6 - Das feuchte Grab

Rose trat nach seinem Kollegen Böhm durch das rostige Tor hinein in die verlassene Halle auf dem ehemaligen Gelände der Glasmanufaktur. Er fühlte sich wie in eine andere Welt versetzt, als er die rostigen Schilder und den brüchigen Beton erblickte. Obwohl das Gelände vor noch gar nicht allzu langer Zeit aufgegeben worden war, nagte bereits der Zahn der Zeit daran, weshalb es schon jetzt den fragwürdigen Charme eines Lost Places versprühte. Rose spürte jedoch auch die beklemmende Atmosphäre, die von den zerbrochenen Fenstern, den verstaubten Maschinen und den grauen Wänden ausging. Er warf einen kurzen Blick auf seinen Partner, der ebenfalls angespannt zu sein schien. Sie waren am richtigen Ort, da gab es keinen Zweifel. Der Tatort entsprach genau dem, was sie in dem schockierenden Livestream gesehen hatten, der das Verbrechen dokumentiert und öffentlich gemacht hatte. Die Mitarbeiter des Erkennungsdienstes waren bereits eingetroffen und gingen eifrig ihrer Arbeit nach. Sie schossen Fotos von sämtlichen Details des Tatorts und sicherten mögliche Spuren, die der Täter hinterlassen haben könnte. Sie trugen wie gewohnt weiße Overalls, Handschuhe und Masken. Sie wirkten professionell und routiniert, aber Rose konnte auch die Betroffenheit und das Entsetzen in ihren Augen sehen.

Die Kommissare folgten den gelben Absperrbändern, die den Weg zum Tatort markierten. Ewald Popp, der Leiter des Erkennungsdienstes, kam ihnen in seinem weißen Overall, in dem er kaum zu erkennen war, entgegen und begrüßte die beiden mit einem ernsten Nicken.

„Ein wirklich grausamer Mord, der live im Internet übertragen wurde", erklärte Popp mit ernster Miene und gedämpfter Stimme. „Das Opfer ist Jessica Meininger, 28 Jahre alt und eine Internetberühmtheit."

„Das wissen wir bereits, aber fahren Sie ruhig fort", merkte Rose an, der sich fragte, was Popp ihnen noch Neues berichten konnte.

„Sie wurde in diesem Glasbottich ertränkt, der zuvor mit Wasser gefüllt wurde. Sie wurde dazu über diese mechanische Einrichtung durch diese Luke in das Becken befördert. Der Täter musste etwa hier eine Kamera aufgestellt haben, die alles aufgenommen und gestreamt hat. Es könnte allerdings auch das Smartphone des Opfers gewesen sein, das er dafür benutzt hat. Wir haben es jedoch noch nicht gefunden."

Rose nickte verstehend und ging mit leisen Schritten zu dem Glasbottich hinüber, der etwa in der Mitte der Halle stand. Er musste sich durch die Menge an Mitarbeitern des Erkennungsdienstes drängen, die alle um den Bottich herumstanden und ihn neugierig beäugten und ihren Arbeiten nachgingen. Er sah die Leiche der jungen Frau, die bleich und reglos im Wasser schwebte. Ihre langen blonden Haare schwammen um ihren Kopf wie Seetang. Ihre Augen waren weit aufgerissen, als ob sie noch immer nach Hilfe schreien wollte. Ihr Mund war leicht geöffnet, als ob sie einen letzten Atemzug nehmen wollte. Rose spürte einen Schauer über seinen Rücken laufen. Er machte diesen Job schon einige Jahre und hatte schon viele schreckliche Dinge gesehen, aber dieser Anblick war besonders verstörend. Er konnte sich nicht vorstellen, wie es für diese junge Frau gewesen sein musste, derart hilflos zu sterben, während so viele ihrer Fans auch noch dabei zusahen. Wie viel Angst und Verzweiflung sie empfunden haben musste. Wie viel Hass und Verachtung der Täter ihr entgegengebracht haben musste. Welch eine Demütigung das für sie gewesen sein musste, die ihr Leben im digitalen Rampenlicht geführt hatte. Rose fühlte einen Stich des Mitleids für Jess Mess, aber auch eine tiefe Wut auf den Mörder, der so etwas Grausames, erdacht, geplant und letztlich auch erfolgreich durchgeführt hatte. Er schwor sich, dass sie ihn bald finden und zur Rechenschaft ziehen würden.

„Warum tut jemand so etwas? Für was sollte diese Frau büßen? Untreue?", fragte Rose in Richtung seines Partners. Böhm stand dicht neben ihm und starrte ebenfalls betroffen in den Bottich.

„Sie wurde vermutlich dazu gezwungen diesen Brief vorzulesen, indem sie bloßgestellt wurde. Sie musste sich selbst als jemanden bezeichnen, der aus rein monetären Interessen mangelhafte Produkte bewirbt. Das passt für mich überhaupt nicht zu einem Motiv aus Eifersucht. Es klingt eher nach einer Art von Rache oder einer Warnung an andere Influencer."

„Das stimmt wohl." Rose knirschte mit seinen Zähnen und blickte nachdenklich in den Bottich hinein. „Entweder es soll vom eigentlichen Motiv ablenken, oder es war jemand ganz anderes, der ein Exempel an ihr statuieren wollte."

„Bei dieser Tat schwingt eine gehörige Kritik an dem Geschäftsfeld von Influencern mit. Lars Meininger ist selbst in diesem Bereich tätig und scheint mir darin regelrecht aufzublühen. Wieso sollte er also er diese Kritik üben und seine Frau so bloßstellen? Und mit ihrem Tod fällt auch noch zusätzlich seine eigene Verdienstquelle weg. Mit dem Mord hätte er sich doch ins eigene Fleisch geschnitten."

„Es sei denn, er hat einen anderen Plan. Vielleicht hat er ja noch eine andere aufstrebende Influencerin unter Vertrag und Jessica Meininger stand der im Weg. Oder er ist einfach nur ein Psychopath, der seine Frau loswerden wollte."

„Das sind alles nur Spekulationen. Wir brauchen Beweise, um ihn zu überführen. Oder zumindest ein Geständnis."

„Können wir die Tote jetzt aus dem Wasser bergen und für die Rechtsmedizin fertig machen?", fragte Popp, der sich wieder zu ihnen gesellt hatte.

„Ja, sicher", entgegnete Rose geistesabwesend. Er war komplett in seinen Gedanken versunken, die sich um Jessica Meininger und ihre Geheimnisse drehten. Wieso musste sie sterben? Wer hatte sie so bloßgestellt und grausam ermordet? Und was war das Ziel dahinter? Was wollte man damit bezwecken?

Mit vereinten Kräften hoben mehrere Mitarbeiter des Erkennungsdienstes die leblose Gestalt von Jessica Meininger aus dem Wasser. Sie legten sie vorsichtig auf eine Trage und deckten sie mit einem weißen Tuch ab. Rose beobachtete die Szene mit ernstem Gesicht. Er hoffte, dass sie bald Antworten finden würden.

Plötzlich wurde es unruhig in der Halle, als ein junger Polizist hinein gestürmt kam. Er rannte an den Mitarbeitern des Erkennungsdienstes vorbei, die ihn verwundert und irritiert nachblickten.

„Herr Rose! Sie müssen sofort mitkommen!", rief er völlig außer Atem, als er die beiden Kommissare erreichte.

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