Warum man sich nicht erkälten sollte
Ich war nicht wirklich verwundert, als nach meiner unfreiwilligen Taufe bereits am Abend das Niesen begann. Oder in der Nacht die Kopfschmerzen. Der Husten an Sonnenaufgang. Mein Körper fühlte sich an, als hätte eine wildgewordene Masseuse sich stundenlang an ihm ausgetobt. Normale Menschen hätten mit einer kleinen Unterkühlung keine derartigen Probleme, aber die standen mit ihrem Immunsystem auch nicht auf Kriegsfuß. Ich hingegen hatte Allergien und Autoimmunerkrankungen eingesackt wie andere Bonuspunkte im Supermarkt.
Ich wollte ein kleines bisschen sterben.
„Oh mein Gott!" Stöhnend drückte ich meine Stirn gegen meinen Spind. Mir tat alles weh und meine Nase sonderte Flüssigkeiten ab wie ein undichter Wasserhahn. Im Moment war ich einfach nur eklig. Aber trotz aller Ekligkeit musste ich zur Vorlesung, also zog ich lautstark die Nase hoch und suchte in meinem Spind nach den unzähligen Taschentuchpackungen, die ich für alle Fälle dort lagerte.
Fünf landeten schließlich in meinem Rucksack, bevor ich ihn schulterte und meine Spindtür wieder in die Angeln warf. Dann stand ich erstmal ein paar Minuten blöd herum und versuchte zu verarbeiten, dass ich gleich rotzend meine Meinung zur Mitarbeiterbindung zum Besten geben durfte, wonach mir im Moment so absolut gar nicht war. Ich wollte einfach hier stehenbleiben und zwischen den übrigen Leidensgenossen verschwinden. Eins mit der Studentenschar werden. Zum Einheitsbrei mutieren. Oder noch besser: der Vorlesung fernbleiben und stattdessen in der Cafeteria versauern. Die Bibliothek wäre da zwar bequemer, weil Sofas, aber die Angestellte dort nahm ihren Job etwas zu ernst und schmiss alle Lebewesen heraus, die es wagten, in ihrem Heiligtum zu schnarchen. Außerdem stand es nicht unbedingt auf meiner Wunschliste, von alten Frauen dominiert zu werden – ältere Männer hingegen waren vollkommen in Ordnung, solange sie Alexander hießen und reichlich Asche besaßen.
Nach einigem Hin und Her fasste ich schließlich den Entschluss, wie ein böser Bube zu schwänzen, und tauchte zwischen den anderen traurigen Geschöpfen unter, ließ mich von ihnen durch die Flure scheuchen bis zur Abzweigung, die zu meinem Ziel führte. Dort kapselte ich mich ab und huschte durch die schwere Doppeltür ins Innere der Cafeteria. Daheim wäre auch noch eine Option gewesen, aber dort müsste ich ständig Gefahr laufen, dass meine Mutter kurzfristig zurückkehrte, um irgendwelche vergessenen Unterlagen zu holen. Also lieber nicht.
„Freiheit", murmelte ich und breitete gar nicht merkwürdig die Arme nach beiden Seiten aus, während ich mich nach einem sicheren Schlafplatz umschaute.
Im Raum verteilt saßen bloß ein paar Menschen und lernten oder aßen ein verspätetes Frühstück. Freie Plätze gab es noch reichlich, also schlich ich mich an ihnen vorbei ans hinterste Ende und ließ mich dort an einen leeren Sechsertisch fallen. Meinen Rucksack legte ich vor mich, um meinen zentnerschweren Schädel auf ihm abzulegen und in Frieden von Dannen zu gehen. Ab ins Traumland, ohne Wecker.
Ich grunzte ein letztes Mal, bevor ich mit Stoff in der Fresse wegdöste.
Sabber klebte mir am Kinn. Das war das Erste, das mir auffiel, als ich mein Bewusstsein wiedererlangte und mir über die Lippen wischte. Außerdem war mein linkes Nasenloch komplett verstopft und mein Schädel dröhnte.
Ich stemmte mich in die Senkrechte und starrte auf meinen Rucksack runter. Da war ein dunkler Fleck genau dort, wo ich gelegen hatte – den hoffentlich bloß ein paar vereinzelte Leute gesehen hatten. Die Uhr über der Essenausgabe verriet mir nämlich, dass ich gerade einmal siebzig Minuten verschlafen hatte. Die erste Pause und damit auch der erste Menschenandrang hatten demnach noch nicht stattgefunden. Gut für mich.
„Den Flüssigkeitsverlust solltest du ausgleichen."
Offensichtlich doch nicht gut für mich.
Langsam, enorm langsam, drehte ich meinen Kopf nach rechts. Und schrie innerlich, weil die gesamte verfickte Cafeteria bis auf vielleicht fünf andere Studenten leer war, aber Alexander natürlich unbedingt einer dieser fünf Studenten sein musste!
„Äh", machte ich und kratzte mir eilig die letzten Reste getrockneten Speichels aus den Mundwinkeln. Wofür es vermutlich schon längst zu spät war. Ich wollte lieber gar nicht wissen, wie lange er schon neben mir saß und mir beim Schlafen zugesehen hatte.
Moment.
Warum hockte er überhaupt hier und beobachtete mich? Das war meine Aufgabe, nicht seine! Er durfte das nicht!
„Wer hat dir erlaubt, dich einfach neben mich zu setzen und mich anzustarren? Das gehört sich nicht!" Okay, es war irgendwie nicht geplant gewesen, es auch laut auszusprechen. Ich krallte mich an meinem Rucksack fest, genau da, wo er feucht war. „Ich meine-"
„Ach?" Das knappe Senken seiner Augenlider ließ mich verstummen. Ich hätte mein Leben darauf verwettet, dass er mit exakt diesem Blick ein Schabennest in seinem Abfalleimer bedachte. „Und was genau lässt dich in dem Glauben, ausgerechnet du wärst in der Position, mir das sagen zu dürfen?"
Da war was dran.
Ich hüstelte, fand dieses Mal aber keine Worte. Was gar nicht schlecht war, weil ich so wenigstens keinen Müll von mir geben konnte. Doof nur, dass ich stattdessen knallrot anlief, als der masochistische Teil meiner Psyche meinte, mir ausgerechnet jetzt versichern zu müssen, dass ich gerade wie verdaut und ausgekotzt aussah. Als hätte eine Kuh mich gefressen und gerade vom zweiten in den dritten Magen übergestülpt.
Warum konnte Alexander nicht ein einziges Mal dann neben mir auftauchen, wenn ich gerade zum Anbeißen gut aussah?
Vermutlich, weil das wahnsinnig selten vorkommt.
„Dachte ich mir." Er nahm mein Schweigen hin, während mein Verstand komplett auf pessimistische Sparflamme umschaltete. Jedenfalls so lange, bis er mir urplötzlich ein Glas Wasser zuschob. Auf der mir zugedrehten Seite erkannte ich die Initialen unserer Universität. Ein großes H und ein noch größeres P. „Hier, trink."
Also, unter anderen Umständen hätte ich vermutlich absolut alles in den Mund genommen, was mir von ihm aufgedrängt worden wäre, allerdings bestand hier gerade das Problem, dass das Wasser blubberte. Aber nicht überall, sondern nur in der Mitte, und zwar dort, wo ich die letzten Reste einer schneeweißen Tablette erkennen konnte.
„Uhm." Ich zog das Glas näher an mich heran, ohne einen Schluck zu nehmen. Ich wollte kontrollieren, ob ich mir das Gesprudel nicht bloß einbildete und die angebliche Tablette in Wirklichkeit eine alte Kalkablagerung war, die die Spülmaschine nicht wegbekommen hatte, aber nope, ich irrte mich nicht. Da war etwas in diesem Getränk, was definitiv nicht in dieses Getränk gehörte.
Ich war überfordert.
„Keinen Durst?" Alexanders Gesichtsausdruck wurde freundlich, einlullend, auf eine grausame Art. Wie die letzte Mahlzeit vor der Exekution.
„Also-" Ich funktionierte immer noch nicht richtig. Ging auch gar nicht anders, wenn hier gerade ziemlich offensichtlich versucht wurde, mich unter Drogen zu setzen. Überhaupt, wieso dachte er eigentlich, er würde mir welche untermischen müssen, damit ich ihm nach Hause folgte? Ich würde mir auch hier in der Schule in der Besenkammer des Hausmeisters die Jungfräulichkeit stehlen lassen. Und außerdem, wenn mir schon jemand zum ersten Mal etwas hinten reinsteckte, wollte ich das bitte live miterleben, vielen Dank.
„Ich höre?" Mittlerweile hatte er den Kopf schief gelegt. Ein Hauch seines Aftershaves waberte mir bei der Bewegung entgegen, und ich beugte mich automatisch ein bisschen zu ihm rüber, um einmal lautstark durch meine verstopfte Nase einzuatmen.
Ich war Unauffälligkeit in Person.
Sein rechter Mundwinkel zuckte in die Höhe, und es war nicht fair, dass er selbst bei so einer normalen Geste meine Boxershorts ausfüllte! „Rieche ich gut?"
„Du riechst nach Scheiße." Warum tat ich das? Warum konnte ich nicht einfach bejahen wie ein emotional gesunder Mensch?
„Ach ja." Das Schmunzeln wuchs an, jetzt aber mit einem Tropfen Wie mutig von dir. „Dann wirst du also generell hart, wenn jemand nach Scheiße riecht?"
Gute Frage.
Ich zog meinen Rucksack hastig in meinen Schoß. Man musste ja nicht extra mit erhobenen Gliedmaßen durch die Gegend rennen.
„Und schon verlässt ihn seine Unverschämtheit wieder. Ging ja schnell." Seine Hand wanderte über den Tisch, bevor er mit dem Zeigefinger gegen das Glas tippte. „Ich glaube, ich habe dir gerade gesagt, dass du austrinken sollst, Jonah."
Ob es irgendwie seltsam wäre, ihn zu bitten, meinen Namen nochmal zu wiederholen? Vielleicht mit einem unschuldigen Stöhnen am Anfang?
Ich riskierte einen scheuen Augenschlenker in seine Richtung, zu seinem irgendwie immer noch makellos gebügeltem Hemd, der perfekt gebundenen Krawatte, dem rötlich glänzenden Streifen Gewebe auf der Außenseite seiner linken Hand.
„Huh." Ich blinzelte die Narbe an, die leicht über dem normalen Hautniveau in die Höhe wucherte, vom Daumengelenk bis zum Beginn seines Unterarms. Die sah ich heute zum ersten Mal, also musste sie noch relativ frisch sein, sonst wäre sie mir bestimmt aufgefallen, so akribisch, wie ich seinen Facebook-Account und jedes einzelne Foto darauf stalkte.
Wie in Zeitlupe streckte ich die Finger aus und berührte die Stelle. Sie war derb und uneben, aber nicht so rau, wie ich es erwartet hätte. Es kitzelte sogar ein bisschen an meiner Kuppe, weil die feinen Härchen auf seinem Handrücken und dem Arm sich aufgestellt hatten, wie im Winter, wenn man Gänsehaut bekam.
Gänsehaut.
Überrascht sah ich hoch, mitten in seine Augen, die auf unsere Hände gerichtet waren. Sein Mund stand minimal offen – für einen winzigen Moment nur, dann lächelte er wieder. „Fasst du andere Menschen immer ohne Erlaubnis an?"
Sofort zog ich meine Hand wieder zurück und, als ich einen erneuten Blick nach unten riskierte, war da nichts mehr mit Gänsehaut.
„Also", er nahm seine Hand ebenfalls vom Tisch, „wolltest du nicht gerade etwas trinken?"
Bloß dass genau das Gegenteil mein Plan war. Ich meine, ich wollte bestimmt nicht in der Schule das Bewusstsein verlieren und es dann dem Zufall überlassen, was mit mir passierte. Alexander abweisen wollte ich allerdings genauso wenig. Das hier war eine ganz blöde Zwickmühle.
„Ich bin eigentlich überhaupt nicht durstig", wich ich aus und schwenkte das Glas von einer Seite zur anderen. Mit etwas Glück schaffte ich es, den Inhalt aus Versehen überschwappen zu lassen, bis nichts mehr übrig wäre.
„Das heißt", er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, „du willst mein Geschenk einfach ablehnen? So unhöflich hätte ich dich gar nicht eingeschätzt."
Ich biss mir auf die Unterlippe. „Meine Mutter meint, ich habe generell das Problem, immer viel zu unhöflich zu sein."
„Wirklich? Dann ist das ja die perfekte Gelegenheit, um dich und mich vom Gegenteil zu überzeugen."
Und was ist, wenn ich dich und mich aber gar nicht vom Gegenteil überzeugen will? Wenn ich ganz gerne unhöflich bin? Unhöflich und unartig? Fast hätte ich es gesagt – also, fast hätte ich es in meiner Fantasie gesagt, weil ich mir beim besten Willen nicht vorstellen konnte, diesen Satz in der Realität auszusprechen. In Pornos klang das vielleicht geil, aber mit meiner Stimme? Niemals.
„Ich", hätte gerne mehr Selbstbewusstsein, „will, äh, das lieber nicht runterschlucken. Da ... ist 'ne Fliege drin. Außerdem hab ich auch mein eigenes Trinken dabei, deswegen ..." Ich ließ den Rest des Satzes offen in der Luft hängen und wedelte dabei vor meiner Brust herum. Eigentlich hätte es ein lässiges Abwinken werden sollen, aber ich sah mit Sicherheit eher aus, als wären mir unfreiwillig Winde abgegangen und ich würde versuchen, den Geruch zu vertreiben.
„In dem Fall bin ich wohl machtlos." Er sah seltsam zufrieden aus, während er mit den Schultern zuckte, bevor er sich nach rechts zu seinem Rucksack hinunterbeugte und mit einer grün-weißen Pappschachtel bewaffnet wieder auftauchte. „Das sollte dir gegen deine Erkältung helfen."
Ich starrte auf das dicke, weiße Aspirin am oberen Rand der Packung.
Ich war so ein gottverdammter Idiot. Wieso hatte ich überhaupt gleich an Drogen gedacht? Hätte Alexander mich vergiften wollen, wäre er die Sache doch wohl subtiler angegangen. Welcher halbwegs intelligente Primat würde jemandem ein Glas mit Narkotika zuschieben, bevor diese vollständig aufgelöst waren? Richtig, niemand.
Ich wünschte, ich hätte eine Kapuze, hinter der ich mich verstecken könnte.
„Das-" Meine Zunge klebte am Gaumen fest. Mir fiels nichts ein, womit ich erklären könnte, weshalb ich ihn gerade minutenlang indirekt als potentiellen Vergewaltiger beschuldigt hatte. Auf so einen Ausgang hatte der Stranger-Danger-Unterricht mich nicht vorbreitet!
Woran er sich allerdings dem Anschein nach nicht störte. Er lachte sogar, als er seinen Stuhl zurückschob und aufstand. „Was dachtest du, wollte ich dir unterjubeln? Rohypnol?"
Ich spürte mein Gesicht brennen. „... nein."
„Bist du dir sicher?" Er verzerrte die Mundwinkel zu so einem abartig breiten Grinsen, dass sogar seine Attraktivität darunter litt. „Aber ich muss zugeben, es reizt mich, wenn du nicht blind alles tust, was ich dir sage." Und damit ließ er mich sitzen, mich und meinen Ständer, der sich unter meinem Rucksack gegen meine Stoffhose drängte.
Es reizte ihn, wenn ich verzogen war.
„Fuck." Ich stemmte beide Ellbogen auf den Tisch und wischte mir übers Gesicht – und das Glas zu Boden.
Stumm blinzelte ich auf die Scherben, die sich wild auf den grauen Fliesen zu meinen Füßen verteilt hatten.
„Toll." Ich seufzte, kramte mein Zeug zusammen und watschelte zum Verkaufstresen, um nach einem Handfeger zu fragen. Mit gut sichtbar ausgebeultem Schritt, der einfach nicht weggehen wollte.
Ehrlich, Hormone waren doch einfach grausam.
„Wieso bist du schon wieder erkältet?"
In solchen Momenten fühlte ich mich stets sehr geliebt von meiner Mutter. Vor allem, wenn sie dabei noch eine Grimasse schnitt, als wäre sie mit den Absätzen ihrer High Heels in einen Hundehaufen getreten.
„War keine Absicht", murmelte ich und stellte und hängte Schuhe und Jacke an ihre vorgesehenen Orte in und an der Garderobe im Flur.
„Dann hättest du das Haus nicht verlassen sollen. Willst du, dass die Nachbarn denken, ich schicke meinen Sohn krank zur Schule?"
Nutzlos zu erwähnen, dass sie genau das heute Morgen getan hatte.
„Entschuldigung."
Sie schnaubte und ging an mir vorbei. „Ich melde dich für die nächsten Tage vom Unterricht ab."
Ich nickte, betrachtete ihren Aufzug. Der Tag, an dem ich sie mal in Schlabberklamotten erlebte, ging die Welt unter. „Musst du nochmal weg?"
„Ja. Es wird spät werden, also warte nicht auf mich." Die Eingangstür fiel hinter ihr ins Schloss. Das Klicken hallte leicht nach, während ich mir den Rucksack von den Schultern schüttelte und dann auf Knien darin herumkramte, bis meine Finger sich um die Aspirinpackung schlossen. Im Beipackzettel stand, dass man das Zeug schon ab zwölf Jahren nehmen durfte, aber nervös war ich trotzdem, weil ich allgemein keine Medikamente mochte. Vor allem meine Darmflora nicht – Durchfälle waren nämlich unpraktisch und machten es mir schwer, mein Gewicht zu halten.
„Jetzt stell' dich mal nicht so an." Ich straffte die Schultern. Das waren immerhin nur Brausetabletten, eine pro Einnahme alle acht Stunden. Nach der, die Alex heute in mein Getränk getan hatte, sollte ich also noch welche für exakt drei Tage überhaben. Neun Stück. Und danach wäre diese nervige Erkältung hoffentlich ausgestanden.
Ich ächzte höchstdramatisch, rüstete mich mit einem Glas Wasser aus und öffnete die Pappschachtel.
Und hielt inne.
Das waren zehn einzelverpackte Tütchen, nicht neun, sondern zehn. Aber wenn der Inhalt noch unangetastet war, was hatte Alexander mir dann heute früh-
Stumm drückte ich den Deckel wieder zu und verfrachtete die gesamte Packung in den Mülleimer.
Tee und eine Mütze Schlaf taten's bestimmt auch.
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