24 - Inferno
Rose jagte mit seinem Porsche die Straße entlang, die Reifen quietschten bei jeder Kurve. Er durfte auf gar keinen Fall zu spät kommen, dabei wusste er noch nicht einmal, ob er richtig war. Es war der Mut der Verzweiflung, der ihn antrieb.
Über die Freisprechanlage war er mit Böhm und Engelhardt verbunden, deren Stimmen durch das Dröhnen des Motors hallten. Wie verabredet war Böhm im Präsidium verblieben um den Überblick zu bewahren, während Rose und Engelhardt zwei mögliche Industrieimmobilien aufsuchen sollten, die als Versteck für die entführte Janine dienen könnten.
Ein flaues Gefühl in seinem Magen verstärkte sich, als sich Böhm zu Wort meldete. „Der Live-Stream startet."
„Was siehst du?", fragte Rose energisch, während er das lederne Lenkrad fest umklammerte.
„Es sieht sehr dunkel aus. Sieht irgendwie industriell aus."
„Was für Maschinen siehst du? Ist Janine zu sehen?"
„Ja, sie ist zu sehen. Sie scheint in einer Art Ofen gefangen zu sein, wenn ich das richtig erkennen kann."
„Ach du Scheiße!", sagte Rose und trat das Gaspedal des Sportwagens noch weiter durch. Die Nadel des Tachometers schnellte nach oben, als er durch den Landkreis raste.
„Aber das klingt doch, als wären wir hier auf der richtigen Spur", merkte Engelhardt optimistisch an.
„Wie weit bist du noch weg von der alten Großbäckerei?", wollte Rose wissen.
„Nur noch ein paar Kilometer. Wir schaffen das!", beruhigte ihn Engelhardt.
Rose spürte, wie sein Herz gegen seine Brust hämmerte. Er war noch ein ganzes Stück weg von der alten Gießerei. Ungeduld keimte in ihm auf.
„Sie liest jetzt einen Text vor", erklärte Böhm und stellte sicher, dass seine Kollegen Janines Worte hören konnten.
Unter Tränen sagte sie: „Hallo liebe Community, heute möchte ich eine Wahrheit mit euch teilen. Ich bin das, was in unserer Gesellschaft falsch läuft. Attraktivität zählt weitaus mehr als Ehrgeiz. Daher verdiene ich meinen üppigen Lebensunterhalt mit ein paar netten Fotos von mir, während andere Menschen bis zum Umfallen schuften müssen und es ihnen nicht reicht um über die Runden zu kommen. Ich würde euch jederzeit belügen um Profit zu machen. Für Geld sage ich alles, was ruchlose Firmen hören wollen und ihr Idioten glaubt mir das auch noch."
„Ich bin jetzt bei der Bäckerei", sagte Engelhardt und nach einer Weile fügte er noch hinzu: , „Sie ist leer!"
Nun war sich Rose sicher, dass Janine in der Gießerei gefangen gehalten werden musste. Er trat das Gaspedal seines Porsches noch weiter durch, sodass es sehr schwer wurde, die Kontrolle über das Fahrzeug zu behalten. Er durfte nicht zu spät kommen! Er würde sich das niemals verzeihen!
Janine schluchzte. „Das werde ich nicht sagen!"
„Doch, du wirst sagen, dass du dich deiner Strafe fügst!", sagte eine Stimme aus dem Hintergrund des Live-Streams. Rose meinte einen leichten russischen Akzent gehört zu haben.
„Bitte, hören Sie auf!", flehte Janine, „Ich habe doch alles getan, was Sie von mir wollen!"
„Es ist zu spät. Jetzt wirst du bezahlen, du nichtsnutziges Weib! Es ist nur gerecht so."
Rose war sich nun sicher. Der Mann, der Janine in seiner Gewalt hatte, sprach mit einem russischen Akzent, den er zu verbergen versuchte und dennoch war er da.
„Er heizt den Ofen auf, in dem Janine ist!", verkündete Böhm erschrocken.
„Das war zu erwarten. Ich kann hier leider nichts ausrichten. Hoffentlich bist du richtig, Rose!" Frustriert trat Engelhardt gegen eine brüchige Betonsäule.
Rose nahm kaum wahr, was seine Kollegen sagten und konzentrierte sich voll auf die Fahrt. Er nahm die Kurven wie ein Rennfahrer und nahm wenig Rücksicht auf den Verkehr. Ständig wurde er angehupt, doch es war ihm egal.
Böhm hatte das Gesicht in seinen Händen vertieft und wagte es kaum das Geschehen auf dem Bildschirm zu verfolgen. Janines lebensgefährliche Lage war ihrem Gesicht deutlich anzusehen. Doch er konnte erkennen, dass sie die Panik in sich unterdrückte und nach einem Ausweg suchte. „Der Kerl ist etwa Einsachtzig groß und spricht mit einem osteuropäischen Akzent", sagte sie schnell in Richtung der Kamera."
„Halt deine verdammte Klappe!", versuchte man sie zum Schweigen zu bringen. Doch Janine ließ nicht locker. „Er trägt eine schwarze Wachsjacke und eine schwarze Sturmmaske. Er ist bewaffnet mit einer Machete und einer Pistole. Mehr kann ich leider nicht über ihn sagen, aber ich weiß, dass du ihn dir schnappen wirs, Maxi!"
Rose zuckte bei der Erwähnung seines Namens zusammen. Er war schwer beeindruckt von Janine, selbst im Angesicht des Todes, dachte sie an ihn und versuchte ihm zu helfen.
„Die Beschreibung passt auf Eugen Bobrow!", erklärte Böhm, „Ich hoffe, du bist auf der richtigen Spur!"
Rose sah das alte Gelände schon am Horizont: Gebäude aus Backsteinen, mit zahlreichen Graffitis beschmiert und mehrere Schlöte, die sich viele Meter hoch in den Himmel streckten. War Janine hier gerade in Lebensgefahr? Ein Irrtum würde ihren sicheren Tod bedeuten!
Rose raste auf das Gebäude zu und bremste nicht ab. Bei voller Fahrt durchbrach er einen Bauzaun, der die Zufahrt zum Gelände versperren sollte. Die alten Gebäude wirkten verlassen, aber er wusste, dass der Schein trügen konnte. Vor dem größten Gebäude, welches mit einem meterhohen Schornstein versehen war, stellte er den Wagen schließlich ab, stieg aus, zog seine Pistole aus dem Holster und eilte mit gezogener Dienstwaffe hinein. Er machte sich bereit, jeden Winkel zu durchsuchen.
Im Inneren des Gebäudes war es dunkel und kühl. Rose konnte kaum etwas sehen, aber er hörte Schritte und gedämpfte Stimmen. Er schlich weiter, bis er eine Tür erreichte, die einen Spalt offenstand. Vorsichtig spähte er hinein und erkannte direkt, dass er hier am richtigen Ort war. Er sah einen Ofen, groß genug, damit ein Erwachsener darinstehen konnte, eine Kamera, die auf den Ofen gerichtet war und dahinter ein Mann, ganz in schwarz gekleidet mit einer Stummaske auf dem Haupt.
„Janine!", rief Rose und eilte in die Mitte der Halle.
„Maximilian!", entgegnete es ihm aus dem Inneren des Ofens.
Der Mann in Schwarz, dessen Statur im schwachen Licht des alten Industriegebäudes kaum zu erkennen war, schien überrascht und nervös. Er griff hastig nach einem Gegenstand, der neben ihm auf dem staubigen Boden lag. Rose, dessen Sinne aufs Äußerste angespannt waren, erkannte die Bewegung sofort. Sein Instinkt sagte ihm, dass es eine Waffe sein musste, die der Entführer zu ergreifen suchte.
Mit einem festen Griff um seine eigene Pistole zielte Rose auf die Silhouette des Mannes. Die Zeit schien stillzustehen, als er den Abzug betätigte. Ein, zwei, drei Schüsse hallten durch die Halle, und der Mann in Schwarz brach zusammen, getroffen von Roses entschlossenem Handeln.
Ohne auch nur einen Moment zu zögern, eilte Rose zum Ofen, der wie ein drohendes Ungetüm in der Mitte des Raumes stand. Seine Augen flogen über die Bedienelemente, die fremd und doch irgendwie vertraut wirkten. Mit einer Mischung aus Intuition und logischem Denken gelang es ihm, die richtigen Schalter zu identifizieren und den Ofen abzustellen. Ein Klick, ein Ruck, und die schwere Tür des Ofens schwang auf.
Janine, deren Augen weit aufgerissen waren vor Angst und Erleichterung, taumelte aus dem Ofen hervor. Ihre Beine gaben nach, doch Rose war zur Stelle und fing sie auf. Er hielt sie in seinen Armen, spürte ihren unregelmäßigen Atem und das leichte Zittern ihres Körpers. Sie klammerte sich an ihn, als wäre er ihr Anker in einem stürmischen Meer.
„Es ist vorbei, Janine. Du bist jetzt sicher", flüsterte Rose, während er sie fest an sich drückte. Er hatte befürchtet, zu spät zu kommen, hatte sich auf das Schlimmste eingestellt. Doch hier stand er nun, mit Janine in seinen Armen, lebendig und beinahe unversehrt. Ein paar blaue Flecken zeichneten ihre Haut, und leichte Rötungen ließen auf Verbrennungen schließen, aber sie war am Leben. Das war alles, was zählte.
Ängstlich blickte Janine an Rose vorbei an die Stelle neben dem Kamerastativ, wo ihr Peiniger gestanden hatte. Rose tat es ihr gleich und ein erneuter Stoß Adrenalin durchfuhr seinen Körper, als er feststellte, dass Bobrow verschwunden war.
Janine blickte Rose entschlossen an. „Ich komme schon klar, aber lass dieses Schwein nicht davonkommen!"
Ein schwerer Atemzug entfuhr Rose. Es fiel ihm sehr schwer, Janine allein zu lassen, aber er war überzeugt, dass Böhm inzwischen Verstärkung angefordert haben müsste und man sich schon bald um sie kümmern würde.
Eine lange Blutspur, die vom Stativ in Richtung Seitenausgang führte, versicherte Rose, dass Bobrow zu schwer verletzt sein müsste, um noch eine Gefahr für Janine darzustellen. Mit einem besorgten Blick und einem verstehenden Nicken verabschiedete er sich von ihr und folgte der Blutspur in den Außenbereich der Gießerei.
Der Kommissar musste nicht lange nach Bobrow suchen. Die Blutspur führte ihn unweigerlich zu einem rostigen Container, nur wenige Meter entfernt. Dort, inmitten einer wachsenden Blutlache, lehnte Bobrow. Die Sturmhaube lag neben ihm, sein Atem ging schwer. Als er Rose erblickte, versuchte er den rechten Arm zu heben um mit seiner Pistole auf ihn zu zielen, aber scheinbar war er zu schwach.
Rose ging langsam auf ihn zu, während er mit der Pistole auf ihn zielte. Er erkannte Bobrows Gesicht von den Dokumenten, die er eben erst bei Böhm und Engelhardt gesichtet hatte. Beim Anblick Bobrows spürte er eine Mischung aus verschiedenen Emotionen. Hass, Ekel, Abscheu, aber auch Mitgefühl. Rose rief sich zur Räson, denn er wusste, dass er diesem Mann neutral gegenübertreten musste. Es war nicht richtig gewesen, direkt auf ihn zu feuern. Seine Angst um Janine hatten ihm keine Zeit und keine Alternative gelassen und für einen Moment wünschte er sich, Engelhardt wäre am richtigen Ort gewesen. Er hätte seine Gefühle im Zaum halten können.
Bobrow ließ seine Pistole aus der Hand gleiten. „Ich habe sie unterschätzt. Hätte nicht gedacht, dass sie mich direkt erschießen würden. Sie Idiot haben sich tatsächlich in diese Blenderin verschossen." Seinem abfälligem Lachen, folgte ein heftiger Hustenanfall, bei dem er Blut spuckte.
Rose trat mit seiner Fußspitze Bobrows Pistole außer dessen Reichweite, kniete sich vor ihn und drückte auf dessen Wunden, um die starke Blutung zu stoppen. Zwei Löcher klafften in dessen Brust, der dritte Schuss hatte ihn in die Schulter getroffen. Rose starrte Bobrow an und erkannte, dass es sinnlos war, aber er drückte weiter auf den Wunden herum. Mit heiserer Stimme fragte er: „Warum das alles? Wieso haben Sie das getan?"
„Warum? Weil sie eine Bande von Lügnern sind! Weil sie es verdient haben! Sie tun nichts Wertschöpfendes, belügen die Leute, betteln immerzu um Aufmerksamkeit und Anerkennung und leben in Saus und Braus. Tagein tagaus, rühren sie keinen Finger. Und dann stehen sie da und grinsen uns an, als wären sie die besseren Menschen. Finden Sie das gerecht?"
Rose ignorierte die Frage, er hatte seine eigenen. „Sie quälen diese Frauen, nur weil sie neidisch auf sie sind?"
„Neid? Ich nenne das Ungerechtigkeit! Es ist doch einfach nicht fair, dass die Menschen, die fleißig und ehrgeizig sind, es im Leben so schwer haben, während diese Schlampen nur dumm in die Kamera zu grinsen brauchen..." Bobrows Stimme wurde leiser. „Ich habe mir alles mühevoll erarbeitet, hatte es nie leicht im Leben! Aber sie sind falsch. Durch und durch! Und Sie Narr verlieben sich auch noch in diese falsche Schlange. Was musste die denn als Töchterchen eines Politikers jemals leisten? Ihr ist nichts wichtig, außer ihr eigenes Wohl. Sie sind ein Idiot, wenn Sie glauben, Sie könnten mit ihr glücklich werden."
Mit einem letzten Säufzer starb Bobrow und Rose war sprachlos. War es wirklich notwendig gewesen, dass er die tödlichen Schüsse abgegeben musste? Wie tief musste Bobrows Hass auf Jessica Meininger und Janine Schöne gewesen sein, dass er ihnen so etwas antat? Wer wäre die Nächste gewesen?
Gedankenversunken ging er zurück in die Halle, in der Janine noch immer vollkommen aufgelöst und verstört hockte.
Fragend blickte sie ihn an. „Wo ist der Mann?"
„Er kann dir nichts mehr tun. Er ist tot."
Eine Träne lief Rose über die Wange, als er sich neben Janine auf den Boden setzte und ihren zierlichen Körper fest an sich drückte.
Sie verweilten eine Ewigkeit in ihrer Umarmung, bis in der Ferne schließlich die Sirenen der herannahenden Polizeiwagen zu hören waren - ein beruhigendes Zeichen, dass Hilfe unterwegs war. Rose wusste, dass sie bald nicht mehr allein sein würden, dass Fragen gestellt und Berichte geschrieben werden mussten. Aber in diesem Moment, in der Ruhe nach dem Sturm, gab es nur Janine, ihn und das Wissen, dass sie dem Tod entronnen war.
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