25 - Väter

Heuchelhof, einige Jahre zuvor:

Nachdem er den Nachmittag im Dallenbergbad verbracht hatte, hetzte Eugen schnell nach Hause. Die Sonne stand noch immer hoch und ließ die zahlreichen Fenster des riesigen Betonklotzes, in dem er lebte, leuchten. Als er die Wohnungstür aufschloss und seinen Vater im Wohnzimmer sitzen sah, erschrak er sich. Er hatte gehofft, dass er noch nicht von der Arbeit zurück wäre. Er wusste, dass er Ärger bekommen würde, weil er nicht gelernt hatte. Noch in dieser Woche würde er eine wichtige Mathearbeit schreiben müssen, aber er hatte keine Lust gehabt, sich mit Zahlen und Formeln herumzuquälen.

Er versuchte, leise an seinem Vater vorbei zu schleichen, aber es war zu spät. Sein Vater hatte ihn schon bemerkt und sprang auf.

„Wo warst du den ganzen Tag? Du hast mir gesagt, du willst lernen!", brüllte sein Vater Eugen mit weit aufgerissenen Augen an. Er war ein großer, kräftiger Mann mit einem dichten Schnauzbart und einer Glatze. Er arbeitete als Mechaniker in einer Autowerkstatt und war sehr streng mit seinem Sohn. Er forderte von Eugen immerzu Fleiß und Ehrgeiz in der Schule ein. Er begründete dies immer damit, dass er später einen guten Beruf erlernen könnte, wenn er gute Noten schrieb. Er hatte keine Ahnung von Eugens Träumen, von seiner Liebe zur Musik und zur Kunst. All das war Zeitverschwendung für ihn.

„Ich war draußen. Es war schönes Wetter. Ich kann doch jetzt noch lernen", versuchte Eugen ängstlich sich zu rechtfertigen.

„Du musst aber mehr lernen. Deine Noten werden immer schlechter!", fuhr sein Vater ihn an.

„Ich strenge mich ja an. Aber es ist schwer", sagte Eugen kleinlaut.

„Dann musst du eben mehr tun! Verstehst du das etwa nicht?! Aber du treibst dich draußen herum. Wo warst du überhaupt?", schrie sein Vater weiter. Er griff nach Eugens Tasche und kippte sie aus. Ein Badetuch und eine Badehose fielen auf den Boden. Der verräterische Geruch von Chlor ließ keinen Zweifel zu und machte somit auch jede Ausrede obsolet.

„Schwimmbad? Wieso gehst du schwimmen? Du magst Schwimmen nicht einmal."

Eugen schwieg und blickte schüchtern auf seine Füße. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Er wusste, dass sein Vater ihn nicht verstehen würde.

„War das etwa wieder wegen diesem Mädchen? Aus deiner Klasse? Wie heißt sie nochmal?"

„Anna", antwortete Eugen flüsternd. Er traute sich nicht ihren Namen laut auszusprechen. Er traute sich nicht, seine Gefühle für sie einzugestehen. Er verstand seine Gefühle ihr gegenüber ja selbst nicht mal. Es war eine seltsame Mischung aus Faszination, Schwärmerei und Neid. Waren diese Emotionen überhaupt miteinander vereinbar?

„Verschwende doch nicht deine Zeit mit Mädchen! Blyat! Die lenken dich nur von der Schule ab. Du darfst nicht den Blick auf das wichtige verlieren!", schimpfte sein Vater und fluchte auf seiner Muttersprache.

Eugen wich ängstlich dem Blick seines Vaters aus. Er würde sich nicht trauen ihm zu widersprechen.

„Gerade diese Anna!", fuhr der Vater in seiner Rage fort, „Was denkst du dir nur?! So ein Mädchen interessiert sich nicht für Jungs wie dich! Ihre Eltern haben viel Geld. Wie könntest du schon interessant sein für so ein Mädchen? Wenn du jemals eine tolle Frau haben willst, dann musst du einen guten Beruf erlernen, wo du viel Geld verdienen kannst. Dafür musst du gut sein in der Schule! Andernfalls werden Mädchen wie Anna immer über dich lachen und auf dich herabschauen!"

Mit einer Tracht Prügel untermauerte der Vater anschließend seine Lebensweisheiten. Er schlug ihn mit der flachen Hand, mit dem Gürtel, mit dem Schuh. Er schlug ihn so lange, bis er weinte, bis er schrie, bis er darum bettelte aufzuhören.

*📱*

Jan war angespannt, als er zum Telefon griff. Sein Herz pochte sehr stark. Er hasste es unangenehme Gespräche führen zu müssen und dieses würde zweifelsfrei eines werden. Aber es führte kein Weg daran vorbei. Er konnte es nicht noch länger aufschieben.

„Polizeipräsident Böhm."

„Hallo Papa, hier ist Jan."

„Jan, mein Junge! Wie geht's dir?"

„Mir geht es gut, Papa. Schön, dass du fragst."

„Das ist schön. Wieso rufst du denn an? Was kann ich für dich tun?"

„Ich wollte mit dir nochmal über die Sache mit Kurt Greven sprechen."

„Die Stelle ist noch frei. Er hat sie extra frei gehalten für dich. Du kannst ihn gleich anrufen und das klar machen. Geht alles ratzfatz! Ich freue mich, dass du bald wieder in der Stadt bist!"

„Die Sache ist...", begann Böhm zögerlich, „Ich will das Angebot nicht annehmen."

„Bitte was?" Blankes Entsetzen lag in der Stimme des Polizeipräsidenten.

„Ich muss meinen Weg einfach alleine gehen, Papa. Ohne deine Unterstützung. Ich muss es alleine schaffen."

„Weißt du denn überhaupt wie viele Kollegen von solchen Möglichkeiten träumen, wie du sie hast? Die würden über Leichen gehen um dahin zu kommen! Und du hast so tolle Verbindungen und willst die aber nicht nutzen?"

„Bitte versuche einfach mich zu verstehen."

„Willst du denn gar keine Karriere mehr machen? Du hattest es doch schon so weit geschafft! Bist du jetzt etwa ein Familienmensch? Gibt es ein Mädchen, das dir diese Flausen ins Ohr gesetzt hat?"

„Nein, es gibt kein Mädchen. Ich möchte schon wieder Karriere machen, aber eben aus eigener Kraft. Auch wenn es dann länger dauert..."

„Puh, Jan. Was soll ich da sagen? Ich bin ehrlich gesagt schon etwas enttäuscht."

Jan schwieg. Was hätte er auch seinem enttäuschten Vater antworten sollen?

„Aber hör zu: Du bist und bleibst mein Kind. Blut ist dicker als Wasser! Du kannst jederzeit zu mir kommen, wenn du es dir anders überlegst und dann schauen wir, welche Wege für dich offenstehen. Auch wenn du die Tür beim Kurt zuschlägst, heißt das nicht, dass sich keine weiteren Türen auftun können. Ich finde sicher auch noch andere Möglichkeiten."

„Danke Papa!"

„Mach's gut, Jan! Und komm uns doch bald mal besuchen."

„Das mache ich! Bis bald."

„Tschüss."

Er legte sein Smartphone weg und seufzte laut. Er wusste, dass er eine schwierige Entscheidung getroffen hatte. Aber er war sich sicher, dass es die richtige Entscheidung war.

Er wollte hier in Würzburg bleiben und ein neues Leben beginnen.

*📱*

Die Abendsonne schien durch die Fenster in das altmodisch eingerichtete Esszimmer. Um einen liebevoll gedeckten Tisch saßen Janine, Rose und dessen Mutter. Die Tischdecke strahlte weiß, die Teller waren blau verziert und zeigten verschiedene Szenen und Motive. Das Besteck lag auf ebenfalls blauen Servietten, die fein säuberlich gefaltet waren. In der Mitte des Tisches stand eine große, gläserne Vase mit frischen Blumen, die Rose mitgebracht hatte. Es roch nach Braten und Kartoffeln.

„Ach, ihr könnt euch gar nicht vorstellen wie sehr ich mich freue! Es ist so schön dich kennenzulernen, Janine!", sagte Roses Mutter mit einem strahlenden Lächeln. „Ich fürchtete schon, dass Max mir nie eine Frau vorstellen würde. Er war immer so verschlossen und eigenbrötlerisch. Ach, wenn das der Günther nur sehen könnte..."

„Günther?", fragte Janine neugierig.

„Das war mein Vater", erklärte Rose, „er verstarb leider während meiner... Abwesenheit." Er senkte den Blick und spielte mit seiner Gabel.

„Du kannst dir nicht vorstellen, wie schlimm es für uns war, dass unser Sohn so spurlos verschwunden war", fuhr Roses Mutter fort, „Wir hatten ja absolut keine Ahnung wo er war, was mit ihm geschah und ob er überhaupt noch lebte. Meinen lieben Günther hat es besonders schwer zugesetzt. Er konnte das aber nie so wirklich zeigen geschweige denn äußern. So sind Männern nun mal! Er fuhr in jeder freien Minute sämtliche Ortschaften ab und hoffte unseren Maxi zu finden. Er gab die Suche nie auf und ich wollte ihn da auch nicht reinreden, aber über die Jahre wurde er immer frustrierter. Irgendwann griff er dann zur Flasche."

„Alkohol und Autofahren vertragen sich leider gar nicht", kommentierte Rose trocken und sarkastisch. Seine Mutter brach in Tränen aus.

Janine sah Rose fragend an, dann ging sie zu Frau Rose hinüber und legte ihr einen Arm um die Schulter. „Es tut mir leid", sagte sie. „Ich verstehe, dass das alles nicht einfach ist."

Frau Rose schüttelte den Kopf. „Das ist alles schon lange her", sagte sie. „Wir müssen damit leben."

„So wie mit der ganzen Scheiße", fügte Rose hinzu.

„Das Leben muss ja irgendwie weitergehen. Und jetzt haben wir dich, Janine. Du bist ein wahrer Segen für uns."

„So wie für mich", fügte Rose hinzu, als er Janine liebevoll ansah.

„Ich weiß", sagte Janine. „Aber es ist wichtig, dass du weißt, dass ich für dich da bin, wenn du reden willst. Du musst dich nicht verstecken oder so tun, als wäre alles in Ordnung. Ich bin deine Freundin."

Rose lächelte. „Danke", sagte er. „Das bedeutet mir viel."

Roses Mutter wischte sich die Tränen aus den Augen. „Ich bin so froh, dass du Janine gefunden hast", sagte sie. „Sie ist eine gute Frau. Sie wird dir guttun. Vielleicht hilft sie dir, deine Vergangenheit endlich hinter dir zu lassen und deine Zukunft zu gestalten."

Rose nickte. „Ich hoffe es", sagte er. Er spürte, wie Janine seine Hand drückte. Er fühlte sich glücklich und dankbar. Sein Leben hatte sich geändert. Fortan würde alles schöner werden. Endlich.

*📱*

Auf dem Friedhof in Fulda stand Frau Weiß am Grab ihres Mannes und trauerte um ihn. Mit gedämpfter Stimme sprach sie zum kürzlich aufgestellten Grabstein und stellte sich vor ihr verstorbener Ehemann könnte sie hören: „Ich habe Angst dich zu vergessen, Liebster. Zu vergessen was für ein wunderbarer Mann und liebevoller Vater du warst. Ich habe so viele Erinnerungen an dich... Aber was, wenn diese mit der Zeit verblassen? Was ist, wenn ich dein Andenken mit der Zeit nicht mehr zu würdigen wissen sollte?"

Sie setzte sich auf eine Bank direkt neben dem Grab und streichelte den Grabstein zärtlich. „Ich liebe dich so sehr, Christian. Und ich werde dich auch immer lieben. Ich kann es nicht glauben, dass du nicht mehr da bist. Ich vermisse dich jeden Tag. Jeden verdammten Tag!"

Sie weinte still vor sich hin. Nach einer Weile trocknete sie sich die Tränen und stand auf.

Ein kleines Lächeln kam über ihre Lippen. „Aber wie könnte ich dich denn vergessen, solange unsere Kinder da sind, die dieselben Augen haben, wie du sie hattest? Immer wenn ich in ihre strahlendblauen Augen sehe, ist es so als würde ich in die deinen blicken und alleine das macht es unmöglich dich je vergessen zu können. In ihnen bist du unsterblich!"

Sie sah zu ihren Kindern hinüber, die auf der anderen Seite des Grabes standen. „Sie werden immer ein Stück von dir sein. Sie werden wunderbare Menschen werden, ganz so wunderbar, wie du es warst. Du würdest stolz sein. Und ich werde sie immer an dich erinnern."

Sie ging zu ihren Kindern und umarmte sie. „Ich liebe euch so sehr", sagte sie.

Die Kinder umarmten sie zurück. „Wir lieben dich auch, Mama", sagte ihre Tochter.

Frau Weiß lächelte. Sie wusste, dass sie ihren Mann nie vergessen würde. Er würde immer in ihren Herzen und in den Herzen ihrer Kinder weiterleben. Und wenn sie in die stahlblauen Augen ihrer Kinder blickte, dann blickte sie in die Augen ihres verstorbenen Mannes.

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