11 - Obduktion
In Sektionssaal 2 des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Würzburg, welches sich im Stadtteil Grombühl befand, lag der kalte, aufgedunsene und bleiche Körper von Jessica Meininger. Von ihrer einstigen Schönheit war nicht mehr viel geblieben. Ein Radio spielte Rockmusik, die von den glatten Fliesen der Wände widerhallte und die Stille des Todes übertönte.
An einem Tisch saßen Julia Höhn und Wolfgang Neppe, zwei Rechtsmediziner, die auf einen Computerbildschirm blickten.
„Influencer, die überflüssigsten und unwichtigsten Kreaturen, die es gibt", las Höhn mit verächtlichem Ton vom Monitor ab.
„Vollkommen überflüssige Zeitgenossen (m/w), aber die äußerst dumme Generation Z braucht diese Selbstdarsteller (m/w), da sie selbst nicht in der Lage ist sich eine eigene Meinung zu bilden. Wurden doch von Mami und Papi alle bösen Einflüsse während der Kindheit fern gehalten", entgegnete ihr Neppe mit einem anderen Kommentar, der nicht weniger voller Verachtung war.
„Influencer, ist das eine Krankheit ???" Höhn verstellte ihre Stimme, sodass diese der eines Höhlenmenschen ähnelte.
„Schlimmer als Pest und Cholera zusammen!", antwortete ihr Neppe in einer ähnlich albernen Stimmlage.
„Influencer sind die Pest der neuen Gegenwart. Dumm faul und gefräßig - wollen alles umsonst, aber nichts leisten!" Höhn las weiter und schüttelte den Kopf über die absurden Vorwürfe.
Nun war wieder Neppe an der Reihe: „Was haben Influencer eigentlich für eine Daseinsberechtigung? Sinnloses unproduktives Volk."
„Infaulenzer sind dumm und machen Fotos für noch dümmere Follower!" Als sie diesen Satz vorlas, prustete Höhn vor lachen.
„INFLUENCER... die Protzkotzbrocken der Neuzeit..." Neppe las den nächsten Kommentar vor, der Jessica Meininger und ihresgleichen als arrogante und verschwenderische Menschen beschimpfte.
Höhn und Neppe brachen in schallendes Gelächter aus.
„Wie schön, dass dieser triste Sektionssaal endlich ein Ort des Frohsinns geworden ist!", ertönte es plötzlich hinter den beiden Rechtsmedizinern. Die Stimme klang ironisch und vorwurfsvoll.
Ihr Lachen stoppte abrupt. Erschrocken und ertappt drehten sie sich um und erblickten Michael Engelhardt und Jan Böhm. Sie waren etwas früher als vereinbart. Engelhardt blickte anschuldigend in ihre Richtung.
„Julia, hol doch bitte mal die restlichen Werkzeuge." Neppe versuchte, die peinliche Situation zu überspielen und gab seiner Kollegin einen Wink.
„Natürlich", antworte Höhn und verschwand schnell durch eine Stahltüre im Nebenraum um sich der Peinlichkeit dieses Moments zu entziehen.
„Oh man, du arbeitest also immernoch mit dieser Schreckschraube Höhn zusammen?", sagte Engelhardt zu Neppe und bewegte seinen Kopf dabei in Richtung der Tür, hinter der Höhn soeben verschwunden war. Sein spöttischer Unterton war unüberhörbar.
„Natürlich. Sie leistet tolle Arbeit, daran besteht kein Zweifel!", rechtfertigte Neppe. Er mochte Höhn und schätzte sowohl ihre Kompetenz als auch ihren Humor - eine Eigenschaft, die in ihrem Gebiet besonders wichtig war. Er fand es unfair, dass Engelhardt sie so abwertete. Böhm schüttelte fremdschämend seinen Kopf und blickte beschämt auf den kalten Fliesenboden.
„Ja, die macht das schon gut, aber Sie wollen hier doch ihren Augen auch mal was gönnen, oder?", fuhr Engelhardt fort und zwinkerte Neppe zu, „Ganz hässlich ist die ja nicht. Hat schon eine gute Figur, sie müsste halt mal mehr aus sich machen. Geb der doch mal 500 Euro in die Hand und schick sie zur Kosmetikerin. Die bewirken da manchmal wahre Wunder!" Er lachte laut auf und klopfte Neppe auf die Schulter.
Julia Höhn betrat den Raum mit einem Rollwagen, der mit Sektionsinstrumenten bestückt war. Neppe bemerkte, wie sie keinen Blick an Engelhardt verlor.
„Können wir uns jetzt endlich der Arbeit widmen?", fragte Neppe genervt. Er wollte sich auf die Obduktion konzentrieren und nicht auf Engelhardts dumme Sprüche.
„500 Euro - mir wär's das wert!", sagte Engelhardt abschließend mit einem Augenzwinkern. Neppe blickte nur kurz mit einem genervten Blick zu dem Kommissar und gab ihm damit zu verstehen es endlich dabei zu belassen.
Neppe, Höhn, Engelhardt und Böhm versammelten sich um den Sektionstisch auf dem die Leiche von Jessica Meininger lag. Die Luft war erfüllt von einem stechenden Geruch nach Desinfektionsmitteln und dem süßlichen Hauch des Todes. Das kalte Neonlicht warf lange Schatten und ließ die bleiche Haut von Jessica Meininger noch gespenstischer erscheinen.
„Der Körper der jungen Frau zeigt einige Hämatome auf. Es scheint mir, als sei sie mit der Hand geschlagen worden", erklärte Neppe seine Eindrücke aus der äußeren Leichenschau und verdeutlichte seine Aussage zusätzlich, indem er auf eine besonders auffällige Prellung am Oberarm zeigte, „sie sind keinesfalls zufällig und sind daher ein klares Anzeichen von Gewalt."
„Das passt soweit zu dem, was wir über den Mord wissen", kommentierte Engelhardt mit gelangweilter Stimme.
Neppe nickte seiner Kollegin zu und mit einem routinierten T-Schnitt im Torso begann die Obduktion.
Mit einer Rippenschere wurden nun die Rippen und das Brustbein entfernt. Der Körper war nun geöffnet und Neppe machte sich daran fachmännisch die einzelnen Organe abzutrennen und an Höhn zu übergeben, welche sie wog und die Messergebnisse auf einer Kreidetafel dokumentierte. Als Neppe schließlich mit geübter Hand die Lunge aus dem Brustkorb hob und das Wasser auslief, das sie vollständig füllte, herrschte einen Moment lang Stille. „Aspiration", murmelte er, „kein Zweifel möglich. Das war die Todesursache, aber damit werde ich Sie beide wohl kaum überraschen."
„Ersticken?", fragte Böhm.
„Ertrinken ist eine Sonderform des Erstickens. Man unterscheidet dabei sogar ob es mit Salzwasser oder Süßwasser geschieht. In diesem Fall war es ganz klar Süßwasser", erklärte Neppe und klang dabei sachlich nüchtern. Das musste er auch sein, das war immerhin sein Job und er wurde tagtäglich mit dem Tod konfrontiert. Er hatte die junge Frau nicht gekannt, außer den kritischen Kommentaren aus dem Internet wusste er nichts über sie - zumindest über ihr Leben. Ihre letzten Stunden und ihren Tod würde er in Kürze rekonstruieren.
„Süßwasser? Das erkennen Sie woran?", wollte Böhm nun wissen.
„Die Konzentration der Wassermoleküle in der Lunge war höher als die in den Zellen des anliegenden Gewebes. Um diesen Konzentrationsunterschied auszugleichen, diffundierten Wassermoleküle aus dem Lungengewebe in die Erythrozyten, welche letztlich platzen." Neppe zeigte seine Beobachtung, aber er zweifelte stark daran, dass die beiden Kommissare genau verstanden, was er ihnen sagen wollte. Und er zweifelte daran, dass sie genau genug hingesehen hatten.
„Auf jeden Fall hat diese junge Frau recht schnell das Bewusstsein verloren, nachdem erstmal Wasser in ihre Lunge gekommen war. Dafür sorgt der sogenannte Stimmritzenkrampf, der eigentlich dafür sorgen soll, dass kein Wasser in die Atemwege gelangen kann."
„Und dann ist sie sofort gestorben?", fragte Böhm.
„Nun, nach etwa drei bis fünf Minuten ohne Sauerstoffzufuhr, beginnen Gehirnzellen abzusterben..." Neppe sah betroffen auf die sterblichen Überreste der jungen Frau.
„Tja, während wir hier Wasserleichen untersuchen, macht sich Rose mit dieser anderen Influencerin ein schönes Leben irgendwo in der Sonne", ätzte Engelhardt.
Julia Höhn ließ ihr Skalpell auf den Boden fallen.
„Rose hat sich das nicht ausgesucht. Lechner hat das entschieden", verteidigte Böhm seinen Partner.
„Ach, mein junger Kollege Böhm! Sie haben noch viel zu lernen. Ich glaube Sie sollten heute abend mal mit mir in die Sauna gehen. Kennen Sie das Schwimmbad in der Sanderau, direkt am Ringpark?"
„Das kenne ich."
„Na, dann sollten wir uns doch mal beim gemeinsamen Saunieren kennenlernen und ich kann Ihnen mal ein paar Dinge beibringen, die in diesem Beruf unabdingbar sind. Wie klingt das?"
„Glauben Sie wirklich, dass das hier der richtige Ort für die Planung ihrer abendlichen Freizeitgestaltung ist?", fragte Neppe, der gerade beide behandschuhten Hände im Leichnam hatte. Er war sauer über die pietätlose Art der beiden Kommissare.
„Wollen Sie auch mitkommen? Bringen Sie doch am Besten noch Miss Redhead mit und wir nennen es Betriebsausflug", scherzte Engelhardt und nickte in Richtung von Höhn um zu verdeutlichen wenn er mit Miss Redhead gemeint hatte.
Julia Höhn blickte angeekelt Engelhardt entgegen. „Da verrotte ich doch lieber zusammen mit meinem Basilikum auf dem Balkon."
„Ist ja schon gut, ich denke darüber nach", sagte Böhm zögerlich und verhinderte damit, dass Engelhardt Höhns Aussage kontern konnte. Neppe war insgeheim sehr froh über diese Unterbrechung, denn er war sich sicher, dass Engelhardts nächste Aussage sicherlich deutlich unter der Gürtellinie gewesen wäre. Damit wäre eine Grenze überschritten gewesen und er hätte als ihr Vorgesetzter eingreifen müssen, was sicherlich für jede Menge weiteren Ärger gesorgt hätte. Ärger konnte er nicht gebrauchen. Er war ein ruhiger Mensch, der Harmonie liebte. Sein Beruf war schon aufregend genug.
Engelhardt wendete sich von Höhn und Neppe zu Böhm. „Klasse, dass Sie dabei sind! Die machen dort heute abend einen ganz besonderen Aufguss. Den werden Sie lieben!"
„Ich denke bis dahin, haben wir noch einiges zu tun", mahnte Böhm, „Der Mann von den Fotos und Videos ist inzwischen identifiziert worden. Es handelte sich um Tom Weber, einen bekannten Fotografen. Er könnte über Informationen verfügen, die den Fall ordentlich voranbringen könnten."
„Wenn er es nicht selbst war..."
„Möglich, aber wir dürfen uns darauf nicht versteifen."
„Ich werde ihm das schon aus der Nase ziehen", sagte Engelhardt selbstbewusst.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top