles wächst in üppigen Mengen an den perfekt geformten, mannshohen Bäumchen. Das goldene Füllhorn glitzert in der Sonne, inmitten von saftigem Gras und Ringelblumen. Im Norden, also mir gegenüber, flacht das Land ab, es entsteht ein Hang, aber dahinter kann ich ein schroffes Gebirge mit weißen Wipfeln ausmachen. Rund um uns und die Lichtung herum ist ein ein dichter, dunkler Nadelwald. Auch hinter seinen Baumwipfeln sehe ich weiße Bergspitzen. Keine Frage - wir befinden uns in einem Thal. Ich werde skeptisch, vor allem in Anbetracht der Früchte, die hier hängen und der Blumen, die hier blühen. Wo ist der Haken? Ich nehme eine Bewegung rechts neben mir wahr und drehe den Kopf. Es ist Sita, meine Verbündete aus 4, die mir zaghaft zuwinkt. Unsere Plattformen sind vielleicht zwanzig Meter voneinander entfernt. Ich werfe ihr ein Lächeln zu, dann versuche ich, Toby zu finden. Ich kann ihn allerdings nirgends sehen, deswegen steht er mir wohl direkt gegenüber, auf der anderen Seite des Füllhorns. Ein Lautsprecher knackt. Zeit für Claudius Templesmiths Startsignal. "Sehr geehrte Damen und Herren!" Er legt eine feierliche Pause ein. "Tribute, die Zeit ist gekommen. Zum sechsundsechzigsten Mal in der Geschichte wünsche ich euch und Ihnen allen fröhliche Hungerspiele. Und möge das Glück stets mit euch sein!" Sein Akzent und seine Betonung sind so absurd, dass ich grinsen muss. Auf das Füllhorn wird eine Stoppuhr gestrahlt, die, begleitet von einer weiteren Computerstimme, von sechzig runter zählt. Im Sekundentakt. Ich habe also eine wertvolle Minute, die Lage einzuschätzen und mir einen Plan zurechtzulegen. Sita steht rechts von mir, aber wer steht links? Als ich den Kopf drehe, vergeht mir das Grinsen sofort. Es ist die Hexe und sie starrt mich unverwandt an. Ein warmer Windstoß fährt durch ihre verfilzten rotblonden Haare. Mir wird heiß. Mit pochendem Herzen sehe ich zu der übernächsten Plattform: Die Kleine aus zwölf. Daneben Tiger. Von Donique sehe ich nur wenig und Lizley bekomme ich gar nicht zu Gesicht. Dafür Seth aus 11, der sich ungeduldig die Hände reibt. Er steht schon in gebeugter Starthaltung und sein Blick ist wild auf irgendetwas am Füllhorn gerichtet. Ich mustere die Waffen. Der Speer! Er will den Speer, der direkt am schimmernden Gold lehnt. Neben ihm steht Cole, der Junge aus 12, der gut mit dem Dolch umgehen kann und unserer Allianz nicht beitreten wollte. Sein braunes Haar steht in alle Richtungen ab und ich kann seine dürren Hände von hier aus zittern sehen.

"Zehn, neun, acht, sieben..." Ich hole tief Luft, ehe ich den rechten Fuß zur Spitze der Plattform schiebe, zum Sprung bereit. "Sechs, fünf, vier..." Ich schließe kurz die Augen, um mich zu besinnen. "Drei, zwei, eins." Ein wildes Fauchen für die Kamera, dann hallt mir der Startschuss durch die Ohren und schon im selben Moment mache ich einen Satz nach vorn und presche los.

              **************

Was haltet ihr davon? Wer wird der oder die Erste am Füllhorn sein? Welcher von Skys Verbündeten muss vielleicht im Gemetzel sterben? Wen wird sie töten? Schreibt's in die Kommis! ت∞✧

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