16 - Ermittlung in der Glasmanufaktur

Die Reifen des silbernen Kombis griffen mühsam nach Halt, als er sich den steilen Weg zum Heuchelhof hinaufkämpfte. Der Motor stöhnte unter der Anstrengung, und Böhm fühlte, wie das Fahrzeug unter ihm arbeitete. Es war ein unauffälliges Auto, eines, das man auf der Straße kaum bemerkte, aber jetzt, da es sich den Berg hinaufquälte, schien es fast zu schreien. Die zivilen Fahrzeuge der Polizeiinspektion waren nicht mehr die neuesten, und die Jahre, in denen sie ihren Dienst getan hatten, hatten Spuren hinterlassen. Böhm konnte nun nachvollziehen, warum sein Kollege Rose es vorzog, seinen privaten Porsche für die Dienstfahrten zu nutzen – ein Wagen, der solche Steigungen mit Leichtigkeit meisterte.

Als Böhm den Stadtteil Heuchelhof erreichte, fühlte er sich, als wäre er in eine andere Welt eingetreten. Es war das erste Mal, dass Böhm in diesem Stadtteil war, doch er hatte Geschichten über diesen Ort gehört, Geschichten, die ihn neugierig, aber auch vorsichtig gemacht hatten. Es wurde gesagt, dass die Trabantenstadt einst ein Ort war, an dem das Leben brodelte, ein sozialer Brennpunkt, in dem sich die unterschiedlichsten Kulturen und sozialen Schichten aufeinanderprallten. Die Gegensätze waren groß, und die Spannungen, die daraus entstanden, waren noch heute in einigen Straßenabschnitten zu spüren. Die Berichte, die Böhm auf der Dienststelle gelesen hatte, sprachen von Herausforderungen und Konflikten, die noch immer nicht vollständig gelöst waren.

Während er die Hochhäuser betrachtete, die wie stumme Wächter zu seiner Linken aufragten, fühlte er sich nachdenklich. Er fuhr am Straßburger Ring vorbei, dann am Wiener Ring, gefolgt vom Madrider Ring und schließlich am Prager Ring, bevor er in das angrenzende Gewerbegebiet abbog. Dort hatte die Firma Wuschnik Glas ein beeindruckendes neues Werk errichtet. Das moderne Verwaltungsgebäude, das mit seiner großen Glasfassade den Geschäftszweck des Unternehmens widerspiegelte, lag direkt an der Straße. Es war ein repräsentativer Bau, der die dahinterliegenden, eher unscheinbaren Industriehallen verbarg. Böhm parkte seinen Wagen auf dem Besucherparkplatz und betrat durch den Haupteingang das Foyer, ein Raum, der mit der gleichen modernen Eleganz gestaltet war, die das Äußere des Gebäudes auszeichnete.

Nach wenigen Minuten wurde er von Frau Wuschnik, der Geschäftsführerin, abgeholt. Sie war eine schlanke, blonde Frau, elegant gekleidet in ein graues Kostümchen. Böhm schätzte sie auf Mitte 40. Sie grüßte ihn freundlich und gemeinsam schritten sie durch einen langen Korridor, dessen Wände mit Auszeichnungen und Patenten des Unternehmens geschmückt waren – ein stolzes Zeugnis für Innovation und Erfolg, wie sie erklärte. Als sie das Ende des Ganges erreichten, öffnete sich der Blick auf die Produktionshalle, ein Schauspiel aus Präzision und Effizienz: Maschinen arbeiteten synchron, und Arbeiter in Schutzkleidung bewegten sich geschäftig zwischen den Stationen.

„Ich würde vorschlagen, wir machen erstmal einen kleinen Rundgang durch die Produktion, damit sie wissen, was wir für ein Unternehmen sind. Sie werden sicher auch noch einige Fragen mitgebracht haben, doch die würde ich gerne hintenanstellen."

„Wie Sie wünschen", stimmte Böhm ihr zu.

Die Geschäftsfrau betätigte einen elektrischen Türöffner, der den beiden Zugang zur Produktion ermöglichte.

Böhm fragte sich, ob es nicht angebracht wäre, vorher eine gewisse Schutzausrüstung anzuziehen. Dieser Gedanke wurde noch stärker, als er sich umsah und die Mitarbeiter in langärmliger Arbeitskleidung, Schutzbrillen und geschlossenen Sicherheitsschuhen erblickte. Inmitten dieser Menschen wirkte er in seinem marineblauen Sakko und Frau Wuschnik in ihrem Kostümchen und ihren zentimeterhohen Pfennigabsätzen völlig deplatziert, als seien sie Außerirdische. Freundlich grüßten die Mitarbeitenden ihre Vorgesetzte und es schien als würden sie in ihrer Anwesenheit eine Schippe motivierter als üblich ihren Tätigkeiten nachgehen.

„Wir haben hier am neuen Standort 15.000 Quadratmeter Produktionsfläche", erklärte Frau Wuschnik, „Damit konnten wir unsere Produktionskapazität nicht nur verdoppeln, sondern auch die Energieeffizienz verbessern. Selbstverständlich sind wir ISO 9001 zertifiziert."

Böhm lachte amüsiert. „Wer ist das nicht?"

Für diese Aussage erntete er einen finsteren Blick von Frau Wuschnik, die dann aber unbeeindruckt weiter von ihrem Unternehmen erzählte: „Wir sind führend in der Verwendung von Recyclingmaterial und haben kürzlich eine Partnerschaft mit der würzburger Universität angekündigt, um innovative Glasprodukte zu entwickeln, die zur Energiegewinnung beitragen könnten. Das ist die Zukunft und wir sind als Innovationsführer natürlich mit dabei."

Böhm nickte nur kurz, während ein falsches Lächeln seine Lippen umspielte.

„Hier befinden wir uns im Glasapparatebau, wo wir eine Vielzahl von Glasgeräten für die Chemie wie zum Beispiel Reagenzgläser, Kühler und große Doppelwandreaktoren fertigen. Unsere erfahrenen Mitarbeiter fordern das passende Material über unser Warenwirtschaftssystem aus dem Lager an. Wenn wir also wie an dieser Arbeitsstation gerade einen Zweihalskolben, der im Grunde eine Glaskugel mit zwei Röhrenöffnungen ist, anfertigen wollen, dann benötigen wir dazu einen Kolben und einen Glasschliff. Einmal kurz bestellt, stellt unsere Logistikabteilung das Material in der gewünschten Anzahl innerhalb von nur 30 Minuten zur Verfügung", erklärte die Geschäftsfrau gestenreich, „Hier sehen Sie, wie das Verbindungsstück zugeschnitten und anschließend an einer Stelle des Kolbens mittels eines Gasbrenners erhitzt wird um ein Loch hinein zu blasen und eine Verbindung herzustellen. Schließlich wandern alle Werkstücke an das Ende dieser Halle, wo sie in einem großen Ofen auf etwa 600 Grad erhitzt und dann langsam abgekühlt werden, damit sich die Moleküle ordnen und das Glas nicht springt. Während Reagenzgläser so in wenigen Minuten hergestellt werden, erfordern kompliziertere Doppelwandreaktoren oft mehrere Stunden oder Tage."

„Diese Doppelwandreaktoren von denen Sie sprechen, wie groß sind die?", unterbrach Böhm den Redefluss von Frau Wuschnik.

„Da sind wir ganz variabel. Gängig sind genormte Größen. Die fangen bei der DN 60 mit einem Durchmesser von 65 Millimetern und einem Volumen von 0,1 Litern an und gehen bis zur DN 450 mit einem Durchmesser von 460 Millimetern und einem Volumen von 100 Litern", erklärte sie.

„100 Liter, ist schon nicht wenig,  aber können Sie auch größere Gefäße bauen. Etwas das, etwa 2 Meter im Durchmesser misst", fragte Böhm.

„Natürlich. Es ist der selbe Produktionsprozess, jedoch natürlich alles ordentlich hochskaliert. Da bläst dann auch niemand mehr per Mund, sondern eine Maschine und wir verwenden natürlich einen größeren Ofen, für Sonderanfertigungen."

Böhm kramte sein Handy hervor um ihr ein Bild vom Tatort zu zeigen. Es zeigte den Glasbottich, in dem das Mordopfer ertränkt wurde. Das Wasser war abgelassen und mit Maßbändern waren die Dimensionen des Behältnisses markiert worden.

„Was sagen Sie zu diesem Gefäß? Haben Sie das gefertigt?"

„Kann gut sein. Wir haben auf jeden Fall die technischen Möglichkeiten dazu."

„Das wurde in Ihrem aufgegebenen Werk in der Nürnberger Straße gefunden."

„Ach, darin soll also diese junge Frau ertränkt worden sein?"

„Ganz genau. Ich will nun herausfinden, was das im Speziellen für ein Gefäß ist und wie es dorthin kam."

„Es handelt sich hierbei wohlmöglich um einen Prototypen, da wir so etwas nicht serienmäßig produzieren. Offenbar gab es keine Verwendung mehr dafür, ansonsten wäre es nicht im alten Werk zurückgelassen worden. Ich kann gerne überprüfen lassen, wann das gefertigt sein könnte. Sicherlich gibt es eine Dokumentation dafür."

„Das wäre sehr hilfreich."

„Wenn Sie mir nun bitte in die nächste Halle folgen möchten."

Böhm lehnte höflich ab. „Ich denke, ich habe genug gesehen von ihrem Unternehmen. Ich würde nun gerne zu meinen Ermittlungen übergehen."

Frau Wuschnik blickte für einen kurzen Augenblick irritiert, fand aber schnell zu ihrer Souveränität zurück. „Nun gut, dann reden wir nun besser in meinem Büro weiter."

Böhm folgte der Frau aus der Produktionshalle zurück in das Verwaltungsgebäude, wo sie durch ein Treppenhaus und vermeintlich endlose Korridore in ein repräsentatives und modern eingerichtetes Büro gelangten.

Ihrem Besucher bot die Geschäftsführerin einen Stuhl an, sie selbst nahm Platz hinter ihrem überdimensionierten Mahagonischreibtisch in einem ledernen Bürostuhl.

„Wie kann ich Ihnen denn in Ihren Ermittlungen noch behilflich sein, Herr Kommissar?"

„Nun, ich frage mich, wieso sie nicht mitbekommen, dass ein Mord auf Ihrem Betriebsgelände begangen wird und die Leiche dort auch noch mehrere Tage unentdeckt bleibt? Dazu kommt noch, dass dafür eines Ihrer Produkte verwendet wird. Wenn ich hier Geschäftsführer wäre, würde ich wissen wollen, was auf meinem Gelände so passiert."

Frau Wuschnik erstarrte kurz, verschränkte ihre Arme vor der Brust und lehnte sich dann in ihrem Stuhl zurück. „Von welcher Firma sind Sie denn der Geschäftsführer, wenn ich fragen darf?", fragte sie provokant.

„Von keiner", antwortete Böhm.

„So tatsächlich?", sagte die Geschäftsführerin abfällig, „Dann sollten Sie sich auch nicht anmaßen meine Kompetenz anzuzweifeln." Es folgte ein scharfer Blick hinüber zum Beamten.

Böhm war für einen Moment sprachlos und fühlte sich durch Frau Wuschniks Worte herausgefordert. „Ich mag kein Geschäftsführer sein, aber als Kommissar des Morddezernats fühle ich mich verpflichtet, Fragen zu stellen, wenn etwas so Schreckliches wie ein Mord in dieser Stadt geschieht, besonders wenn es auf Ihrem Firmengelände geschieht", erwiderte er fest.

Frau Wuschnik runzelte die Stirn. „Ich verstehe, dass Sie hier nur Ihre Arbeit tun. Aber ich bin die falsche Ansprechpartnerin für Ihre Fragen. Das Gelände in der Nürnberger Straße gehört uns nicht mehr. Wir haben es vor drei Monaten an eine Immobilienfirma veräußert. Sie müssen also auch verstehen, dass wir, seitdem das Gelände nicht mehr in unserem Besitz ist, nicht für die Sicherheit dort verantwortlich sind. Die Immobilienfirma, die es jetzt besitzt, ist für die Entwicklung von Industriegebieten bekannt und hat ihre eigenen Sicherheitsprotokolle."

Böhm nickte langsam. „Das mag sein, aber es ändert nichts an der Tatsache, dass jemand auf dem Gelände gestorben ist. Es wirft Fragen über die Effektivität dieser Sicherheitsprotokolle auf."

Die Geschäftsführerin seufzte. „Ich versichere Ihnen, dass wir während unserer Verwaltung strenge Sicherheitsmaßnahmen hatten. Was danach geschah, liegt außerhalb unserer Kontrolle. Ich kann Ihnen jedoch die Kontaktdaten der Immobilienfirma geben, die jetzt für das Gelände zuständig ist, falls Sie weitere Nachforschungen anstellen möchten."

„Was ist das für eine Firma?"

„Bobrow Real Estate GmbH ist eine renommierte Firma hier in Würzburg, die sich auf die Entwicklung von industriellen Bausubstanzen spezialisiert hat," begann Frau Wuschnik, während sie die Visitenkarte an Böhm weiterreichte. „Sie haben einen ausgezeichneten Ruf für ihre innovativen Ansätze und nachhaltigen Projekte. In der Tat, ihre Arbeit in der Entwicklung neuer Materialien, die sowohl umweltfreundlich als auch kosteneffizient sind, hat ihnen mehrere Auszeichnungen in der Baubranche eingebracht."

Böhm betrachtete die Visitenkarte genauer. Das Logo zeigte einen Bieber mit einem Bauhelm, der auf dem Firmennamen 'Bobrow Real Estate GmbH', der in kräftigen gelben Lettern gedruckt war, stand.

„Wieso haben Sie sich genau für diesen Makler entschieden?", wollte Böhm nun wissen.

„Sie wurden nach einem strengen Auswahlverfahren für eine große Ausschreibung ausgewählt, bei der sie ihre Konkurrenten durch ihre fortschrittlichen Technologien und ihr Engagement für Qualität übertrafen," fuhr Frau Wuschnik fort. „Ihre Projekte reichen von kleinen industriellen Einheiten bis hin zu großen Gewerbeparks, und sie arbeiten eng mit lokalen Behörden zusammen, um sicherzustellen, dass ihre Entwicklungen den Gemeinschaften zugutekommen."

Böhm nickte verstehend. „Das klingt nach einer Firma, die weiß, was sie tut. Ich werde mich mit Herrn Bobrow in Verbindung setzen und mehr über ihre Sicherheitsprotokolle erfahren. Vielleicht können sie Licht in diese tragische Angelegenheit bringen."

Frau Wuschnik lächelte gespielt. „Das ist eine gute Idee, Herr Böhm. Wenn Sie weitere Informationen benötigen, stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung."

Mit der Visitenkarte in der Hand und einem neuen Anhaltspunkt in seinem Fall verließ Böhm das Büro, bereit, die nächsten Schritte zu unternehmen.

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