Kapitel 2

Schon auf der Treppe rieche ich die Milch, die wie jeden Morgen warm in einer dünnen Porzellantasse auf mich wartet. Ebenso wie meine Großeltern, die mich schon in der Tür empfangen, um mich und das Kleid zu begutachten. "Es sieht gut an dir aus", sagt Großmutter ohne wirkliche Wärme in der Stimme. Ihre feinen, dünnen Lippen formen ein altes, elegantes Lächeln. "Ja", erwidere ich und spüre, wie eine weitere Fuhr Ehrgeiz durch meinen Körper gepumpt wird. Großvater kräuselt seinen Schnurbart, während seine hellblauen Augen unergründlich bleiben. "Heute musst du schneller sein als die anderen", sagt er schließlich, ohne auf mein Aussehen einzugehen. "Ich verspreche es", entgegne ich fest. Blaze kommt aus dem Staunen gar nicht mehr raus. "Wow, Sky! So sieht eine Siegerin aus. Ich wünschte, ich...-" Doch Großmutter's schneidende Stimme unterbricht ihn. "Du trainierst noch ein paar Jahre, mein Lieber!" Blaze schürzt die Lippen, ehe er an seinen Platz zurückkehrt. Mein Blick fällt auf die Uhr an der Wand zu meiner Linken. "Wir haben nur noch eine Halbestunde!", sage ich überrascht. "Ja. Setz' dich und trink deine Milch. Es stehen Brot und Käse auf dem Tisch." Großvater nickt meinem Stuhl zu. Die Möbel in der Küche sind sehr alt und aus dunklem Holz. In womöglich mühseliger Feinarbeit wurden sämtliche Schnörkel und Muster darin eingraviert. Außerdem mag ich die Anrichte mit der mamornen Platte. Auch die dunklen Fliesen sind schön. Vielleicht mag ich die Küche von allen Räumen sogar am liebsten. Wortlos setze ich mich und greife zu meiner Tasse. In großen Schlucken trinke ich die angenehm warme Milch. "Du bist nicht aufgeregt", meint Großmutter. Es ist keine Feststellung, es ist ein Befehl. Aber wie der Zufall es will, bin ich tatsächlich nicht aufgeregt. Ich schätze, es ist, weil ich weiß was auf mich zukommt. "Nein", sage ich und werfe mein dunkelblondes Haar zurück. Dann beginnt Großvater, mir über die anderen Distrikte und ihre Tribute zu berichten. "In Eins gibt's immer Freiwillige. In Zwei und Vier haben sie auch Akademien, das wisst ihr, deswegen haben sie dort auch Starke, die sich freiwillig melden. Die anderen bestehen aus Schwächlingen, es sei denn, es gibt besonders gute Ausnahmefälle. Aber ich sag euch, eure größte Konkurrenz seid ihr selbst." Ich muss schmunzeln. "Die Ernte hat noch nicht begonnen, Großvater." Blaze kichert in sich hinein. Er ist generell ein äußerst aufgeschlossener, wenn auch ehrgeiziger Mensch. Er hat Sinn für Humor; oft ist er zynisch. Ich liebe ihn auf die Weise, in der wohl jedes Mädchen ihren kleinen Bruder liebt, aber manchmal glaube ich, er nimmt die Dinge auf die leichte Schulter. Zum Glück ist er mit seinen vierzehn Jahren noch ausbaufähig. Stumm kaue ich mein Brot und bis auf den Zeitdruck läuft das Frühstück ab wie gewohnt. Als es um halbzehn schließlich Zeit wird zu gehen, mache ich mit Großmutter rasch den Abwasch. Anschließend gehen wir zu Großvater und Blaze vor die Tür, wo wir überrascht werden von leichtem Nieselregen. "Komisch", murmele ich. "Heute morgen sah es noch nach einem sonnigen Tag aus." "Du bist nicht aus Zucker", sagt Großmutter im Vorbeigehen.

Das Rathaus von Distrikt eins ist riesengroß, dunkel und herrschaftlich. Außerdem ist es gar nicht mal so alt, weil es nach dem Krieg neu gebaut werden musste. Heute hängen dort Flaggen mit dem Wappen des Kapitols und es sind zwei Leinwände aufgehangen. Die Bühne ist noch leer, doch auf dem riesigen Platz stehen die Menschen schon in Scharen. Es ist immer wieder erstaunlich zu sehen, wie viele Leute in Distrikt eins wohnen. Blaze und ich müssen uns von unseren Großeltern trennen, da sie sich zu den Erwachsenen stellen werden. Wir Kinder stehen vorne, jeweils in größeren Gruppen mit Gleichaltrigen. Aber vorher werden wir in die Anwesenheitsliste eingelesen, indem sie uns per Spritze einen kleinen Tropen Blut abnehmen. Es gibt tatsächlich jüngere Mädchen, die Angst davor haben, doch es ist nicht mehr als ein kurzes Ziepen in der Fingerkuppe. Während ich in der Schlange stehe, betrachte ich die unzähligen Friedenswächter, die sich an den Absperrungen entlang säumen und frage mich, welche Menschen sich wohl hinter den weißen Schutzanzügen verbergen. Ganz normale Familienväter aus dem Kapitol oder Männer, die in großen Hallen leben wie Soldaten. Eigentlich kann es mir egal sein, aber ich war schon immer neugierig. "Deine Hand, bitte", sagt eine kühle Frauenstimme und ohne sie anzusehen, tue ich wie geheißen. Meine Augen hetzen über den Platz. Ist Blaze schon bei den anderen Vierzehn-Jährigen? Ich habe keine Zeit ihn zu suchen, denn mit einem leichten Schlag gegen das Mikro signalisiert Meralda Hemmet ihre Ankunft auf der Bühne. Seit zehn Jahren nun begleitet sie die Tribute aus Distrikt eins ab dem Tag der Verlosung, die ebenfalls von ihr übernommen wird. Ihr Erscheinungsbild wird von Jahr zu Jahr grotesker, vor allem, da ich das Gefühl habe, sie wird jünger und nicht älter. Aufgeplusterte, heute pink übermalte Lippen, gelbe Kontaktlinsen und ein weiß geschminktes Gesicht. Zusammen mit der türkisfarbenen Igelfrisur und der kräftigen Sopranstimme machen sie diese Faktoren nicht gerade zu einer Frau, die man ernstnehmen kann. Auch die weiten, bunt gemusterten Gewänder machen es nicht besser. Zur Krönung des Tages hat sie heute sogar einen rosa Spitzenregenschirm dabei. Nun treten auch der Bürgermeister und seine Frau auf die Bühne, gefolgt von den Mentoren diesen Jahres. Es sind Mya McDyar und Shane Fepress, das weiß ich, weil es schon länger feststeht. Trotz der Eile bin ich fast die letzte, die sich zu den Achtzehn-Jährigen gesellt. "Willkommen zur Ernte!", dröhnt Meralda. "Wie ich sehe, habt ihr euch schön gemacht! Wie jedes Jahr habe ich ein kleines Filmchen für euch dabei!" Mit feierlicher Miene lässt sie ihren Blick durch die Menschenmenge tanzen. Der Film ist derselbe wie all die Jahre zuvor. Er handelt vom Krieg, er betont, dass die Hungerspiele die einzige Lösung waren, sich würdevoll aus den Trümmern zu erheben und Kapitol und Distrikte zusammenzuschweißen. Es soll einschüchternd auf uns wirken, für mich jedoch ist es nur noch mehr Ansporn. Ich will diese Ehre, denke ich verbittert, während ich völlig vernarrt auf die Leinwand starre. Plötzlich stößt mir jemand in die Rippen. Aus den Augenwinkeln sehe ich Daisy's schwarze Locken und drehe mich zu ihr um. "Hey", strahlt sie. "Hey." Grinsend streiche eine Strähne hinter mein Ohr, ehe ich sie und ihr rosa Kleid ohne Träger mustere. "Siehst gut aus", stelle ich fest. "Danke." Leichte Röte steigt in Daisy's hübsches Gesicht. "Und du meldest dich heute freiwillig?", fragt sie schüchtern und klimpert die braunen Augen. "Ja", sage ich. "Das werde ich." Derweil dringt die Hymne des Kapitols aus den Lautsprechern und mich überkommt eine ungeduldige Anspannung. Jede Faser meines Körpers verhärtet sich. "Du siehst... wild aus", sagt Daisy vorsichtig. "Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich das hier will", wispere ich verzerrt zurück. "Du hast recht. Das kann ich nicht", antwortet Daisy voller Ehrfurcht. Damit ist unser Gespräch beendet. Auf dem großen Platz ist es mucksmäuschenstill, als der letzte Ton der Hymne verklingt. Wie immer kostet Meralda diesen Moment voll aus, ehe sie fortfährt. "Kommen wir zu unseren Damen." Ich halte zusammen mit der Menge die Luft an. Meine Muskeln zucken, während ich in Position gehe. Meralda zuckt mit den Augenbrauen. "Freiwillige?" Sofort schießt mein Arm in die Höhe. "Hier!", rufe ich voller Inbrunst. Hektisch renne ich nach vorn, schiebe die Menschen zur Seite, weil ich weiß, dass ich nicht die einzige bin, die sich meldet. "Hier!", schreie ich erneut, diesmal kontrollierter und weniger hysterisch. Meralda blickt mich schmunzelnd an. "Da hat es wohl eine ganz eilig." Schon ergreife ich die Stufen zur Bühne und kann mein Glück kaum fassen. Ich hab es geschafft! Dennoch versuche ich kalt und mordlüstern zu wirken, denn ich weiß, dass ich im Moment auf allen Fernsehbildschirmen im Kapitol zu sehen bin. Ich recke das Kinn und straffe die Schultern. So schreite ich auf Meralda zu. "Willst du uns deinen Namen verraten?", fragt sie in seltsamem Singsang. "Sky Hunter", sage ich und freue mich, wie gefährlich meine Stimme klingt. In der Menge erhasche ich einen Blick auf meine Großeltern - sie nicken stolz. Ein Nicken, das ich eisern erwidere. "Um zu den Jungen zu kommen", flötet Meralda fröhlich. "Ich wette, es gibt Freiwillige." Eine Weile passiert nichts, dann kommt irgendwoher ein gegröhltes "Ich!". Kurz darauf erscheint ein dunkelhaariger, schlanker Junge auf der Treppe, der weder stämmig noch stark wirkt. Ich kenne ihn nicht; selbst in der Akademie ist er mir noch nie aufgefallen. Ohne dass Meralda fragen muss, zischt er "Toby Gomez" ins Mikro. Dann treffen sich unsere Blicke. In seinen schwarz-grauen Augen blitzt es, als er gefährlich lächelt. Ich erwidere seinen Blick. Ab sofort sind wir Verbündete.

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