Kapitel 15
Der Tee in der hauchdünnen, blütenweißen Porzellantasse vor mir hat ungefähr die Farbe des Blutes, das der ermordete Spielmacher verloren hat. Er ist nur wässriger, vielleicht ein bisschen heller. Aber nicht viel. Ich kann ihn nicht trinken. Frustriert schiebe ich die Tasse von mir weg und starre aus dem Panoramafenster hinaus in die Dunkelheit. Ein paar Nebelschwaden haben sich über die Häuser des Kapitols gelegt, aber den Mond sieht man trotzdem sehr klar. Er ist eine schmale, zarte Sichel, gebogen, gekippt.
Die Einzeltrainings wurden trotz des Vorfalles durchgeführt. Natürlich. Der ganze Plan ist so festgefahren und alt, Präsident Snow so vernarrt in die Spiele, dass nichts, nicht einmal ein Mord, die Spiele um auch nur eine Minute verschieben kann. Sie wissen nicht, wer es getan hat. Es waren Maskierte, ausgezehrte Menschen, nicht aus dem Kapitol. Vielleicht Menschen aus dem Saum irgendeines Distriktes. Menschen, die nicht zufrieden waren mit dem, was man uns schenkt für Frieden und Sicherheit. Ich kann sie nicht verstehen. Wie können sie so egoistisch sein und für so viel Aufruhr sorgen, in einem System, das uns alle am Leben hält, nur weil sie arm sind oder Kinder in den Spielen verloren haben? Wer auch immer es war, sie sind tot. Zu recht. Ich schniefe und nehme nun doch einen Schluck Tee. Die Punktevergabe ist in den Hintergrund gerückt, aber Toby und ich haben beide zehn Punkte. Auch unsere Verbündeten haben gut abgeschnitten, jeder neun oder zehn. An den Rest erinnere ich mich nicht, nur daran, dass die Kleine aus 12 eine sehr niedrige Punktzahl hatte, eine vier etwa. Die Hexe aus Distrikt 7 hat eine 8. Ich fürchte mich nach wie vor vor ihr, jetzt jedoch sorge ich mich um weitere mögliche Rebellen, die alles zerstören könnten. Das ganze Kapitol ist in Aufregung und Mya und Shane sind auf eine spontan veranstaltete Versammlung gegangen. Vielleicht sind wir schlauer, wenn sie zurückkehren. Wer weiß das schon?
Toby tunkt gedankenverkoren einen Keks in seinen Tee und isst ihn kaum hörbar. Sein zotteliges, schwarzes Haar fällt ihm ungekämmt in die hohe Stirn, ist vom Schweiß verklebt. Ich sehe, wie sich die Muskeln und Sehnen in seinem rechten Arm anspannen, als er das nussige Gebäckstück in den Händen zerdrückt. Wir sind allein, abgesehen von den Avoxen, die, unfähig zu sprechen, in den Ecken des Raumes stehen. Clarisse und Samson sind schlafen gegangen, aber wir sind neugierig auf das, was Shane und Mya berichten werden. Schweigend beobachte ich Tobys dunkle kleine Augen in den kantigen Zügen. Sein Gesicht ist nicht schön, zu eckig, aber es ist faszinierend, wie offen sich seine Gefühle darin widerspiegeln. Es ist so leicht, ihm ansehen zu können, was in ihm vorgeht. Wie töricht von ihm, nicht besser aufzupassen. Trotzdem bekomme ich vor lauter schlechtem Gewissen ganz schwitzige Hände. Ist es falsch von mir, immer noch wütend auf ihn zu sein? Wo wir doch eh in zwei Tagen in den Kampf ziehen, in dem wir einander zur Seite stehen wollen? Mich nerven Leute ja selbst, wenn sie nachtragend sind, ich sollte mich also erwachsen und reif zeigen. "Ich möchte dir vergeben, Toby." Er blinzelt mich überrascht an und ich verziehe keine Miene. "Danke", sagt er heiser und perplex. Ich bringe ein verkrampftes Lächeln zustande. "Ich sollte mich auch entschuldigen. Ich hätte nicht so überreagieren sollen. Es tut mir leid", füge ich leise hinzu, während ich meine Hände falte. So, jetzt ist es raus. War gar nicht so schwer, wie ich gedacht habe, im Gegenteil: Ich fühle mich leichter. Tobys Mundwinkel zucken, als kämpfe er gegen ein Lächeln an. Ein sehr mieser Versuch, wie sich bei der schmunzelnden Grimasse herausstellt, die am Ende in seinem Gesicht erscheint. "Das bedeutet mir wirklich viel", sagt er leise, beugt sich vor und legt seine langen Finger um meine kleinen Hände. Es ist ein eigenartiges Gefühl, aber ich lasse es zu. In dem Moment, in dem ich den Mund auf mache, um etwas zu sagen, schwingt die Tür auf. Shane und Mya kommen in den Raum gerauscht, er mit müden Augen, sie mit hüpfenden Schritten. Ich spüre das Blut in meinen Ohren rauschen, als ich mich vorlehne. Toby nimmt seine Hände auch jetzt nicht von meinen, sieht aber dennoch neugierig aus. Er runzelt die Stirn. "Und? Gibt es da draußen weitere Aufständische? Sind wir in Gefahr?" Ich kratze mich mit schwitzigen Fingern an der Stirn. Shane lässt sich seufzend auf einen Stuhl sinken, während Mya sich mit verschränkten Armen gegen die schwarze Tischplatte lehnt. "Es gibt Aufständische, aber die haben sie im Griff. Spätestens morgen Mittag sind sie tot oder inhaftiert", sagt sie und in ihren Augen blitzt so etwas wie Enttäuschung auf. "Du willst, dass die Rebellen gewinnen, oder?", hauche ich mit großen Augen. Mya zuckt erst mit den Schultern, dann nickt sie. "Möglich. Das Kapitol ist schon immer so überlegen, es muss doch mal in die Schranken gewiesen werden! Aber dieser Angriff war unüberlegt und naiv. Gegen die Truppen des Kapitols können diese armen Leute nichts ausrichten." Bei der Schärfe ihrer Stimme werden wir alle hellhörig. Ich starre auf den Tee in meiner Tasse, dessen feiner Dampf immer mehr abflaut. Toby räuspert sich. "Wissen sie, aus welchem Distrikt die... Mörder des Spielmachers kamen?" Seine Frage schwebt erst mal durch die Luft, bevor unsere Mentoren auf sie reagieren. Shane atmet zitternd ein, legt die Augen nieder. "1", sagt er schließlich und ich schnappe nach Luft. Tobys Finger krallen sich geradezu um meine Hände, doch das merke ich kaum. Eine merkwürdige Scham breitet sich über mir aus, eine Scham über meinen Distrikt. Wie konnten sie uns nur so hinstellen? "Das ist sowas von demütigend!", stoße hervor. "Sie wollten nur helfen", hebt Mya an, ich lasse sie jedoch nicht aussprechen. "Helfen? Inwiefern? Indem wir Sponsoren verlieren und alle uns komisch beäugen werden, weil unsere Leute einen Spielmacher getötet haben? Wir vertreten Distrikt 1, sie werden die Rebellen automatisch mit uns in Verbindung setzen!" Ich schäume beinahe vor Wut. Was, wenn nun alles hinüber ist? Ich mag gar nicht daran denken. Tobys Finger krallen sich nicht länger in meine Haut sondern streicheln beruhigend über meinen Handrücken, während er mich mitleidig ansieht. Shane massiert sich mit verzerrtem Gesicht die Schläfe. "Kennen wir diese Leute?", fragt Toby und schluckt. Ich halte die Luft an, für alles gewappnet. "Du nicht", sagt Mya kühl. "Sky schon." Der Tisch schwankt vor meinen Augen, durch meine Venen pumpt Adrenalin. Jetzt bin ich diejenige, die sich in Tobys Hände krallt. Er verzieht keine Miene. "Wer?", stoße ich hervor, am Rand des Verrücktwerdens. Mya umrundet den Tisch, um meine Schultern zu massieren und Shane schaut mich beschwörend an. "Was?", frage ich ungehalten, Skepsis in der Stimme. "Schsch." Mya fährt durch mein Haar. Noch nie ist sie so mütterlich mit mir umgegangen, also was geht hier vor sich? "Sagt mir sofort, wer es war!" Meine Stimme soll fest klingen, aber sie wackelt verdächtig. Ich schlucke. In Gedanken gehe ich meinen Bekanntenkreis durch: Da sind natürlich meine Großeltern und Blaze, aber die sind so stolz auf Panem und auf mich, dass sie mich niemals so demütigen würden. Wer noch? Daisy, meine Freundin, ist zwar kein Fan der Hungerspiele, aber viel zu liebenswürdig, um einen Menschen zu töten. Tja, und das war's dann auch schon wieder, bis auf sämtliche Jugendliche, die ich aus der Akademie kenne, aber auch die schließe ich aus. Shane holt tief Luft und nickt Mya kaum merkbar zu. "Es sind waren deine Eltern", sagt sie ohne große Schuldgefühle in der Stimme. Ich fühle mich, als hätte man mir einen Schlag mitten in die Magengrube verpasst. Wie soll ich reagieren? Seit ich sechs bin und mit Blaze zu meinen Großeltern gezogen bin, die die Erziehung übernahmen, weil unsere Eltern zu arm waren, habe ich sie nicht mehr gesehen. Nur an seltenen Tagen im Jahr. Wir stehen uns schon lange nicht mehr nahe. Aber es ist ein komisches Gefühl, diese Menschen verloren zu haben. Ich kann sie nie mehr sprechen, sie sind tot. Keine Abschiedsworte, keine Umarmung. Sie sind einfach von uns gegangen. "Warum haben sie das getan?" Meine Stimme ist tonlos. Seufzend lässt Mya von meinen Schultern ab und setzt sich neben mich. "Sie sind tot, Sky. Sie werden uns ihre Beweggründe niemals erklären können. Aber ich glaube, sie sind für dich gestorben, weil sie... dir ein Zeichen geben wollten." "Was für ein Zeichen?" Ich verstehe nicht. Toby streichelt wieder meine Hände, während Shane an Myas Stelle fortfährt. "Als Zeichen der Liebe. Ich schätze, sie wollten dich retten." Mir entfährt ein raues, freudloses Lachen. Das ist doch unnatürlicher Quatsch! "Indem sie einen Spielmacher töten?" Jetzt übernimmt Mya wieder:"Wer weiß, wieviele sie getötet hätten, wenn nicht sofort Friedenswächter herbeigeeilt wären. Vielleicht wollten sie Seneca töten, oder wenigstens genug von ihnen, um die Spiele zu verhindern." Ihre Worte ergeben einerseits Sinn, andererseits nerven sie mich. Wieso wollen meine Eltern die Spiele verhindern? Glauben sie, dass ich so schlecht bin, dass ich nicht überleben kann? Der Gedanke versetzt mir einen Stich. "Nichts und niemand kann die Spiele verhindern", sage ich. Die Mentoren nicken. "Da ist noch was...", sagt Shane und Mya nickt ihm ermutigend zu. "Präsident Snow hat über deine Eltern erforschen lassen, um ihre Handlungen zu analysieren. Es hat sich herausgestellt, dass deine Mutter schwanger war." Mich durchfährt ein eisiger Schauer, Toby holt tief Luft. "Es tut mir so leid", murmelt Shane kopfschüttelnd. "Musste das Kind sterben?", frage ich hohl. Ein Geschwisterchen... ob es noch lebt? Konnten sie es retten? Obwohl... warum sollten sie schon? "Deine Mutter hat entbunden, bevor sie und dein Vater sich auf den Weg gemacht haben. Dem Baby geht es gut. Es lebt bei deinen Großeltern", sagt Mya. Mir fällt ein Stein vom Herzen. "Das ist gut." Ich fühle mich schwach und ausgelaugt. Der Tag war anstrengend und lang, die Ereignisse nervaufreibend. Jetzt sehne ich mich nur noch nach Schlaf, doch da habe ich die Rechnung ohne Shane und Mya gemacht. "Hört zu", sagt Shane, "morgen beim Interview wird Ceaser Flickerman die Stimmung etwas auflockern und den Mord des Spielmachers unter den Tisch fallen lassen. Wir wollen ja nicht noch mehr Unruhen stiften. Aber hinter den Kulissen wird man euch nach diesem Ereignis fragen, euch womöglich damit aufziehen. Geht diesen Fragen aus dem Weg, aber grenzt euch nicht ab. Lasst euch nicht provozieren, hört ihr? Ihr müsst über dem ganzen stehen." "Ja, ja", sage ich nur, weil sich alles in meinem Kopf dreht. Hinter meinen Schläfen pocht es. "Wir werden keine weiteren Schwierigkeiten bereiten", pflichtet Toby mir bei. Es tut gut, nach all den Hiobsbotschaften auch mal seine warme Stimme zu hören. Shane seufzt und verzieht sein hübsches Gesicht. "Nur noch morgen", sagt er, als sei das eine Aufmunterung. "Danach könnt ihr euch in die Arena flüchten und bekommt von alldem nichts mehr mit. Und wenn ihr wiederkommt, ist die Aufregung schon wieder vergessen." Ich schließe die Augen; es klingt so beruhigend. Ich kann gar nicht abwarten, dass die Spiele endlich beginnen. "Wir gehen jetzt schlafen", sagt Toby bestimmt, ohne meine Hand loszulassen. "Den Rest besprechen wir morgen." Als ich die Augen aufschlage, nicken Mya und Shane nur. Toby hilft mir auf und legt mir beim Gehen einen Arm um die Hüfte, als merke er genau, wie mulmig mir zumute ist. "Danke", flüstere ich, nachdem wir den Speisesaal verlassen haben. "Gerne." Toby führt mich sicher und sanft bis zu meiner Tür. Als es Zeit ist, in mein Zimmer zu gehen, treten mir Tränen in die Augen. Allein bei dem Gedanken an die Dunkelheit und die Stille, die mich gleich umhüllen wird, zieht sich meine Brust schmerzlich zusammen. Der Verlust meiner Eltern ist zu frisch. Ich werde an sie denken müssen und ganz allein sein, so weit weg von Zuhause. Ich kann das nicht, ich brauche Toby. Ich schlinge meine Hand fester um seine. "Ich.. ich kann das nicht. Bleibst du bei mir? Ich werde dich auch nicht bedrängen oder so." Ich habe gehofft, hier im dunklen Flur könne er meine Tränen nicht sehen, aber meine Stimme ist so erstickt, dass ich es nicht länger zurückstecken kann. Mir entweicht ein leises Schluchzen. "Natürlich", sagt Toby ruhig. Ich ziehe ihn mit auf mein Zimmer und er legt sich auf mein Bett und wartet, ohne einzuschlafen, bis ich im Bad fertig bin. Das rechne ich ihm hoch an. Als ich schließlich unter meine Decke steige und mir immer noch Tränen über die Wangen laufen, zieht er mich an sich. Zögerlich legt er einen Arm um meinen Bauch und meine Taille, auf dem anderen ruht mein Kopf. Ich spiele schweigend mit den Knöpfen an seinem Hemd, bis meine Lider immer schwerer werden. Kurz bevor ich einschlafe, drückt Toby mir einen Kuss auf's Haar.
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Drama baby, drama :D ❤
Was sagt ihr dazu? Würde mich sehr über Kommis freuen ☺:D
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