Warum man nicht allein auf Partys herumlaufen sollte
Kurze Anmerkung:
Hab das Alter hochgeschraubt, weil keine Lust auf das Setting und so passt es besser zu dem, das ich noch geplant habe: Jonah wird achtzehn, Alex ist um die zwanzig rum und beide gehen auf die Uni. Kennengelernt haben sie sich jetzt erst vor knapp 'nem Jahr. Der Rest bleibt - abgesehen von paar Gesprächsfetzen und Gedankengängen, die aber keinen Einfluss auf den Verlauf der Geschichte haben - gleich, also kein Nachlesen nötig.
„Warum bist du noch nicht angezogen?"
Weil panische Panik-Panik gerade meinen Verstand einhüllte und ich mir deswegen fast in die Boxershorts machte?
„Alex hat mir geschrieben", murmelte ich stattdessen und hielt den Blick demonstrativ gesenkt, damit meine Mutter nicht bemerkte, dass ich log. Nicht dass sie besonders auf mich achtete, aber generell ging sie ständig davon aus, dass ich böse Dinge tat. So böse Dinge wie Spaß haben, obwohl ich auch keinen Spaß haben könnte. „Er meinte, ich soll doch erst gegen zehn kommen."
„Und warum?"
„Weiß ich nicht. Das war alles, was da stand."
Sie schnalzte mit der Zunge. „Wir fahren um Punkt halb zehn hier los. Keine Sekunde später."
„Okay."
Ein letzter Blick, bevor sie aus meinem Zimmer verschwand und ich meinen Körper in sich zusammenfallen ließ. Vielleicht war es dumm, was ich hier tat, aber ich konnte einfach nicht anders. Ich meine, was wäre, wenn ich um Punkt sieben bei ihm auftauchte und die Stimmung haperte noch? Dann müsste ich Smalltalk halten, weil Alexander bestimmt nicht wie ein Babysitter ständig nur an meiner Seite kleben würde, oder – noch schlimmer! – ich fand niemanden, der Smalltalk mit mir führen wollte, und dann müsste ich komplett allein in einer Ecke herumstehen, während alle sich darüber lustig machen würden, dass keiner sich mit mir unterhalten wollte, was Alexander schließlich die Augen öffnen und ihn dazu bringen würde, mich fallen zu lassen, ehe er mich überhaupt erst aufgehoben hatte, weil ich mich so verfickt inkompetent anstellte.
Oh Gott.
Ich rollte mich aus meinem Bett und blieb einfach auf dem Boden liegen, wie ich aufkam.
Was gäbe ich dafür, jemanden zu haben, der mir dabei zusehen konnte, wie dramatisch ich war.
Das Praktische an der Anti-glückliche-Kindheit-für-unseren-Sohn-Koalition meiner Mutter mit meinem Vater war, dass mir Zugang zum Familienlaptop erlaubt wurde, wann immer ich behauptete, etwas für meine Allgemeinbildung machen zu wollen, damit sie sich nicht um mich kümmern mussten.
Jetzt gerade tat ich allerdings absolut nichts für meine Allgemeinbildung.
Stattdessen hockte ich mit Kopfhörern in den Ohren direkt vor meiner geschlossenen Zimmertür – für die ich keinen Schlüssel besaß – und war damit meine ganz eigene Alarmanlage, falls Mama versuchen sollte, mich zu stören, während ich mich auf Instagram herumtrieb und mir dumme Bilder der Party anguckte, auf der ich eigentlich schon längst sein sollte. Seit über zwei Stunden schon.
Ich klickte auf ein paar Profile von Alexanders Ex-Freundinnen und fand schließlich sogar ein paar kurze Clips. Die meisten zeigten nur Jungen und Mädchen, die bunte Cocktails exten oder in Unterwäsche in einen beleuchteten Pool sprangen, aber einige waren auch ... anders.
Ich hob beide Brauen und starrte auf das fettgedruckte Who he? He diiirrrrtyyy unter einem Video, das einen Kerl auf einem Tisch zeigte, der eine besondere Tanzeinlage zum Besten gab. Eine, die definitiv nicht auf einen Tisch gehörte, sondern auf eine Bühne. Mit einer Stange in der Mitte und zahlender Kundschaft drumherum. Ich meine, was zum Teufel? Die meisten auf der Feier waren zwanzig, und Zwanzigjährige brauchten keinen Stripper! Vor allem nicht einen, der schlank war und einen hübschen Hintern hatte, der sich bewegen konnte wie eine verdammte Schlange und der überall Piercings hatte und-
Moooment. Das Gesicht kannte ich doch! Das war der Internjet-Typ, der, der ausgesehen hatte, als müsste er gleich losheulen, bloß weil ich ihm sein Handy nicht sofort wiedergegeben hatte. Und ausgerechnet der gab der Tischoberfläche jetzt einen Lapdance, oder was?
Zweifelnd starrte ich auf seine weit gespreizten Beine und den nach hinten gebogenen Oberkörper, wie er seine rechte Hand von seiner Brust über den Bauch bis hinunter zu seinem Hosenbund gleiten ließ, gemächlich, bevor er sie genau dort platzierte, wo der väterliche DNA-Anteil bei Babys herkam. Kreisende Hüften inklusive.
Und das Schlimmste?
Die Leute, die zusahen, standen voll drauf. Kerle johlten, Weiber quietschten. Alexander gefielen solche Sachen bestimmt auch.
Ich schüttelte den Kopf. Natürlich gefielen ihm solche Sachen. Männer, die sich gut bewegen konnten, waren eben heiß. Und wenn der Möchtegernstripper schon in aller Öffentlichkeit so abging, wer sagte dann, dass er nicht auch-
Stumm beendete ich das Video und schloss den Browser.
Was sollte Alexander mit einer Jungfrau, wenn er jemanden wie ihn haben konnte?
Ich fühlte mich sehr, sehr unwohl. Nicht nur aufgrund der Tatsache, dass ich auf einer Feier, in der Leute teilweise in Bikinis herumturnten, wegen meiner Mutter in einem Hemd auftauchen musste, sondern auch weil ich nicht wusste, wohin mit mir. War ich davor zu nervös gewesen, einer der Ersten zu sein, war ich jetzt nervös, einer der Letzten zu sein. Ich meine, wie sollte ich mich irgendwo untermischen, wo sich doch schon längst alle in Grüppchen aufgeteilt hatten? Und ich allgemein schon zu seltsam war, um überhaupt Freunde in meinem Alter zu finden?
Mein Plan wies eindeutig Lücken auf.
Ich krallte mich in die Weinflasche in meinen Händen, die – laut meiner Mutter – mehr kostete als meine eigene Existenz, und starrte auf Bäume. Bäume überall. Alexander hatte dem Anwesen den niedlichen Namen Haus am Stadtrand gegeben, aber tatsächlich verdiente es eher die Bezeichnung Villa mitten im Wald. Immerhin war die nächste Hauptstraße Minuten mit dem Auto entfernt und die holprige Zufahrtsstraße hierher halb mit Sträuchern und herabhängenden Ästen bewachsen. Was auch den Grund darstellte, weshalb ich den letzten Kilometer hatte laufen müssen. Mama mochte keine Kratzer im Lack.
„Okay." Ich strafte die Schultern und trat ein paar Meter näher an das Gebäude heran.
Das Ding war gespickt mit Balkonen, die bequem genug Platz für eine ganze Außeneinrichtung an Gartenmöbeln hatten und teilweise miteinander verbunden waren, zumindest im zweiten Stock. Im ersten gab es kleinere Balkone, pro Fenster eines, wie bei einem Hotel. Ganz oben fungierte dann das Dach als letzter Balkon-Schrägstrich-letzte-Terrasse und war bevölkert von tanzenden Schatten. Die Lautstärke der Musik, die selbst von dieser Entfernung noch zu mir hallte, machte mir ein bisschen Angst.
Alles machte mir gerade ein bisschen Angst.
„Du schaffst das. Komm schon, du schaffst das!" Ein letzter tiefer Atemzug.
Und ich erstarrte.
Dieses Mal jedoch nicht, um das Unvermeidliche noch weiter hinauszuzögern, sondern um die Silhouette anzustarren, die da gerade über das niedrige Geländer einer der Balkone im ersten Stock kletterte. Die sich an den Rand klammerte, ein Bein rüberschwang und-
Fiel.
Ich riss die Augen auf, blinzelte und wartete, aber nichts. Keine Bewegungen, keine Geräusche. Nur der Nachhall von Musik in der Ferne.
Hatte ich gerade einen unfreiwilligen Tod mitangesehen? Einen Party-Unfall-Tod? Musste ich jetzt die Polizei rufen? Oder mich lieber erstmal mental auf eine mögliche Mund-zu-Mund-Beatmung einstellen? Auf eine Reanimation?
„Fuck!" Ich nahm die Beine in die Hand und raste zu der Stelle hin, wo ich den Absturz beobachtet hatte, und hätte am liebsten irgendwen geschlagen. Weil es kein Party-Unfall-Tod war, sondern bloß eine im Schneidersitz zwischen zwei Böschungsmyrthen hockende Person.
Die Metallfresse.
Ich glotzte ihn an und er strahlte, als wäre er superglücklich darüber, gerade mindestens ein paar Meter in die Tiefe gekracht zu sein. „Geht ... geht es dir gut?"
„Ja!" Er kicherte, angetrunken oder eher sturzbesoffen. Wortwörtlich.
„Weil du-" Ich schüttelte den Kopf. „Du bist doch-"
„Ist das 'ne Flasche Wein?" Und schwupps war ich besagte Flasche Wein los. Ehrlich, ich konnte nicht mal rechtzeitig was sagen oder mich wehren, da hatte der Kerl schon den Schraubverschluss aufgerissen und sich einen ordentlichen Schluck genehmigt.
Ob es wohl irgendwo einen Wegweiser für merkwürdige Situationen gab?
„Ähm." Als er den Kopf in den Nacken legte, um noch schneller trinken zu können, blitzten mir etliche glitzernde Kugeln in seinen Ohren und über seiner linken Augenbraue entgegen, ein Ring in der Mitte seiner Unterlippe und silberne Grübchen neben seinen Mundwinkeln. Der Kerl war ein halber Roboter! „Die war eigentlich nicht für dich gedacht."
„Mh!" Die Hälfte des Inhalts war trotzdem schon in ihm drin. „Ist der gut! Ich kenne nur neunzig-Cent-Wein aus'm Discounter, weil Jaro mich nichts trinken lässt. Hab ein Problem mit Alkohol, weißt du? Deswegen – sagst du mir, wo du den herhast? Ob er teuer war? Nah, das ist 'ne dämliche Frage, alles hier ist teuer." Er winkte ab und nahm noch einen Schluck, während er sich zurück auf die Beine kämpfte. „Wie heißt du?"
Konnte es sein, dass der Typ mich nicht wiedererkannte? Auf jeden Fall wäre ich nicht so nett zu der Person, die mich einfach grundlos an den Rand einer fremden Stadt geschickt hätte, wenn ich mich eh schon nicht in der Gegend auskannte.
Ich räusperte mich. Vielleicht sollte ich froh darüber sein. „Jonah."
„Freut mich, Joey! Ich bin Silas!"
War es normal, so schnell im Spitznamen-Gebiet anzukommen?
„Eigentlich heiße ich-"
„Darf ich mal?" Eine rhetorische Frage, nahm ich mal an, denn gleich darauf packte Möchtegernstripper Silas einfach ungefragt nach dem Saum meines Hemdes und stopfte ihn mir in die Hose. Und öffnete mir ersten drei Knöpfe. Und krempelte mir die Ärmel hoch. Und wickelte die Enden meiner Jeans über meine Knöchel.
„Perfekt!", meinte er schließlich und nickte anerkennend, während ich mich fragte, ob das hier gerade als tätlicher Übergriff zählte und ich nicht vielleicht lieber ein paar Beamte einschalten sollte. „Jetzt ist dein Outfit voll süß!"
Oh.
Ich sah an mir runter. „Ich seh' süß aus?"
„Jepp. Du bist allgemein richtig hübsch." Er lächelte mich an, mit glasigen Augen und hochroten Ohren. „Richtig, richtig hübsch."
Mich hatte noch nie jemand richtig, richtig hübsch genannt.
„Uh." Ich spürte, wie mir warm wurde. Nicht, weil ich plötzlich auf den Spargeltarzan vor mir stand, sondern weil eben. Weil Kompliment. „Danke ...?"
„Gerne!" Er schnappte sich meine Hand. „Gehen wir zusammen zur Party? Ich kenne hier niemanden und Jaro zählt nicht, der darf nämlich nicht wissen, dass ich ausgebüchst bin. Deswegen Shhh!"
„Ausgebüchst?" Verflocht er gerade unsere Finger miteinander?
„War da oben eingesperrt." Fingerzeig Richtung erster Stock. „Mit'm Schlüssel und so, weil man hier angeblich nicht einfach auf Tischen tanzen kann, dabei hab ich das selbst erst vor 'ner Stunde getan und da ging es sehr wohl." Seine letzten Worte, bevor er lospreschte, mich im Schlepptau, und, heilige Scheiße, hatte der einen Zug drauf! Obwohl er vielleicht höchstens fünf Zentimeter größer war, und besonders viel mehr konnte er auch nicht wiegen. Aber diese Kraft.
Er ließ mir keinen Moment zum Durchatmen, bevor wir ins Innere des Gebäudes stürzten, als würde der Ort uns gehören. Das war, zugegeben, irgendwie beeindruckend. So viel Selbstbewusstsein hätte ich ihm nicht mal hackedicht zugesprochen.
Was sich nur leider nicht auf mich übertragen ließ.
Ich stolperte halb über meine eigenen Füße und fing mich gerade noch, ehe ich mit der Nase voran Kontakt mit den pechschwarzen Fliesen unter mir machen konnte. „Fuck, langsamer, ich-"
„Eyyy!" Ich kam nicht weit mit meinem Protest, weil drei blonde Frauen mit nassen Haaren mir einfach mit ihrem Gekreische dazwischengrätschten. Sie standen keine anderthalb Meter von uns entfernt bei einem mitten im Flur aufgestellten Tisch, an dem gerade irgendein Spiel mit einem Haufen Bechern und einem Pingpong-Ball gespielt wurde. „Silas ist zurück!"
„Damn right, I'm back!" Er ließ von mir ab und hob die Weinflasche über den Kopf, wie zu einem alles übergreifenden Toast.
Ich war hier ganz, ganz falsch. Jonahs gehörte nicht an solche Orte, sie gehörte mit einem guten, höchst perversen Buch ins Bett, wo sie sich lediglich vorstellten, wie es auf einer Party wäre. Änderte nur nichts daran, dass ich trotzdem hier war, in diesem Flur, der gefühlt schon ein eigenes Wohnzimmer für sich war und direkt an ein Wohnzimmer grenzte, das dafür einem halben Club glich, so viele Gestalten, wie sich dort versammelt hatten. Es gab Sofalandschaften, die sich rings um die provisorische Tanzfläche rangen und alles war so dunkel. Als sollte man nicht genau sehen können, was da vor sich ging, wenn man nicht unmittelbarer Teil des Geschehens war.
„Trinkst du?" Silas fuhr wieder zu mir herum und zog mich ein Stück besagten Flur entlang, bis wir links an eine geschwungene Wendeltreppe kamen. „Die Küche ist unten", redete er weiter und hopste auch schon die ersten Stufen hinunter. „Dort gibt es alles."
Alles war eine Untertreibung. Kaum waren wir im Keller angekommen, fand ich mich einer eingebauten Sauna aus Stein und durchsichtigen Glaswänden gegenüber. Ein paar der Frauen darin kannte ich aus der Uni, aber ich hatte sie noch nie halbnackt gesehen. Und die Kerle neben ihnen erst recht nicht. Einer von ihnen zwinkerte uns zu und klopfte sich auf die Oberschenkel.
Huh.
Ich schielte zu Silas, aber der achtete gar nicht darauf und zupfte stattdessen an meinen Fingern herum. „Wir müssen hier lang", meinte er, wobei sich sein Ziel nicht als Küche, sondern als Bar herausstellte. Es war ein gigantischer Raum, mit einer Wand, die in eine Theke umfunktioniert worden war. Blitzblank polierte Gläser hingen in Reih und Glied kopfüber runter, direkt über Zapfhähnen, an denen sich gerade zwei Typen bedienten, bevor sie miteinander anstießen, die Arme verkeilten und sich die Gläser an die Lippen hielten.
„Also." Silas sprang auf die Theke und breitete die Arme aus. Wein schwappte aus seiner – meiner – Weinflasche auf seine Jeans und Schwarz wurde noch schwärzer. „Was darf's sein?"
„Äh." Ich räusperte mich. „Ich trinke eigentlich nicht."
„Dann 'ne Cola!" Er schwang sich auf der anderen Seite der Theke zurück auf den Boden und landete neben den zwei Typen, die im gleichen Moment Platz machten, um wieder mit dem übrigen Getümmel eins zu werden. Wovon es auch genug gab, der Raum war ausgestattet mit zwei Billard- und drei Air-Hockey-Tischen, allesamt besetzt und überschattet von dröhnenden Bässen aus eingebauten Boxen an der Zimmerdecke.
„Bitte sehr!" Silas tauchte vor mir auf wie ein Geist auf irgendwelchen bewusstseinserweiternden Pillen und drückte mir ein Glas mit dunkler Flüssigkeit in die Hand, die tatsächlich nach Cola aussah und auch nach Cola roch und sogar nach ihr schmeckte, als ich einen vorsichtigen Schluck nahm. Er selbst hatte die Weinflasche mittlerweile geleert und sie einfach auf seinem alten Sitzplatz stehenlassen.
„Danke." Ich blickte auf die Leute um uns herum. Einige schienen auch schon ein oder zwei Jahre älter als Alexander selbst und sie alle hatten Spaß. Sie unterhielten und betranken sich und genossen die Feier, während ich mich fühlte, als hätte ein Lastwagen mich überfahren.
Warum hatte ich eigentlich so unbedingt herkommen wollen? Oder eher: Warum hatte Alexander mich so unbedingt hierhaben wollen? Wir taten ja nicht einmal etwas gemeinsam – wobei das natürlich auch daran liegen könnte, dass ich mit nicht unwesentlicher Verspätung angekommen war und mich seitdem mit dem Punk hier verkrümelt hatte, ohne Alexander überhaupt die Chance zu geben, mich zu finden. Oder umgekehrt.
Hm.
„Willst du tanzen gehen?" Silas schien ausgesprochen begeistert von der Idee zu sein, irgendwelchen Tischen einen zweiten Lapdance aufzuzwingen. Für mich allerdings stellte genau diese Vorstellung das schlimmstmögliche Horrorszenario überhaupt dar. „Willst du?"
Unwohl nippte ich an meiner Cola. „Nicht wirklich."
Er blinzelte, fing sich aber schnell wieder. „Okay, macht nichts! Vielleicht-"
„Silas."
Wir erstarrten beide. Das Wort donnerte wie ein Erdbeben durch das Zimmer, fegte über die Stimmen der anderen Gäste hinweg. Es ließ Silas die Augen aufreißen, schaffte alles Blut aus seinem Gesicht und beförderte ihn mir nichts, dir nichts hinter die Theke.
Weg war er.
„Silas Felix Sander." Oha, der volle Name.
Ich drehte mich zur Theke um, traf aber nur auf ein Paar wie zum Gebet gefaltete Hände, die hinter dem Holz hervorschauten. Eine Geste, die ausnahmsweise sogar ich verstand.
Also blickte ich zurück zum Eingang, exakt in dem Moment, in dem Jaro<3 hereinspazierte. Mit zusammengepressten Lippen und geballten Fäusten. Er sah aus, als würde er gerne junge Cyborgs im Nacken packen und in dunkle Ecken schleifen, um sie dort umzubringen.
Ich verhielt mich ganz unauffällig, während er die Gesichter der einzelnen Gäste scannte – und schließlich bei mir stoppte.
Würde er ein noch engeres Hemd tragen, würden die Knöpfe bei seiner Atemfrequenz einfach wegfliegen.
„Du", presste er heraus und kam auf mich zu. „Seit wann bist du hier?"
Hatte er nicht eben noch Silas gesucht? Ich war darauf eingestellt gewesen, dumm vor mich hin zu lügen, aber ich wollte ganz bestimmt keine Aufmerksamkeit von einem wütenden Russen!
„Uh", machte ich. Mein Herz schlug mir irgendwo im Hals herum. „Seit jetzt?"
Er brummte. „Alex sucht dich."
Damit ... hatte ich nicht gerechnet.
Ich blinzelte. „Echt?"
„Ja." Er blickte hinter mich. „Hast du-" Unterbrechung, damit er ganz in Ruhe das Gesicht verziehen konnte. „Hast du den Jungen gesehen, den du absichtlich in den falschen Bus steigen lassen wolltest?"
Tja, wo ich wohl Glück bei der Metallfresse gehabt hatte, hatte ich sie nicht bei ihm.
„Silas?" Meine Stimme sprang mindestens drei Oktaven höher. „Ne, den hab ich nicht gesehen. Wie sollte ich auch? Er ist schließlich oben im ersten Stock eingesperrt und ich bin hier unten."
Stille – war ich schon immer so kleingeistig gewesen? –, dann atmete er tief ein. „Wo ist er?"
„Nicht hier. Nicht in diesem Raum. Nicht hinter der Theke. Ganz bestimmt nicht hinter der Theke, da musst du gar nicht erst nachgucken. Ähm."
Jaroslav runzelte die Stirn. „Wenigstens hat er sich jemanden gesucht, der nicht lügen kann", murmelte er und lief an mir vorbei. Zur Theke hin.
„Warte!" Ich packte ihn an seinem ... enormen Bizeps. Holla, die Waldfee.
„Ja?" Er drehte den Kopf zu mir, den Blick starr auf meine Hand an seinem Oberarm gerichtet. Irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, dass ich meine Patschehändchen lieber schleunigst von ihm nehmen sollte.
Also tat ich das und: „Was sagt ein Russe, der in eine Schwulenbar geht?"
„Bitte?" Seine Augen wanderten hoch zu meinen. Sie standen ein bisschen weit auseinander.
„Was sagt ein Russe, der in eine Schwulenbar geht?", wiederholte ich, nur minimal sehr hysterisch. „Hallo, ich bin Sergej."
Dieses Mal reagierte er nicht wie damals vor Alexanders Küche, dieses Mal verschränkte er einfach beide Arme vor der Brust und schaute mich seelenruhig an: „Gibt es einen bestimmten Grund, weshalb du dich über mich lustig machst?"
Gleich würde er mich töten. Gleich war ich Matsch.
„Ist dein Bauch genauso muskulös wie deine Arme?" Und ich konnte allem Anschein nach trotzdem nicht damit aufhören, weiterhin Schwachsinn von mir zu geben.
„Sein Bauch ist sogar noch muskulöser! Du müsstest ihn mal nackt sehen! Komplett nackt!"
Wenigstens war eine Person hier genauso lebensmüde wie ich.
Jaroslav rieb sich über die Falte zwischen seinen Brauen. „Silas", knurrte er. „Herkommen."
Mehr brauchte es nicht, um ein wimmerndes Oh fuck! aus Silas' Kehle und ihn selbst aus seinem Versteck zu zwingen. Er sah aus, als hätte man ihm gerade lebenslänglichen Stubenarrest erteilt. In einem finsteren Keller ohne Nahrung oder Flüssigkeit. Und ohne Toilette. „Man hat mir Alkohol gegeben", nuschelte er, als wäre es eine Entschuldigung, und verschränkte beide Hände hinter dem Rücken, auf den Fußballen wippend. „Nicht böse sein?"
„Ich bin nicht böse." Jaroslav ging auf ihn zu, packte ihn am Kinn und riss seinen Kopf nach oben. „Ich bin enttäuscht."
Bildete ich mir das nur ein oder entstand da gerade eine gewisse Spannung in der Luft, von der ich lieber kein Teil sein wollte?
„Also dann!" Ich machte auf dem Absatz kehrt, solange Jaroslavs Fixpunkt noch auf Silas lag, und wich unauffällig, aber schnell Richtung Treppe zurück. „Wir sehen uns!"
Mein nächstes Ziel war der Außenbereich, aus ganz praktischen Gründen: Der restliche Keller machte mir Angst, der Flur machte mir Angst, die Dunkelheit im Wohnzimmer machte mir auch Angst und ich glaubte stark daran, dass in den oberen Etagen bei den Schlafzimmern – zumindest stellte ich mir vor, dass sich dort Schlafzimmer befanden – Dinge vonstattengingen, die mir ebenfalls Angst machen würden. Oder mich traumatisieren würden. Allerdings irrte ich mich.
Der Außenbereich war mindestens genauso furchteinflößend. Ebenso aus praktischen Gründen.
„Na, wen haben wir denn da?" Julius Arm lag um meine Schultern, obwohl er dort nichts zu suchen hatte und meine Beine spontan in Wackelpudding verwandelte. Vor allem, als noch einer von den Kerlen dazukam, die in den Mittagspausen immer mal wieder bei Alexander hockten und sich bei ihm einschleimten.
„Sind die Augen in deiner Fresse nur Deko, dass du mich das fragen musst?" Mein Gehirn war allem Anschein nach immer noch im Austeilen-Modus. Leider verstand es in dem Modus nie, dass Menschen nach dem Austeilen generell auch einstecken mussten.
Julius' Arm wurde schwerer. „Habe ich dir nicht gesagt, dass du hier nichts zu suchen hast?"
Als ob ich je überhaupt irgendwo etwas zu suchen gehabt hätte. Das hatte ich nicht einmal im Leben meiner Eltern.
„Keine Ahnung, ob du das gesagt hast. Ich spreche kein Minderbemittelt."
Die flache Hand an meiner Wange war es dann schließlich, die mich aus meiner momentanen Gören-Verfassung befreite.
Ich verstummte augenblicklich. Es sah schwer danach aus, als wäre die Backpfeife nur ein Vorgeschmack auf mehr.
„Sieh mal einer an." Er nahm seinen Arm runter, um mein Gesicht am Kinn anzuheben. Was unter anderen Umständen – und einer weniger hässlichen Person – hätte erotisch anmuten können, aber gerade löste es nur ein kribbelndes Druckgefühl in meiner überaktiven Blase aus. „Und schon benimmt er sich."
Ich kniff die Augen zusammen. Würde er es wirklich darauf anlegen und mich im Hier und Jetzt verprügeln? Wo es jeder sehen konnte? Wo es Alexander sehen könnte?
Und schon riss ich meine Lider wieder auf, ließ meine Pupillen über den Pool und seine Umgebung schweifen, aber da war kein Alexander. Niemand, der mich beschützen konnte.
Ich war auf mich allein gestellt.
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