Warum man keine Leute beobachten sollte
Ich litt unter Zöliakie, deswegen entzündete sich mein Dünndarm jedes Mal, wenn ich es wagte, irgendetwas zu mir zu nehmen, das Weizen, Roggen, Gerste oder Ähnliches und damit Gluten enthielt.
Nur irgendwie war diese Information noch nicht bei meiner Mutter angekommen.
„Iss auf. Ich habe nicht umsonst für dich gekocht."
„Ja." Lustlos nahm ich mein Sandwich in die Hand. Keine Ahnung, seit wann es Kochen war, zwei Schnitten Vollkorntoast mit Schinken und Käse zu belegen.
„Wie läuft es in der Uni?" Sie selbst aß nichts, musterte mich lieber mit Argusaugen, bereit, mir für jeden noch so winzigen Fehler eine Schelte zu verpassen.
„Gut. Die Noten für Grundlagen der Betriebsorganisation sind seit gestern online", murmelte ich und klappte die Scheiben auf, tat, als würde ich die Zutaten inspizieren.
„Und?"
„Eins-Komma-Sieben"
„Wie war der Durchschnitt?"
Ich zögerte. „Eins-Komma-Neun."
Sie schnalzte mit der Zunge, als wäre meine Leistung weniger wert, wenn der Rest der Klasse ähnlich gut abgeschnitten hatte.
Ich presste die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen, spielte schweigend mit meinen Broten herum, bis sie irgendwann einfach aufstand und mit klackernden Absätzen die Küche verließ. Ohne ein Wort des Abschieds.
Ich wartete noch zwei Minuten, dann schmiss ich mein sehr nahrhaftes Mittagessen in den Biomüll, weil ich von diesem Mist Durchfall bekam. Und in zwanzig Jahren mit sehr viel Pech ein Lymphom.
Schnaubend verstaute ich den dreckigen Teller in die Spülmaschine und verkrümelte mich anschließend die Treppe hoch in mein Schlafzimmer. Eine Innenarchitektin hatte es bei unserem Einzug vor drei Jahren zusammen mit allen anderen Räumen des Hauses eingerichtet, also Null Individualität von meiner Seite aus. Stattdessen Möbel, die mit aufeinander abgestimmten Brauntönen den Raum verzierten. Sie waren alle nicht besonders praktisch, viel zu klein und in seltsam geschwungenen Formen, als hätte jemand das Wort Moderne Kunst auf sie erbrochen.
Wäre ich nicht ohnehin schwul, hätte die Einrichtung mich mit Sicherheit dahingehend geprägt.
Seufzend ließ ich mich auf mein Bett fallen, griff mit einer Hand unter das Gestell und schnappte mir die Nerf-Gun, die ich dort lagerte, damit meine Mutter sie nicht fand. Für sie war nämlich alles, was Spaß machte, Zeitverschwendung. Was vielleicht auch der Grund war, warum mein Vater sich von ihr getrennt hatte. Also, zumindest hatte er sie damals als Trockenritze bezeichnet.
„Trockenritze", murmelte ich, kniff ein Augenlid zusammen und richtete die Spielzeugwaffe auf die Tür. „Peng, stirb."
Dann drückte ich den Abzug.
Ich war nicht gut darin, Freunde zu finden. Was trauriger klang, als es wirklich war, weil ich echt keine Menschen mochte, zumindest nicht die, die mir aufgezwungen wurden, weil meine Mutter meinte, mich auf eine Universität schicken zu müssen, die im Monat mehr kostete als die Miete einer drei-Zimmer-Wohnung. Dementsprechend liebreizend waren auch meine Kommilitonen.
Einer davon ganz besonders.
Ich verlangsamte meine Schritte.
Man konnte ihn regelmäßig bei den Müllcontainern finden. Der Ort war praktisch, weil er sich hinter dem ersten von drei Gebäudetrakten befand, versteckt hinter Säulen und Wänden, weil eine renommierte Bildungseinrichtung so etwas Unansehnliches wie Abfall natürlich vor den Augen der zahlenden Eltern verbergen musste, falls diese mal zu einer Veranstaltung antanzen sollten.
Ich schielte ums Eck, zog die Träger meines Rucksackes enger und fand, wonach ich suchte.
Alexander. Sohn des international größten Medizinprodukteherstellers von Pharmazeutika bis hin zu Operationswerkzeugen, mit mehreren Forschungszentren als Zweigstellen. Seine Familie besaß so viel Geld, sie könnte es als Zunder benutzen, um es sich abends vor dem Kamin gemütlich zu machen. Ich meine, jeder hier hatte Asche, aber er hatte den finanziellen Jackpot geknackt. Den Zukunftspreis gewonnen. Allein mit seinem momentanen Vermögen könnte er gefühlt noch die Enkelkinder seiner Enkelkinder in Saus und Braus leben lassen.
Ich ließ meinen Blick zur Seite wandern, wo ein dürrer Junge auf dem Boden kniete und sich auf die Unterlippe biss, während der Inhalt seines Rucksackes sich langsam vor ihm verteile. In Pfützen, weil es letzte Nacht geregnet hatte.
Und mit jedem neuen Ordner, der zu Boden segelte, donnert mein Herz heftiger gegen meine Rippen, mit jedem sanften Kichern, das Alexanders Stimmbänder verließ. Es war immer derselbe raue Ton, einer, der mir zielsicher das Blut in den Süden transportierte.
Ich war hart. Ich hatte einen Ständer, während er das Eigentum des Jungen beschädigte, und spürte immer mehr Erregung durch meinen Körper schießen, bis er ausholte und ihm ohne jede Vorwarnung ins Gesicht trat. Fest.
Es knackte. Der Junge schrie auf, aber ich hatte immer noch nur Augen für Alexander, dessen Gesicht sich schlagartig aufhellte. Er ließ ihn aussehen wie ein neugieriges Kind, wie einen Wissenschaftler, der ein neues Element entdeckt hatte – und vorhatte, seinen Fund zu benutzen, um damit Biowaffen zu entwickeln.
„Scheiße." Mir entwich ein unterdrücktes Wimmern, kaum hatte ich den Blick abgewandt, um meine Stirn gegen den kühlen Stein vor mir zu pressen.
Ich wollte dort vor ihm knien und seine Schuhsohle reingerammt bekommen. Es sollte mein Kinn sein, das er in seine langen, schmalen Finger nahm, während das Blut aus meiner Nase gemächlich über seinen Handrücken lief, auf den Asphalt tropfte.
„Hey." Eine sachte Berührung an der Schulter riss mich aus meinen Gedanken. „Wenn er dich sieht, bist du der Nächste. Pass besser auf."
Ein bisschen durch den Wind drehte ich mich um. Anne stand neben mir, ein kleines, zierliches Ding aus dem Modul Personalmanagement, das ich ein Semester vorgezogen hatte, das so gar nicht hierher passen wollte. Sie war zu nett, als hätten Status und Reichtum sich noch nicht in ihrem Kopf breitgemacht.
„Ja, du hast recht." Ich nickte, fuhr mir durchs Haar. „Danke."
Sie lächelte mich kurz an, bevor sie weiterlief und ich meine Aufmerksamkeit ein letztes Mal auf das Schauspiel keine fünfzehn Meter von mir entfernt richtete.
Der Typ stöhnte mittlerweile, hatte sich beide Hände gegen die Visage gepresst. Alexander dagegen stand entspannt vor ihm, die Hände in den Hosentaschen. Er raunte ihm ein vielversprechendes Bis morgen zu, in einer Tonlage, die seine Stimme wie dickflüssigen Honig klingen ließ. Sie verklebte mir die Gehörgänge.
Ich atmete zittrig aus und riss mich los, einen dicken Kloß im Hals, bevor ich der restlichen Schülerschaft vom Campusgelände ins Innere folgte.
Meine Wenigkeit hatte tatsächlich Ruhe. Ich war mittelmäßig genug, um übersehen zu werden, nicht hässlich genug, um Witze über mein Äußeres machen zu können, und charaktermäßig gerade schlagfertig genug, um nicht direkt als leichtfertiges Opfer abgestempelt zu werden.
Das Problem bei der Sache?
Ich wollte eines sein.
Also nicht im eigentlichen Sinne. Ich hatte keine Lust, Angst vor der Uni zu haben oder als Erwachsener wegen den Auswirkungen eine Therapie starten zu müssen. Alles, was ich wollte, war, sein Opfer zu sein, und es war krank, natürlich war es das, aber das Bedürfnis verschwand einfach nicht. Egal, was ich tat. Seit einem verfickten Jahr schon nicht.
Ich war einfach gestört. Und störte nebenbei wohl gerade auch die Vorlesung.
„Herr Sizaire!" Ein Lineal klatschte einen Millimeter von meinem Daumen entfernt auf meinen Tisch. „Wären Sie so freundlich, meine letzte Aussage zu wiederholen? Das sollte für Sie ja kein Problem sein, so lautstark, wie Sie gerade an Ihrem Laptop mitschreiben."
Ich starrte die ihn an. Dann besagten Laptop, auf dem sich – vermutlich nur für mich – unbemerkt ein Werbevideo geöffnet hatte.
Über hartnäckigen Fußpilz.
Und die Tonausgabe war eingeschaltet.
„Ähm", machte ich, während mein Mauscursor sich weigerte, das kleine, schwarze X am äußeren rechten Rand des Videos zu treffen. Stattdessen öffnete es ein neues. Dieses Mal ging es um etwas noch Ansprechenderes:
Analekzeme.
Toll, was Google sich aus meinen Suchanfragen herausfischte und zu meinen Ungunsten abänderte.
Es dauerte noch einen endlos langen Moment, dann hatte ich es endlich geschafft und die beiden Filmchen geschlossen. Bloß dauerte es viel länger als nur einen endlos langen Moment, bis meine Kommilitonen sich ebenfalls entschieden hatten, das Thema fallen zu lassen.
Manchmal hasste ich mein Leben.
„Möchte noch jemand seine ... Probleme mit uns teilen?"
Kleine Korrektur: Meinen Professor hasste ich noch mehr als mein Leben.
Ich sank etwas tiefer in meinen Stuhl und klappte sicherheitshalber meinen Laptop zu, weil eben niemand sonst seine Problemchen mit der restlichen Welt teilen wollte. Bloß ich. Bloß ich wollte alle an meinen Ängsten vor Fußpilz und Analekzemen teilhaben lassen.
Scheiße, hoffentlich war dieser Tag bald zu ende.
Ich besaß noch minimale Reste klaren Menschenverstandes, was auch so ziemlich den einzigen Grund darstellte, weshalb ich mich bis jetzt nicht grün und blau hatte prügeln lassen. Nur nutzten mir meine guten Intentionen nichts, wenn der Ärger von sich aus auf mich zukam.
In Form eines millionenschweren Erben.
Ich presste die Beine zusammen und klammerte mich an meinen Rucksack, der mir vor keinen vier Minuten einfach in den Schoß geworfen worden war, damit die Pausenbank neben mir wieder besetzt werden konnte. Ausgerechnet von ihm.
Unwohl ließ ich meinen Kopf vornüberfallen, in der Hoffnung, dass meine Haare irgendwie mein Gesicht verdeckten. Dafür müssten sie zwar eigentlich länger sein, aber der Gedanke zählte schließlich. Außerdem konnte ich auf die Art ein Ticken unauffälliger zu ihm schauen. Und ich hatte einen verdammt guten Blickwinkel, weil ich ihm in meinem Leben bisher noch nie so nah gewesen war.
„Nein, mach das ruhig." Er saß breitbeinig neben mir, die Ellbogen auf den Knien abgestützt und mit seinem Handy am Ohr. Seine gesamte Haltung strahlte pure Entspannung aus, mit dem seichten Lächeln um die Lippen herum. „Es wird sowieso Zeit, dass ich ihn kennenlerne, jetzt, wo er offiziell dir gehört." Er lachte kurz, bevor er sich aufrichtete. „Wir sehen uns heute Abend. Seid pünktlich."
Aufgelegt.
Ich rührte mich nicht. Der rationale Teil in mir betete, dass er jetzt einfach aufstehen und gehen würde, dass er sich nur zu mir gesetzt hatte, weil er diese drei Sätze aus irgendeinem unerklärlichen Grund nicht mehr im Stehen hatte aussprechen können. Aber dem war nicht so, weil nicht nur ich die Welt – und Dreiviertel meiner Dozenten –, sondern auch die Welt mich hasste.
„Du bist jetzt im zweiten Semester, richtig?"
Ich zuckte zusammen, riss den Schädel hoch. „Redest du mit mir?"
Meine Aussage schien ihn alles andere als zu beeindrucken. Die Mimik blieb ausdruckslos, von dem kleinen Lächeln von eben keine Spur mehr. „Rate", meinte er und sorgte prompt dafür, dass mehrere Schauer mein Rückgrat nach unten schossen.
Ich biss mir auf die Unterlippe. „Ja, zweites Semester. Im Herbst komme ich ins dritte."
Er nickte leicht, musterte mich derart eindringlich, dass ich seine Pupillen beinahe über meinen Körper kratzen spüren konnte. „Und du wirst in zwei Wochen achtzehn." Dieses Mal war es keine Frage.
Ich schluckte. „Woher ...?"
„Hat es dir gefallen, mich beim Sex zu beobachten?" Es klang sanft, als würde er ein unartiges Kind animieren wollen, zu beichten, dass es die unbezahlbare Vase im Flur zerdeppert hatte. Aber auch das änderte nichts an der plötzlichen Enge in meiner Kehle. Dem Zwiespalt.
Er erinnerte sich daran. Ich meine, mir war klar, dass er mich gesehen haben musste, immerhin hatte es diesen einen kurzen Moment Augenkontakt gegeben, aber es war so viele Monate her. Und er hatte nie ein Wort darüber verloren, mich nie angesprochen. Außerdem war ich danach weggerannt wie ein verschrecktes Karnickel, was in meiner Vorstellung kein besonders tolles Bild von mir abgegeben hatte.
„Es-" Ich brach ab, räusperte mich. „Ich wollte nicht-"
„Oh, du wolltest nicht?" Die Ausdruckslosigkeit machte Erheiterung Platz. Er wirkte nicht wütend, eher gut unterhalten, nur wusste ich nicht, ob das ein schlechtes Zeichen war. Kam ja nicht gerade selten vor, dass er genau so schaute, bevor er jemandem die Fresse einschlug. „Dann habe ich mir nur eingebildet, dass du mich weiter angestarrt hast, bis ich gekommen bin?"
Was sollte ich darauf antworten?
„Ich hatte nicht vor-" Meine Muskeln verkrampften sich. Weil ich sehr wohl vorgehabt hatte, ihm bis zum Orgasmus zuzusehen. Am liebsten eher noch länger. „Ich war jung und ... neugierig und ... ich hab nicht nachgedacht."
Er schnalzte mit der Zunge und mein Schwanz zuckte, während mein Gehirn automatisch in den Fluchtmodus wechselte. Mein Überlebenswille existierte also noch, schön zu wissen. „Akzeptable Ausrede. Beinahe hätte ich dir geglaubt."
Ich stockte. „Ja?"
„Ah, nicht unterbrechen. Ich bin noch nicht fertig." Er beugte sich zu mir runter, grinste. Aber es war kein Grinsen der freundlichen Sorte. „Damit wollte ich sagen, dass du ein hübsches Gesicht hast, und", ich stieß ein merkwürdiges Geräusch zwischen Hilfe und Bitte weitermachen aus, als er die Finger seiner linken Hand bestimmt um mein rechtes Knie schloss, „hübsche Gesichter müssen nicht denken können."
Das war eine Beleidigung. Er hat mich beleidigt, empörte sich irgendein Teil in mir, während der andere, wesentlich gigantischere, lediglich dazu in der Lage war, seine Berührung zu analysieren. Den Druck, die Stärke, die Nähe zur Innenseite meines Oberschenkels, der rein zufällig das direkte Verbindungsglied zu meinem Penis war, dem man die Freude darüber bestimmt ansehen konnte, und, Scheiße, ich müsste sterben, wenn Alex jetzt tatsächlich nach unten gucken würde und-
„Ich schätze", säuselte er mir entgegen, „wir sehen uns dann an deinem Geburtstag, hm?" Und dann ließ er einfach von mir ab und stand auf. Ging weg, als hätte es den Moment gar nicht gegeben, als wäre er bloß eine Ausgeburt meiner kranken Fantasie gewesen.
„Fuck." Ich krallte mich an meinem Rucksack fest, hörte mein Blut in den Schläfen rauschen.
Das war so abartig. Mein Körper sollte wenigstens ausreichend Anstand besitzen und in Panik verfallen, mich warnen, die Alarmglocken aufschreien lassen – aber das tat er nicht. Es schien ihn gar nicht zu stören, dass Alexander eben fünfunddreißig verdammte Wochen Selbstkontrolle mit zehn Sätzen zunichte gemacht hatte. Stattdessen ließ er mein Herz in der Brust flattern. Wie eine Libelle auf Drogen.
Ich wollte es nicht, aber ich war erleichtert.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top