3 - Montagmorgen

Am Neunerplatz im Stadtteil Zellerau befand sich die Polizeiinspektion Würzburg-Land. Drei längliche Gebäude aus rötlichen Backsteinen, ein größeres und zwei kleinere, standen u-förmig um einen großen Platz, auf dem zahlreiche Streifenwägen abgestellt waren. Die recht flachen, grauen Dächer und die vielen weißgerahmten Fenster bildeten den einzigen schwachen Kontrast zu den dominierenden roten Backsteinen.

Früh am Tag, als hier wie gewohnt zahlreiche Pendler in Richtung Innenstadt vorbeifuhren, war es hinter den meisten Fenstern noch dunkel, doch hinter einem Fenster brannte schon Licht. Hinter dem Fenster lag das Büro der beiden Kommissare Jan Böhm und Maximilian Rose.

Jan Böhm seufzte und schien auf einmal seine ganze Körperspannung zu verlieren. Er sank in seinen Schreibtischstuhl und stütze den Kopf in die Hand.

Maximilian Rose blickte über den Rand seines Bildschirms zu seinem gegenübersitzenden Kollegen hinüber. „Was ist los?", fragte er.

Böhm hob den Kopf. „Ach, nichts. Ich hasse einfach Montagmorgen. Das ist alles."

Rose lächelte. „Ich weiß genau, was du meinst. Das ist immer so ein unangenehmes Gefühl, wenn man das Wochenende in vollen Zügen genossen hat und plötzlich wieder arbeiten muss. Ich schätze, wirklich niemand mag Montage!"

Böhm nickte. „Ja, genau. Man fühlt sich immer so müde, schlapp, träge und unmotiviert."

„Und das Schlimmste ist: Man hat dann noch fünf verdammte Werktage vor sich!"

Böhm seufzte erneut. „Ja, das macht es wirklich nicht besser."

Die beiden Kommissare blickten sich eine Weile schweigend an.

„Na, dann mal los. Hilft ja alles nichts! Wir müssen ja arbeiten. Für Recht und Ordnung sorgen, zumindest rede ich mir das immer ein. Macht es irgendwie erträglicher diesen langweiligen Bericht zu schreiben." Böhm setzte sich wieder etwas aufrechter in seinen Bürostuhl und konzentrierte sich auf den Bildschirm vor sich.

„Ja, klar. Aber ich denke, ich hole uns mal Kaffee. Mir scheint es, als bräuchtest du jetzt wirklich dringend eine Ladung Koffein!"

Böhm sagte nichts dazu. Dies wertete Rose als schweigende Zustimmung. Also stand er auf und ging gemächlichen Schrittes aus dem Büro hinaus auf den Gang.

„Ich hoffe, der Tag geht schnell vorbei", murmelte er dabei grimmig während er behäbig über den Gang schlurfte.

Als er die Kaffeeküche des K1 betrat, fand er Gözde Yildirim, die Assistentin von Bernd Lechner und gute Seele des Dezernats vor, die gerade eine Kanne Kaffee zubereitete. Gözde war eine junge Frau mit türkischen Wurzeln. Sie war immer freundlich und hilfsbereit und hatte ein offenes Ohr für die Sorgen ihrer Kollegen. Er kannte Gözde mit ihren dunklen Locken und einem breiten Lächeln, heute wirkte sie allerdings verändert. Rose konnte nicht genau ausmachen, was es war, aber sie wirkte irgendwie anders als sonst, denn ihr Blick war abwesend und ihr Gesicht war ernst.

„Guten Morgen Gözde, ist alles in Ordnung?"

Gözde erschrak und sah auf. „Oh, hallo Maximilian! Guten Morgen! Ja, mir geht es gut, aber ich bin heute etwas zerstreut. Ich denke immerzu an Jess Mess. Ich bin ganz nervös wegen der Sache!"

„Was ist denn passiert?", fragte Rose und lehnte sich lässig gegen den Türrahmen.

„Hast du es denn nicht mitbekommen? Die bekannte würzburger Influencerin war vorgestern in einem Livestream zu sehen, indem sie vermutlich grausam ermordet wurde!"

Rose schluckte schwer. „Ein Mord? Und wir wissen nichts davon?"

„Naja, bislang weiß ja niemand ob das Video wirklich echt ist. Die ganze Community macht sich aber große Sorgen und seither hat sie auch nichts mehr gepostet. Es gibt schon die wildesten Spekulationen!"

„Ich verstehe. Aber mitbekommen habe ich davon gar nichts."

„Ich habe mitbekommen, dass Lechner gerade mit dem Management von ihr telefoniert. Ich habe Angst, dass die Sache jetzt richtig ernst wird. Bisher hoffen alle nur, dass der Livestream ein Fake war und sich alles zum Guten entwickelt."

Rose nickte. „Ich hoffe auch, dass es ein Fake ist. Aber wir sollten uns auf alles gefasst machen."

Gözde seufzte. „Ungewissheit ist eine endlose Qual!", entgegnete sie und schritt an Rose vorbei durch die Küchentür, „Dir wünsche ich einen guten Start in die Woche. Ciaoi."

„Danke, ciao." Rose blickte seiner Kollegin noch kurz nach, dann ließ er zwei Tassen Kaffee aus der Maschine.

Anschließend ging Rose zurück in das Büro zu Böhm. Er reichte ihm eine Kaffeetasse.

„Hier für dich! Ich habe gerade Gözde getroffen. Die ist ganz aufgeregt wegen so einer Influencerin. Hast du da was von mitbekommen? Du bist ja doch ein paar Jährchen jünger als ich und kennst dich da vielleicht besser aus?"

„Nur am Rande", entgegnete Böhm und nahm einen Schluck vom Kaffee, „über ihr Profil wurde ein Video ihrer vermeintlichen Hinrichtung verbreitet oder so. Wenn das alles so stimmt, dann ist das echt harter Tobak!"

„Ja, das hat Gözde eben auch gesagt. Es muss wohl ein ziemlich heftiges Video sein."

„Wenn wir hier aber nichts davon wissen, dann ist an der Sache wohl nichts dran."

„Sie meinte aber auch, dass Lechner gerade deswegen telefoniert."

Böhm kratzte sich am Kopf. „Das ist schon komisch. Wenn es sich um einen Fake handeln würde, dann würde Lechner doch nicht telefonieren. Er würde die Sache einfach abtun."

„Ich habe auch ein ungutes Gefühl", sagte Rose.

Genau in diesem Augenblick wurde die Bürotür ruckartig geöffnet und Bernd Lechner trat hinein. Kein Anklopfen, kein kurzes Warten darauf, hereingebeten zu werden. So war Lechner. Rose fluchte innerlich. Eigentlich hätte er damit rechnen müssen, denn wenn man vom Teufel sprach, war eben dieser meist auch nicht weit.

„Guten Morgen die Herren! Emsig wie die Bienchen, wie ich sehe."

Ertappt stellten die beiden Kommissare ihre Tassen auf den Tischen ab.

„Ich nehme an, Sie sind nicht sonderlich stark ausgelastet."

„Naja, es gibt schon einiges zu tun...", versuchte Rose zu erklären, doch er wurde direkt von seinem Vorgesetzten unterbrochen.

„Ich hab da eine Sache für sie beiden. Es geht um eine junge Frau aus Würzburg namens Jessica Meininger. Sie ist offenbar so eine Art Internetstar und es kursiert ein Video im Internet, in welchem sie vermeintlich ermordet wurde."

„Gerade hatten wir es davon."

„Ah, sehr gut. Dann sind Sie ja schon ein bisschen vertraut mit der Sache. Ich habe eben mit ihrem Manager gesprochen und der meinte, dass Frau Meininger seit letzten Donnerstag vermisst wird. Gehen Sie beide also mal raus und klopfen Sie an ein paar Türen. Finden Sie heraus, wo die junge Frau abgeblieben ist."

„So einen kuriosen Fall hatten wir hier bislang auch noch nie. Wir haben keine Leiche, keinen Tatort, keine Mordwaffe, keinen Verdächtigen..."

„Sie sollen erstmal keine großen Ermittlungen tätigen solange nicht geklärt ist, ob das Videomaterial überhaupt authentisch ist! Heutzutage kann man ja alles so überarbeiten, dass es echt aussieht und diese Internetstars tun ja auch wirklich alles um irgendwie im Gespräch zu bleiben. Die wollen doch alle bloß Aufmerksamkeit, das ist alles."

„Und was sollen wir da jetzt genau unternehmen?"

„Einfach mal mit den Leuten reden und zeigen, dass wir die Sache ernst nehmen. Aber erstmal nur Halbgas, verstanden? Ich vergeude doch nicht unsere wertvollen Kapazitäten, wenn niemand weiß, ob das überhaupt echt ist. Krüger und seine Leute prüfen aktuell das Video. Gehen Sie am besten zu ihm! Sollte sich herausstellen, dass das Video echt ist, dann müssen wir natürlich ernsthaft ermitteln."

Zusammen mit Lechner verließen Böhm und Rose das Büro. Die beiden Kommissare gingen direkt zum besagten Krüger, dessen Büro nur ein Stockwerk tiefer, aber im selben Gebäude lag. Krüger war Leiter der IT-Forensik und sein Team war von Lechner bereits damit beauftragt worden das Video zu untersuchen.

Als sie eintraten, begrüßte Krüger Rose herzlich. „Ah, sieh an! Der Maximilian! Dich habe ich ja schon ewig nicht mehr gesehen!"

„Grüß dich Gernot!" Rose schüttelte Krüger die Hand. „Kennst du eigentlich schon meinen neuen Partner Jan Böhm?"

„Nur vom Hörensagen. Schön Sie mal in Person kennenzulernen."

Er reichte ihm die Hand. Böhm griff und schüttelte sie, dann kam er direkt zur Sache: „Wir kommen wegen dem Video, das die vermeintliche Ermordung dieser Influencerin zeigen soll. Wie ist denn hier der Stand?"

„Wir haben noch keine definitiven Ergebnisse", sagte Krüger abwehrend. „Aber wir gehen davon aus, dass das Video echt ist."

„Das wäre ja furchtbar", sagte Rose.

„Ja, das wäre es wohl", pflichtete Krüger bei. „Aber noch ist nichts endgültig geklärt. Wir arbeiten mit Hochdruck daran. Kommt am besten gleich mit."

Krüger führte die beiden in einen abgedunkelten Nebenraum, in dem eine Frau mittleren Alters vor einem großen Bildschirm saß. Sie war schlank, trug eine Brille mit dickem Gestell und eine auffällige Vokuhila-Frisur.

„Unsere Astrid ist schon ganz Feuer und Flamme. Wenn das Video eine Fälschung sein sollte, dann findet sie es ganz bestimmt heraus."

Astrid wandte sich von ihrem Bildschirm zu ihnen ab und grinste verlegen. Offensichtlich schmeichelten ihr die lobenden Worte ihres Vorgesetzten.

„Hallo, ich bin Astrid Blatterspiel und bisher hab ich das noch immer herausgefunden", sagte sie und streckte den beiden Kommissaren ihre Hand mit marineblau lackierten Fingernägeln entgegen.

Auch die beiden Kommissare stellten sich vor. Dann begannen sie damit sich den Mitschnitt des Livestreams konzentriert anzusehen, während Astrid immer wieder fachsimpelte und etwas von Lichtverhältnissen, Kameraobjektiven und Wellenbewegungen von Wasser zum Besten gab. Sie war in ihrem Element, das war Rose direkt klar. Er musste ihre Erläuterungen nicht verstehen, er unterstellte ihr eine gewisse Kompetenz, sodass er ihrem endgültigen Urteil vertrauen würde.

„Zweifelsfrei wird sie dazu gezwungen, diese Worte zu sagen. Es scheint auch, als würde sie das Gesagte auch irgendwo ablesen", merkte Böhm an.

„Ja", stimmte Rose zu. Er hatte allerdings nicht richtig zugehört. Er war in seinen Gedanken verloren und starrte gebannt auf den Bildschirm, auf dem Jessica Meininger in ihrem nassen Verlies um ihr Leben kämpfte.

„Stimmt etwas nicht? Hast du etwas auffälliges bemerkt?", fragte Böhm.

„Nein, ich frage mich nur, was das für ein Ort ist, an dem das Video aufgenommen wurde. Es wirkt so kühl und industriell."

„Soll ich mal etwas heller machen?", fragte Astrid.

„Ja, wenn Sie das können, Frau Blatterspiel."

„Na klar kann ich das! Nichts leichter als das. Dann schalten wir doch mal das Licht an." Astrid tätigte ein paar Klicks und schob einen Regler mit ihrer Maus nach rechts. Das Bild hellte sich merklich auf, wurde jedoch auch etwas unschärfer. Erkennbar wurde im Hintergrund eine wellblechverkleidete Wand mit Stahlträgern.

„Sieht aus wie in einer Lagerhalle oder so", merkte Rose an. „Wir könnten herausfinden, was das für Stahlträger sind und in welchen Gebäuden die verbaut sind. Das könnte ein Anhaltspunkt sein."

„Ich glaube nicht, dass uns das weiterbringt", befürchtete Böhm, „solche Stahlträger sind Standard und werden so gut wie überall verbaut."

„Du hast recht. Diese Halle könnte überall stehen."

Sie betrachteten weiter das Video. Sahen es sich wieder und wieder an. Doch mit jedem weiteren Mal, verlor Rose den Schrecken. Er gewöhnte sich daran. Er hatte schon so viele schreckliche Dinge gesehen. Dies war nur ein weiteres Mal. Jessica Meiningers vermeintliches fürchterliches Ableben flimmerte immerzu über den Bildschirm.

Irgendwann sagte Astrid: „Also, ich hätte es mir auch anders gewünscht, aber ich hab keinen Zweifel daran, dass das Video echt ist. Armes Mädchen, grausam was da passiert ist!" Ihr Urteil war also gefallen: Das Video war authentisch!

Rose blickte fragend zu Krüger.

„Tja, wenn Astrid das sagt, dann ist das auch so. Kein Zweifel!", kommentierte dieser die traurige Erkenntnis.

„Ich irre mich nie!", erklärte Astrid energisch und fügte ihrer Aussage noch ein trauriges „Leider!" hinzu.

Mit dieser Erkenntnis verabschiedeten sich Böhm und Rose und gingen zurück in ihr Büro. Rose wusste, dass sie sich auf einen schwierigen Fall eingelassen hatten. Kein Tatort, kein Fundort, keine Tatwaffe, keine Leiche - sowas hatte er noch nie erlebt!

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