Kapitel 17

Mya wirkt stinksauer, als sie mich nach dem Essen im Salon erwartet. Ihre schwarzen kurzen Haare stehen noch weiter vom Kopf ab als sonst und zwischen ihren Augenbrauen klafft eine steile Zornesfalte. Vorsichtig bleibe ich im Rahmen stehen, nachdem ich die Tür hinter mir geschlossen habe. Mya sieht mich einfach nur an. So verstreichen die Minuten, in denen mein Puls erheblich und unweigerlich nach oben steigt, bis sie endlich etwas sagt. "Ich dachte, du seist schlauer. Aber da habe ich mich wohl getäuscht. Du bist naiv wie ein Kind und ich kann mir nicht vorstellen, dass du die Ernsthaftigkeit deiner Lage jemals verstehen wirst." "Wie bitte?" Die Worte purzeln aus meinem Mund, bevor ich mich zurückhalten kann. Mya lehnt sich vor und legt die Arme auf die Knie. Der rote, samtene Ohrensessel, in dem sie sitzt, scheint ihre zierliche Figur geradezu zu verschlucken. Ich kratze mich im Nacken, gehe zwei Schritte auf sie zu. Der Kronleuchter lässt ihre dunklen Augen gefährlich blitzen. Aber vielleicht ist das auch ihre Wut. "Wann wirst du endlich kapieren, dass das hier kein Spaß ist?", sagt Mya ruhig. Aber ihre Ruhe macht mir mehr Angst als ein Schrei es getan hätte. "Ich weiß nicht, wovon du redest." Ich bin aufrichtig verblüfft, aber Mya lehnt sich mit einem freudlosen Lachen in den Sessel zurück. Ihre Füße tippen auf dem spiegelnden Boden einen unregelmäßigen Rhytmus. "Gott, Sky. Wie klein ist dein Verstand?" Ich kann mich nicht mehr halten. "Verdammt, wovon redest du?" Ich raufe mir aufgewühlt die Haare. Mya mustert mich abschätzend, als prüfe sie, ob ich wirklich nicht verstehe. Dann sagt sie: "Die Hungerspiele sind nicht der Anlass, bei dem du Freunde suchen solltest." "Das weiß ich", nicke ich. "Wenn du es wüsstest, hättest du Toby letzte Nacht nicht in dein Bett gebeten", sagt Mya. Das meint sie also. "Mya, ich kann dir versichern, das war eine Ausnahme", sage ich leise. "Ich habe mich von meinen Eltern so verraten gefühlt. Toby war der einzige, der mir Trost gespendet hat, ich brauchte das. Aber wenn es dich beruhigt, wird es nicht wieder vorkommen." Ich überwinde meine letzte Scheu und setze mich in den zweiten roten Sessel, direkt gegenüber von ihrem. Das Polster fängt mich nur allzu bereitwillig auf; der Samt schmeichelt meiner Haut. Zwischen uns steht ein rundes Tischchen mit nachtblau gefärbter Mamorplatte und goldenen Beinen mit Löwenfüßen. Auf diesen Tisch stützt Mya nun ihre Arme. "Du verstehst es immer noch nicht, oder?" Ich runzele die Stirn. "Was meinst du?" Sie holt tief Luft und schüttelt den Kopf. Ihre bleiche Stirn liegt in Falten. "Dass der Junge dich ausnutzt. Ich habe dir doch erzählt, dass er sich fürchtet. Vor allem vor dir."

"Ja."

"Und jetzt nistet er sich bei dir ein, damit er in der Arena in deinem Schutz steht. Das ist der einzige Grund für seine Freundlichkeit: der reine Überlebensinstinkt." Ich hole zittrig Luft. Es fühlt sich an, als schlüge man mir mitten ins Gesicht, als Mya sich wieder zurücklehnt, ein wissendes Lächeln im Gesicht. "Darüber hast du nicht nachgedacht, was?" Ihre Stimme klingt jetzt gewissermaßen freudig. Schadenfreudig. Ich dachte ja, sie hätte ihren Hass mir gegenüber überwunden, aber da muss ich mich wohl getäuscht haben. "Das stimmt nicht", behaupte ich, obwohl ich genau weiß, dass sie recht hat. Das ist der einzig logische Grund für Tobys Stimmungsschwankungen. Auch Mya weiß, dass ich ihr innerlich rechtgebe, denn ihre Lippen kräuseln sich zu einem Schmunzeln. "Natürlich nicht." Wir beide wissen, dass das pure Ironie ist. Ich verziehe das Gesicht zu einer Grimasse. "Aber warum sollte er so etwas tun?", will ich dann wissen. "Nun, Sky." Mya verschränkt die Hände im Schoß und schlägt die Beine übereinander. "Wir sind hier in den Spielen. Fairness steht ganz unten auf der Liste. Und Toby ist schlau genug, um nach seinen eigenen Regeln zu spielen." Ich schüttele den Kopf, aber nicht, weil ich ihr nicht schon wieder rechtgebe. Ich will, dass es nicht wahr ist. Das üppige Mittagessen bahnt sich seinen Weg zurück nach oben, doch ich schlucke es mühsam runter. In mir ist etwas zerplatzt.

Ich bringe die vier Stunden mit Mya mehr schlecht als recht hinter mich. Mit den Gedanken bin ich nur halb bei der Sache, ganz egal, was das für Folgen haben kann. Ich lasse sie einfach reden. Während sich ihre raue Stimme zu einem fast angenehmen Hintergrundgeräusch zusammensetzt, starre ich aus der Glaswand heraus auf die gläsernen, modernen Gebäude des Kapitols. Ich kann die Sonne nicht sehen, weil es so nebelig ist. Es gibt kein Licht. Das zählt wohl nicht nur für's Wetter, sondern auch für mich. Warum tut Toby das? Ich kenne die Antwort selbst, Mya hat sie mir gegeben: Schutz seiner selbst. Was sonst? Wie konnte ich nur jemals glauben, dass er sich ernsthaft um mich kümmern wollte, als es mir schlecht ging? All die Berührungen, der ganze Trost waren eine Handlung des Egoismus'. Sie waren notwendig, damit ich in seiner Schuld und er in meinem Schutz steht. Ich hätte gleich darauf kommen müssen; ich verstehe die Menschen doch sonst so gut. Was ist nur mit mir durchgebrannt?

Am meisten ärgere ich mich über mich selbst. Mya hat recht, ich bin nicht hier, um Freundschaften zu schließen und mit meiner sentimentalen Phase muss Schluss sein. Jetzt. Ab sofort werde ich wieder das abweisende, gefährliche Mädchen sein, das keine Gefühle zulässt. Ich werde töten, ohne mit der Wimper zu zucken und vor allem eine Person wird dank mir einen legendär qualvollen Tod sterben: Toby. Wäre da nicht das Bündnis...

"Wie soll ich es anstellen?", durchschneide ich Myas Gerede mit scharfer Stimme. Jetzt ist es an ihr, verwirrt zu sein. "Was meinst...-" Ich lasse sie nicht ausreden. "Wie soll ich es anstellen, Toby umzubringen, ohne unsere Verbündeten gegen mich aufzuhetzen?" Ich werfe entschlossen mein Haar zurück und überschlage die Beine. Mya blinzelt überrascht. "Gott sei Dank", stößt sie schließlich hervor. "Endlich wachst du auf." Sie lehnt sich schwach lächelnd vor, aber ich gehe nicht darauf ein. "Wie?", dränge ich. Ihr Lächeln verwandelt sich in ein freundschaftliches Grinsen. "Lass es wie einen Unfall aussehen." Ich nicke langsam, als in meinem Kopf der Hauch eines Planes entsteht. "Es muss nachts geschehen. Wenn die anderen schlafen..." "... und ihr die Wache übernehmt", vollendet Mya nickend. "Du wirst einen Weg finden." "Einen qualvollen Weg." Ich starre auf meine Finger, auf einmal bin ich wild entschlossen, in diesen Spielen einen Senkrechtstart hinzulegen. Die Menschen werden nie wieder einen so gefühlskalten Tribut erleben wie mich. "Sag mir, wie ich mich beim Interview anstellen soll", sage ich und blicke zu Mya auf. Sie kräuselt die Lippen. "Du bist eine Freiwillige aus 1. Verhalte dich auch so: Keine Scheu, Neugier, keine Zurückhaltung, Widerworte. Sei ein freches, selbstbewusstes Mädchen, dem nichts mehr Freude bereitet als Morden und Messer." Ich nicke. "Und wenn Ceaser mich nach Details aus meinem Leben fragt?"

"Dann gib sie ihm." Ich starre Mya an. "Aber meine Eltern..." "Sind tot, ich weiß", sagt Mya bei einer allumfassenden Geste. "Diesen Punkt wirst du ebenso umgehen wie Ceaser. Wir befinden uns in einer brenzligen Lage, das weißt du. Du solltest also keine rebellischen Schlüsselreize auslösen. Verstanden?" Mehr als ein Nicken bringe ich nicht zustande. Vor Aufregung ist meine Kehle ganz trocken und meine Hände schwitzen. Der Countdown läuft.

Clarisse macht aus mir einen anderen Menschen. Ich trage ein Kleid, knielang, trägerlos, mit viel Tüll und Seide, sodass es aufbauscht. Es ist dunkelblau und mit mit glitzernden Granitsplittern versehen, es betont meine weiblichen Reize. Mein Vorbereitungsteam schminkt mein Gesicht mit silbrigem Lidschatten und Kajal, mit schwarzem Mascara, der meine Wimpern um Zentimeter verlängert. Sie pudern mich zu, setzen silberne Highlights und sprühen mein Haar mit weißgoldenem Spray zu, ehe Mania sie durch den Lockenstab zieht und sie mir in Fülle auf den Rücken fallen. Die Schuhe sind nicht ganz so hoch wie die, in denen Meralda mich hat laufen lassen und wesentlich bequemer. Die Farbe ist weiß mit silbernem Muster. Als ich mich im Spiegel betrachte, sehe ich aus wie das Kind vom Mond, von dem Großmutter mir früher erzählte. Die Geschichte vom Kind vom Mond wird bei uns in Distrikt 1 von Generation zu Generation weitergegeben. Sie handelt von einem Mädchen, das auf dem Mond lebt und jede Nacht die Sterne in den Schlaf singt. Der Staub vom Mond, den sie beim Fegen hinunterrieseln lässt, so hieß es, war der Sand für gute Träume. Heute bin ich selber schön wie die Sterne am Himmel, strahlend wie der Mond und unnahbar wie der finstere Nachthimmel. Clarisse, die hinter mir steht, fängt meinen Blick im Spiegel auf. "Gefällt es dir?" Ich drehe mich um meine eigene Achse. "Und wie", sage ich, während ich Spaßes halber einen Knicks vollführe. Der federleichte Tüll schwingt dabei mit. Ich entstamme einer anderen Welt. "Es ist perfekt." Ich drehe mich um und lächele Clarisse zaghaft an. "Danke. All die schrecklichen Sachen, die ich zu dir gesagt habe, tun mir unendlich leid. Ich habe dich unterschätzt." An der Wand geht die rote Lampe an, die ankündigt, dass es Zeit ist, sich auf die Bühne zu begeben. "Das weiß ich doch", sagt Clarisse ruhig, während sie mich zur vertäfelten Tür bringt. Der Raum ist gewissermaßen bescheiden gehalten: Die Wände bestehen aus Holzvertäfelungen, der Boden ist mit einem dicken grauen Teppich ausgelegt, der unsere Schritte dämpft. Ehe ich durch die Tür schreite, atme ich noch einmal tief durch. Ich bin schön. Ich bin bereit. Und ich bin wütend genug, um alle von mir zu überzeugen. Im Grunde kann heute gar nichts mehr schief gehen.

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Sagt mir, was ihr glaubt: Nutzt Toby Sky aus oder ist mehr im Spiel? Wie wird sich das Interview entwickeln? Wie wird die Arena aussehen? Wie gefällt es euch bis hierher? ♥♥♥

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