9 - Kopf oder Zahl?
Mehrere Stunden hatte Rose nun schon in der Wohnung der jungen Frau verbracht. Mit jedem Kollegen, der gegangen war, hatte sich auch die Hektik Stück für Stück gelegt, die sich nach dem Überfall und mit dem Eintreffen des großen Polizeiaufgebots breitgemacht hatte. Inzwischen waren die Tränen bei der Betroffenen getrocknet, die ihr das makellose Gesicht verquollen hatten, und ihre Schockstarre schien verschwunden. Seit Rose mit ihr allein war, war wieder etwas Ruhe eingekehrt. Nichts hätte mehr vermuten lassen, dass sich hier heute jemand Zugang verschafft und Frau Schöne angegriffen hatte.
Rose hatte die Zeit genutzt um nachzudenken. Bevor seine Kollegen gegangen waren, hatte man ihm berichtet, dass Janine Schöne nicht nur die Tochter des Landrats war, sondern auch eine Influencerin. Als ihr Beruf genannt worden war, hatten sämtliche Alarmglocken in Roses Kopf gleichzeitig geläutet. Er hatte eine mögliche Parallele zu seinen Ermittlungen zum Mord an Jessica Meininger entdeckt - den Ermittlungen, die nun Engelhardt und Böhm weiterführen würden, während er das Kindermädchen spielen musste.
Eine würzburger Influencerin wurde entführt und ermordet und nur wenige Tage später, gab es einen Angriff auf eine weitere Influencerin aus Würzburg! War das nur ein dummer Zufall, oder steckte ein Muster dahinter? Hatte der Mörder von Jessica Meininger es nun auf Janine Schöne abgesehen? Oder gab es einen anderen Zusammenhang zwischen den beiden Frauen, den die Polizei noch nicht entdeckt hatte? Eines war klar: Er musste sie hier schleunigst wegschaffen!
„Haben Sie Ihre Sachen gepackt?", fragte Rose, der ungeduldig im Wohnzimmer wartete. Dort hatte er gehört, wie Janine aufgeregt Schranktüren geöffnet und geschlossen hatte. Auch die Reisverschlüsse von Koffern und Taschen waren zu hören gewesen.
„Ja", antwortete Janine, „Ich wusste ja nicht wohin es geht, also habe ich mich auf verschiedene Möglichkeiten eingestellt." Janine kam aus dem Schlafzimmer und zog drei große und schwere Koffer hinter sich her. Sie trug auch noch eine Handtasche und einen Rucksack. Sie sah aus, als wäre sie bereit für eine monatelange Weltreise.
Rose machte große Augen. „Wir werden hoffentlich nur für ein paar Wochen verschwinden. Es war nicht die Rede davon, Ihren gesamten Hausstand umzuziehen!", kommentierte er den Anblick von Janine und ihrem üppigen Gepäck.
„Für einen Polizisten, haben Sie ganz schön Humor!", konterte Janine.
„Das höre ich selten...", erwiderte Rose und lächelte gezwungen, „eigentlich hat das noch nie jemand über mich gesagt."
„Nun gut, jetzt verraten Sie mir doch bitte endlich wohin wir gehen."
„Das weiß ich noch nicht. Am besten wäre es wohl, wenn wir das Land verlassen würden."
„Aber Sie sollten doch wissen wohin, wir wollen doch jetzt los!" Entgeistert blickte Janine zu Rose.
„Wir lassen das den Zufall entscheiden, nur so können wir ausschließen, dass uns jemand verfolgt. Wenn wir selbst nicht wissen, wo wir morgen sein werden, dann kann es auch niemand anderes wissen, geschweige denn uns zuvor kommen."
Janine blickte Rose nur fragend an. Ratlosigkeit stand ihr in das makellose Gesicht geschrieben. Sie hatte seine Ausführungen offenbar nicht verstanden.
„Okay, sehen Sie, wir lassen eine Münze entscheiden", erklärte Rose und kramte ein Eurostück aus seiner Hosentasche, „Kopf steht für Längengrad, Zahl für Breitengrad."
„Okay", sagte Janine zögerlich und blickte fragend auf das Zahlungsmittel.
Rose warf die Münze in die Luft und fing sie wieder auf. Er schaute auf das Ergebnis und sagte: „Kopf! Also gleich nochmal. Kopf steht für Norden, Zahl für Süden."
„Süden fände ich gut, am besten irgendwo am Strand. Da lässt sich prima Content produzieren."
„Ich denke, Sie sollten Ihre Arbeit vorübergehend einstellen. Auf keinen Fall dürfen Sie unseren Standort verraten, sonst ist das hier alles sinnlos", mahnte Rose und wirkte dabei belehrend wie ein Oberlehrer. Dann warf er die Münze erneut.
„Zahl", kommentierte er das Ergebnis, „wir fahren also nach Süden."
"Hey, ab in den Süden, der Sonne hinterher!", begann Janine albern zu singen. Ihr war sichtlich anzusehen, dass sie sich über diese Entscheidung freute und ihr Verhalten stand im krassen Kontrast zu dem, das sie noch gezeigt hatte, als er ihre Wohnung betreten hatte. Von der Verheulten, die vorhin noch auf diesem Sofa gesessen hatte, war nichts mehr zu erkenne! Rose war sich nicht sicher ob sie die Gefahr dieser Situation wirklich begriff - dies würde kein Kurzurlaub werden, sie würde sich verstecken müssen, vermutlich um einem grausamen Schicksal wie dem ihrer Social-Media-Kollegin zu entgehen. War ihr das denn nicht bewusst, oder verdrängte sie das nur?
„Frau Schöne, ich möchte, dass Sie sich das gut überlegen", sagte Rose ernst. „Dies ist keine einfache Situation. Wir werden uns verstecken müssen und dürfen niemandem sagen, wo wir sind. Das bedeutet, dass Sie auch Ihre Arbeit einstellen müssen und sich von Ihren Freunden und Ihrer Familie verabschieden müssen." Er sah ihr fest in ihre blauen Kulleraugen, die noch mit kleinen roten Rändern von den Strapazen des Tages zeugten. Er wollte, dass sie die Ernsthaftigkeit der Lage verstand.
Janine stoppte ihr Singen und blickte Rose ernst an. „Ich weiß, dass es ernst ist", sagte sie. „Aber ich werde mein Leben nicht durch Angst bestimmen lassen. Ein Leben in Angst ist nicht lebenswert! Ich vertraue Ihnen, dass Sie mich beschützen können. So eine Situation möchte ich nie mehr erleben."
„Ich werde mein Bestes tun", sagte Rose. „Aber Sie müssen auch mithelfen. Sie müssen meinen Anweisungen folge leisten und sich an unsere Regeln halten. Die Regeln mache ich und sie lauten: Keine Anrufe, keine Nachrichten, keine Posts, keine Fotos sobald wir aufbrechen! Sie werden die Vorzüge der Privatsphäre schon noch zu schätzen wissen, sobald Sie sie erstmal wieder zurückerlangt haben."
„Ich werde es tun", versprach Janine und hob die Brauen, sodass Rose letzte Zweifel behielt. Er wusste nicht, ob sie es durchhalten würde. Er wusste aber auch nicht, ob er es durchhalten würde, den Personenschützer für die verzogene Göre eines Politikers zu spielen, während Böhm den Intrigen von Engelhardt ausgesetzt war.
Rose seufzte. „Gut", sagte er. „Dann lassen Sie uns noch kurz in meiner Wohnung vorbeischauen und dann losfahren." Er wollte noch ein paar Sachen holen, die er brauchen würde.
*📱*
Rose steuerte einen silbernen Kombi die Einfahrt der Tiefgarage, die zu dem Wohnkomplex gehörte, in dem er lebte. Er war sehr froh, dass ihm die Kollegen diesen Wagen überlassen hatten, denn sein Porsche hätte unmöglich genügend Stauraum für das gesamte Gepäck von Frau Schöne bieten können. Außerdem war der Wagen, so sehr er ihn auch liebte, viel zu auffällig.
„Ich gehe kurz nach oben und packe ein paar Sachen. Wird nicht lange dauern", sagte Rose und steuerte den Wagen auf den Stellplatz, der zu seiner Wohnung gehörte.
„Oh, lassen Sie auch die Klima an und machen mir das Radio an?", entgegnete Janine frech, „Ich komme mit Ihnen!" Fordernd blickte Sie Rose tief in die Augen. Er wusste sofort, dass er diese Diskussion nicht führen wollte, da sie langwierig und unnötig erschöpfend sein würde.
Schweigend standen die beiden nebeneinander im Aufzug. Da die Fahrt ins Penthaus entsprechend lange zog, zog sich auch dieser unangenehme Augenblick entsprechend lange. Rose atmete erleichtert auf, als der Aufzug das oberste Stockwerk erreichte und die beiden seine Wohnung betraten.
„Oh wow, das nenn' ich mal eine Aussicht! Wie viel verdient man bei der Kriminalpolizei?" Janines Begeisterung für die Wohnung ließ sich nur schwer verbergen.
„Es ist zu wenig, glauben Sie mir das", antwortete Rose ebenso knapp wie ausweichend.
„Und wie können Sie sich dann diese wunderschöne Wohnung leisten?"
„Ich habe geerbt."
Janine eilte zur Fensterfront im Wohnzimmer und blickte hinüber ins Steinbachtal, wo sie versuchte das Haus auszumachen, in dem sie lebte. Das Haus, in dem ihr heute Morgen dieses Unheil zugestoßen war. Sie schluckte und wandte sich wieder Rose zu.
„Wenn man durch Erbe an so eine tolle Wohnung kommt, dann kann ich es gar nicht erwarten", scherzte Janine.
„Wenn Sie mal erben, gehört Ihnen wahrscheinlich der gesamte Landkreis. Da brauchen Sie sicherlich nicht neidvoll auf eine Eigentumswohnung in der Sanderau blicken."
„Ihre Wohnung bietet zumindest eine einzigartige Aussicht auf die Stadt. Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich ein paar Selfies schieße oder vielleicht eine Story drehe?" Janine hatte ihr Handy bereits gezückt und prüfte die idealen Lichtverhältnisse.
„Erinnern Sie sich an die Regeln, die wir dazu aufgestellt haben? Wenn Sie das tun, muss ich Ihnen leider den Hals umdrehen."
„Sie haben diese Regeln gemacht", sagte Janine frustriert und steckte das Telefon wieder weg.
„Ich gehe jetzt und packe ein paar Sachen. Machen Sie es sich doch bequem", erklärte Rose ehe er hinter einer Tür ins Schlafzimmer verschwand.
*📱*
Schon eine ganze Weile saß Janine herum und ihre Blicke wanderten durch das Wohnzimmer von Rose. Seine Wohnung war beeindruckend, allerdings war sie kaum eingerichtet. Dieser Mann schien kaum Möbel zu haben! Wenn man es drauf ankommen lassen müsste, würde wahrscheinlich alles, was sich hier in der Wohnung befand unten in den Kombi passen und die Wohnung wäre leer. Dabei hatte sie so viel Potential! Janine stand auf und schritt langsam durch die Wohnung. Sie überlegte wie man dieser kargen Wohnung Leben einhauchen könnte. Ein paar farbige Vorhänge hier und ein elektischer Kamin dort. Vielleicht ein geschmackvolles Kunstwerk an der Wand... Janine bahnte sich ihren Weg durch die Wohnung und vor ihrem geistigen Auge erblickte sie eine stilvoll eingerichtete, exklusive Penthauswohnung. Irgendwann fand sie sich an der Tür, die zum Nachbarzimmer führte. Sie hatte die Klinke bereits in der Hand. Ein kurzer Gedanke, dass es Roses Privatsphäre verletzen könnte, wenn sie ungefragt in dieses Zimmer ginge, kam in ihr auf, doch die Neugier war zu stark. Sie ging in das Zimmer, welches ein Arbeitszimmer zu sein schien. Ein Schreibtisch stand darin. Eine Wand war komplett mit Zeitungsberichten vollgehangen. Einzelne Berichte waren miteinander mit einem roten Wollfaden verbunden. Janine war überrascht so etwas vorzufinden. Janine konnte kein Muster in den Zeitungsausschnitten erkennen, außer dass es mehrmals um einen Mann namens Reinhold Palmer ging, der scheinbar ein Verbrechen begangen und flüchtig war.
„Ich habe fertig gepackt. Wir können jetzt los." Drang es vom Wohnzimmer in das Arbeitszimmer hinein.
Janine ignorierte die Worte. Sie war fasziniert von der wundersamen Collage an der Wand und versuchte sie zu verstehen.
„Frau Schöne? Ach, hier sind Sie!"
„Was tun sie hier?", fragte Janine mit großen Augen.
„Das? Ich schätze, Sie würden das Home Office nennen."
„Ist das denn normal bei der Kripo?"
„Ich schätze, nicht viele Kommissare würden das tun."
„Und wieso tun Sie es dann?"
„Ich denke, wir sollten jetzt gehen. Vor uns liegt eine lange Fahrt."
*📱*
Als Rose mit dem Kombi über die A9 in Richtung München bretterte, kam Janine Schöne in den Genuss von Roses rasanten Fahrstil. Er gab Vollgas, als würden sie verfolgt werden, überholte die anderen Autos und wechselte geschickt die Spuren. Wäre er nicht bei der Polizei gelandet, wäre er vermutlich Rennfahrer geworden, mutmaßte Janine.
Sie blickte nachdenklich aus dem Fenster und betrachtete, wie die Welt an ihr vorbeiflog. Die Landschaft war grün und hügelig, mit vereinzelten Dörfern, grauen Fabriken, Feldern und Hopfenplantagen. Heute hatte sich ihr Leben schlagartig geändert. Sie war nun auf dem Weg in ein neues Leben. Eines, das sie sich nicht ausgesucht hatte. Sie fragte sich, wo sie wohl landen würde.
„Was glauben Sie, wollte dieser Mann von mir?", fragte sie schließlich Rose, um die Stille abseits des Motorenlärms zu durchbrechen.
„Ich fürchte, der führte absolut nichts Gutes im Schilde. Sie hatten großes Glück, dass Sie entkommen konnten. Es gab erst kürzlich einen ähnlichen Vorfall. Wir werden schnellstmöglich eventuelle Verbindungen prüfen."
„Sie meinen sicher Jess Mess. Es ist wirklich schlimm was ihr zugestoßen ist! Ich habe sie mal auf einem Event getroffen. Eine starke und selbstbewusste Frau, die wusste was sie wollte. Sie war mir auf Anhieb sympathisch. Gibt es denn noch keine heiße Spur?" Janine kannte Jessica Meininger nur flüchtig, aber sie hatte sie bewundert. Sie hatte eine besondere Aura ausgestrahlt. Immer top gestylt, geschminkt, und gekleidet. Dazu noch ein sympathisches Lächeln aufgesetzt. Sie wirkte immer sowohl seriös, als auch authentisch. Sie war das, was Janine gerne sein würde. In vielen Dingen eiferte sie ihr nach.
„Noch nicht. Aber ich sehe durchaus eine Parallele zu dem Versuch Sie zu entführen."
„Sie denken, der Mann wollte mich entführen?", fragte Janine erschrocken. Sie zitterte bei dem Gedanken. Das grausame Schicksal, das Jess Mess erlitten hatte, war beängstigend. Sie erinnerte sich an den Überfall, an den Schmerz, als der Mann sie gepackt hatte. Sie wollte sich gar nicht ausmalen, was er ihr angetan hätte, wenn sie nicht entkommen wäre.
„Ich denke nur laut. Ich möchte sie nicht in Panik versetzen, aber ich will Sie auch nicht anlügen", erklärte Rose.
„Und was für Parallelen wollen Sie erkannt haben?", hakte Janine akribisch nach. Sie wollte noch mehr wissen, sie wollte verstehen, warum sie in Gefahr war. Jede Info war wichtig, auch wenn es ihr Angst machte. Ja, sie hatte Angst, aber sie musste jetzt beweisen, dass sie eine toughe Frau war.
„Es muss einen Grund geben, wieso der Mann sie ausgewählt hat. Ich weiß nur noch nicht welchen. Naja, wollen wir einmal überlegen: Sie sind etwa gleich alt, stammen beide aus der Region und arbeiten ebenfalls als Influencerin...", begann Rose mit seiner Spekulation. „Was macht man eigentlich genau als Influencer?"
Janine lächelte. Sie liebte ihren Job, da es kein gewöhnlicher 0815-Schnarchjob war, wie ihn jeder Hinz und Kunz ausüben konnte und sie liebte es darüber zu erzählen. „Meine Hauptaufgabe als Influencer besteht darin, Videos sowie Bilder auf verschiedenen Social-Media-Plattformen zu posten und damit meine Follower an meinem Leben teilhaben zu lassen. Ich zeige, wie mein Tag aussieht, für was ich stehe, was mich begeistert und dementsprechend auch meine Persönlichkeit ausmacht. Man präsentiert also quasi seinen gesamten Lifestyle sozusagen. Dabei kommt es immer darauf an, so authentisch und interessant wie möglich zu sein sowie das Vertrauen seiner Fans zu gewinnen, die man auf diese Weise möglichst langfristig an sich binden kann." Janine sprach mit Begeisterung und Leidenschaft. Sie war stolz auf ihre Arbeit und das, was sie erreicht hatte. Der Einstieg in diese Unterhaltung und das grausame Schicksal ihrer Social-Media-Kollegin war schnell vergessen.
„Okay", antwortete Rose kurz und knapp. So ganz schien er ihre Ausführungen nicht verstanden zu haben - oder zumindest wieso man damit seinen Lebensunterhalt verdienen konnte. „Und das machen Sie alles selbständig?", fragte er dann.
„Für das perfekte Foto oder Video hole ich mir oftmals Unterstützung von einem Bekannten, der jede Menge professionelles Equipment hat und weiß, wie er mich ins rechte Licht rückt. Bei größeren Influencern, die einen gewissen Status erreicht haben, gibt es dann unter Umständen sogar ein ganzes Team, das mit Rat und Tat unterstützt. Ganz so weit habe ich es aber leider noch nicht geschafft."
Rose schüttelte ungläubig den Kopf. „Es tut mir ja wirklich leid, aber für mich klingt das irgendwie nicht nach einem Beruf. Vielleicht bin ich da einfach zu altmodisch veranlagt."
„Es ist anders, als die meisten Berufe, das kann gut sein", gestand Janine. Sie hatte das Gefühl, dass Rose ihren Job nicht ernst nahm und sie unterschätzte. „Aber seien Sie versichert, dass das ein ganzer Sack voll Arbeit ist! Man postest nicht einfach nur spontane Bilder oder Videos - ganz im Gegenteil! Die meisten meiner Produktionen bearbeite ich mehr oder weniger aufwändig, bevor ich diese im Netz veröffentliche. Je nach Medium nutze ich dazu Schnitt- oder Bildbearbeitungsprogramme. Bei Videos achtet man beispielsweise darauf, ein möglichst ansprechendes Thumbnail, also Vorschaubild, zu wählen, das zum Titel und zum Inhalt des Videos passt. Man muss jeden Tag mehrere Fotos oder Stories hochladen, um bei seinen Followern stets präsent zu sein. Tut man das nicht, gerät man schnell in Vergessenheit, die Follower wandern ab und man verliert seine Reichweite. Das Internet ist eben sehr schnelllebig."
„Gut, ich verstehe nun, was Sie tun, aber wie lässt sich damit Geld verdienen?"
„Hat man auf den verschiedenen sozialen Netzwerken bereits mehrere tausend Follower, kommen möglicherweise Unternehmen auf einen zu, die eine Kooperation eingehen möchten. Dabei ist man vor allem interessant für Firmen, wenn man sich auf bestimmte Bereiche wie beispielsweise in meinem Fall Mode, Fitness und Ernährung spezialisiert. Denn so können die potenziellen Kooperationspartner davon ausgehen, dass man die geforderte Zielgruppe anspricht und die Fans sich tatsächlich für diese Sparte begeistern können - die Werbung ist hier also besonders effizient platziert. Teilweise bekomme ich gleich mehrere Anfragen mit unterschiedlichen Wünschen an einem Tag. Eventuell geht es auf Instagram nur um eine Story, manche möchten auch in einem Video auf YouTube erscheinen. Bei der Auswahl der Werbepartner geht es mir insbesondere um Authentizität. Mir ist es wichtig, dass ich voll und ganz hinter den Produkten stehe, die ich bewerbe. Was mich nicht überzeugt oder ganz allgemein nicht zu meinen Überzeugungen passt, das lehne ich dann dankend ab."
„Handhabt das jeder Influencer so wie Sie?"
„Leider nein. Manche wollen auch einfach nur maximal viel Geld mit geringem Aufwand verdienen und nehmen nahezu alles an. Das würde ich aber nicht raten, denn die Community ist ja nicht dumm! Sowas fällt leicht auf und erzeugt Missgunst. Ein Shitstorm ist dann meist nicht mehr weit!"
„Shitstorm?"
„Ja, so ein Shitstorm hat eine ganz gefährliche Dynamik: Es beginnt meist damit, dass irgendjemandem etwas nicht passt und das völlig emotional herausposaunt. Mehrere kritische Kommentare schaukeln sich dann gegenseitig auf und dann prasseln die Hasskommentare nur so auf einen ein. Da braucht man dann wirklich ein sehr dickes Fell, damit man das aushält!"
„Verstehe. Dann ist es wohl besser, seine Werbepartner mit Bedacht auszuwählen, wie Sie das tun. Wie läuft das dann genau ab?"
„Wenn man einen Deal ausgehandelt hat, sendet der Kooperationspartner in der Regel die passenden Produkte zu. Man verdient schließlich sein Geld, indem man sich dann mit der Hose, dem Lippenstift oder dem neuen Superfood in seinen Videos beziehungsweise auf Fotos zeigt und ein bisschen darüber erzählt. Je höher die Reichweite ist, desto mehr Geld kann man erzielen. Auf YouTube ist es ebenfalls möglich, neben Produktplatzierungen auch Werbung in den Videos zu schalten. Mit speziellen Rabattcodes, die man von Zeit zu Zeit vom kooperierenden Unternehmen erhält, können die eigenen Follower die Produkte dann vergünstigt kaufen und man selbst erhält eine Provision."
„Okay, dann verdient man also immer variabel und in großer Abhängigkeit zur Anzahl an Leuten, die man erreicht."
„Genau! Man verdient nicht schlecht, das will ich gar nicht bestreiten, aber wenn man den Tausenderpreis ermitteln würde, dann sind Influencer sicherlich effizienter als jedes andere Medium und könnten sogar noch mehr verlangen."
Rose blickte Janine fragend an.
„Der Tausenderpreis ist der Preis, den ein Unternehmen zahlen muss um eintausend Leute zu erreichen. Da sind Influencer einfach wesentlich günstiger und erreichen die Zielgruppe besser."
„Und wie erreicht ein Influencer mehr Leute?"
„Sofern man einen gewissen Bekanntheitsgrad erreicht hat, wird man auf spezielle Events eingeladen. Hier besteht dann die Option, neue Kontakte für das Netzwerk zu knüpfen und die Karriere somit weiter voranzutreiben. Dabei kann einem als Newcomer schon ein gemeinsames Foto mit einem der größeren Influencer helfen. Durch die gegenseitige Verlinkung wird folglich auch mehr Reichweite generiert. Auf den Mode- oder Bloggerevents spreche ich für gewöhnlich gemeinsam mit meinen Influencer-Kollegen über die Marke, neue Projekte, aber auch Alltägliches wie den letzten Besuch in einer bestimmten Stadt. Teilweise schicken mir meine Geschäftspartner extra Kleidungsstücke oder Accessoires zu, die ich dann tragen soll und somit für sie während der Veranstaltung Werbung mache. Unter Umständen darf ich diese anschließend dann sogar behalten. Manchmal schicke ich sie nach einer Zeit aber auch wieder zurück."
„Netzwerken ist wohl in jedem Berufsfeld essenziell für die Karriere. Was ist denn sonst noch wichtig?"
„Man muss immer an sich arbeiten, reflektiert sein und sich hinterfragen. Um sich zu verbessern sowie das eigene Profil zu optimieren, sollte man regelmäßig analysieren, wie viele Leute sich für die Beiträge interessieren, woher die Follower kommen und wie lange sie sich beispielsweise ein Foto oder ein Video angesehen haben. Gerade bei Videomaterial ist es auch interessant, zu analysieren, an welchen Stellen die Fans möglicherweise verfrüht aussteigen. Kann man den genauen Grund ermitteln, passt man das im nächsten Video an und schaut ob es die gewünschte Änderung bewirkt."
„Eine Zielgruppenanalyse, würde ich das nennen."
„Ja, genau! Damit liegen Sie auch gar nicht so falsch. Damit die Follower einem auch möglichst lange treu bleiben, ist die Kontaktpflege in jedem Fall wichtig. Indem man auf ihre Nachrichten antwortet und ihnen auch neben den ganzen Fotos, Stories und Videos Tipps gibt, vermittelst man seinen Followern, dass es sich lohnt, einem zu folgen. Außerdem kann man auf diese Weise klarstellen, dass man trotz seiner Bekanntheit nahbar und authentisch ist."
„Sie beantworten jede Nachricht? Das hört sich nach viel Arbeit an!"
„Ohja, da haben Sie Recht! Wie in anderen Berufen eben auch, kommen als Influencer auch weniger kreative und spannende Aufgaben auf einen zu. Daher gilt es, sich Freiräume zu schaffen, um Rechnungen zu schreiben, mit Geschäftspartnern zu telefonieren oder Mails zu beantworten. Nimmt diese Arbeit mit der steigenden Anzahl an Followern und Werbepartnern enorm zu, kommt man nicht drum herum, sich einen Assistenten oder Manager zu suchen. Das ist dann einfach alternativlos! Bislang mache ich das noch alles selbst, aber wenn meine Community noch weiter wächst und ich bald die ganz fetten Kooperationen an Land ziehe, ist es Zeit für einen Manager."
„Ein Manager, wie es Lars Meininger ist. Kennen Sie ihn?"
„Ohja! Der Kerl ist hier in der Region sowas wie eine Legende im Bereich Social Media! Durch ihn wurde Jess Mess so bekannt und er hat seinen guten Ruf in der Branche durch sie. Da haben beide sicherlich gut voneinander profitiert. Und nebenbei waren sie noch ein süßes Paar. Ihre Hochzeit war ein riesen Event und wurde dem ganzen Hype darum definitiv gerecht."
„Sind Sie Lars Meininger auch schon einmal persönlich begegnet?"
„Nein, leider nicht. Ich habe die Hoffnung, dass er irgendwann einmal mit mir zusammenarbeiten möchte, aber dafür bin ich leider noch zu klein."
„Verstehe. So begeistert, wie Sie darüber sprechen, scheinen Sie ja voll in diesem Berufsfeld aufzugehen. Für mich wäre das nichts. Die ganze Aufmerksamkeit, das ständige Interesse der Öffentlichkeit. Die Neugierde, die Sensationslust. Wenn mich fremde Leute auf der Straße erkennen, ist mir das eher unangenehm."
„Ihr Beruf ist doch sicher auch interessant."
„Ja, sicher! Tötungsdelikte aufklären, Ermittlungen durchführen. Neuerdings bin ich aber eher ein besserbezahlter Baby-Sitter", scherzte Rose.
„Ich bin doch kein Baby!", antwortete Janine schnippisch, „Ich kann sehr gut auf mich allein aufpassen!"
„Selbstverständlich, sind Sie das nicht", ruderte Rose zurück.
„Könnten wir vielleicht beim nächsten Rasthof kurz von der Autobahn abfahren? Ich müsste mal."
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top