•1•

Ich öffnete die Augen, nur einen Spalt breit, sah nichts ausser dieser verschluckenden Dunkelheit, mittlerweile vertraut und doch noch so beängstigend wie am ersten Tag.
Mein ganzer Körper schmerzte, als ich meine Hand tastend nach vorne gleiten ließ, wissend, was dort war, und dennoch in der Hoffnung es wäre alles nur ein Traum.
Nach nur wenigen Zentimetern stießen meine Fingerkuppen auf kaltes Eisen.
Ich atmete aus, zittrig.
Meine Hand fuhr an einem der Stäbe nach oben.
Ich atmete ein.
Eine Träne rollte aus meinem Augenwinkel, kämpfte damit, sich durch den Dreck und das Blut auf meinem Gesicht einen Weg zu bahnen.
Ich atmete aus.
Und hatte das Gefühl, es wäre das letzte mal.

》Kamaria?《
Die sanfte Stimme meines Vaters ließ mich zusammenzucken. Ich ließ das Kräuterbündel, das ich bis jetzt in meinem Maul getragen hatte, fallen und schluckte hart. Ein bitterer Geschmack lag auf meiner Zunge, mein Mund fühlte sich ausgetrocknet und pelzig an.

》Kleine, alles ok?《
Das braune Wolfsgesicht meines Vaters tauchte vor mir auf. In seinen gelben Augen lag Besorgnis und ich konnte das aufmerksame Zucken seiner Ohren wahrnehmen. Ich jedoch nickte nur steif, beugte den Hals und nahm das Bündel wieder vorsichtig zwischen mein scharfkantiges Gebiss. Dann drehte ich mich um und lief los, Richtung Rudel.
Richtung Heimat.
Ein Wort, das mich immer hoffen hatte lassen. Auch in meinen dunkelsten Zeiten.

Hinter mir hörte ich die schweren Schritte meines Vaters, unter dessen Pranken kleine Zweige zerbrachen. Ich lief einfach weiter, den ausgetrampelten Pfad entlang, dabei den stechend unangenehmen Geruch der Kräuter in der Nase. Schon jetzt konnte ich die spielerisch kämpfenden Jungwölfe hören, wie sie ungeachtet von Feinde über den Boden kugelten. Sogar einige Gesprächsfetzen drangen zu mir hindurch, die ich jedoch gekonnt ignorierte.

Leise lies ich mich am Rand des regen Treibens nieder, mein Vater trat an mir vorbei, zu unserem Alpha hin. Desinteressiert wand ich den Blick ab, es ging mich nichts an was die beiden zu bereden hatten. Während ich die Kräuter aus meinem Maul ordentlich zu den restlichen gesammelten legte, lies ich meinen Blick flüchtig über das versammelte Rudel schweifen. Alle waren sie da.
So wie jeden Monat, wie es unser Alpha verlangte.
Er fand, es würde zur Stärkung unseres Rudelsinnes beitragen und uns alle näher zusammenbringen. Sowas wäre wichtig.

Ich rümpfte die Nase, unbemerkt grub ich meine Krallen in den weichen Waldboden. Naja, mir sollte es recht kommen, solange ich auf diesen Ausflügen meine Kräuter zusammenfand war es erträglich.

》Hey Ari《
Jemand schweres lies sich, mit gemäßigtem Abstand, neben mir nieder, ich hatte ihn jedoch schon gerochen bevor ich ihn gehört hatte. Es war Jaxon, unser Beta. Er war jung, zwei Jahre älter als ich, und hatte schon früh den Posten des zweitmächtigsten Rudelmitglieds eingenommen.

Ich zuckte mit den Ohren, um ihm zu zeigen, dass ich ihn bemerkt hatte und ihm zuhörte.
》Und, habt ihr die Kräuter gefunden die ihr gesucht habt?《
Smalltalk also. Nicht unbedingt das liebste was ich tat.

Dennoch drehte ich meinen Kopf zu ihm, ich wollte nicht unhöflich sein. Also neigte ich meinen Kopf, zum einen als Geste des Respekts, zum anderen um ihm ein 'Ja' zu verständigen. Er nickte etwas unbeholfen.
Normalerweise antworteten ihm seine Gesprächspartner mit Worten, aber ich war wohl alles andere als normal.

Trotzdem gesellte er sich immer wieder zu mir um mit mir zu reden, wobei eher er redete und ich nur nickte oder den Kopf schüttelte. Aber es war nett, jemand zu haben, der wenigstens Interesse heuchelte.
》Was ist das überhaupt für ein Kraut? Nesselblüte?《

Doch noch bevor ich ihm deuten konnte, dass er damit falsch lag, erklang das Zeichen zum Aufbruch. Etwas verwundert, dass wir schon nach so kurzer Zeit wieder zu unserem Rudelhaus gingen, stupste ich Jaxon kurz mit der Schnauze an die schwarze Schulter und nahm dann so viele Kräuter in den Mund wie möglich.

Eigentlich war es unsinnig, in meiner Wolfsgestalt die Kräuter mitzunehmen, da ich so weniger tragen konnte, aber in menschlicher Form würde ich mit dem zügigen Schritttempo nicht mithalten können.
Also weiter auf vier Pfoten. Nach geraumer Zeit reihte sich auch mein Vater neben mir ein, sein Gebiss ebenfalls voller Medizin.

》Schatz, schau doch nicht so gelangweilt.《
Kurz blickte ich zu dem braunen Wolf neben mir, und wir wussten beide, dass ich, wenn ich es nun könnte, meine Augenbrauen in die Höhe ziehen würde.

Schon wurde das Licht um uns herum heller, immer mehr Sonnenstrahlen brachen durch das dünner werdende Blätterdach und warfen tanzende Schemen auf die Wolfsscharr. Zeit zum verwandeln. Kurzzeitig verteilten wir uns, jeder suchte seine zuvorig versteckten Klamotten zusammen und verwandelte sich. Gegen jeden Glauben waren wir Werwölfe nach unserer Verwandlung nicht vollends eingekleidet und perfekt hergerichtet.

"Ari, trödel nicht so!"
Augenverdrehend zog ich mir meine schlichte blaue Hose und grau-schwarz karierte Bluse über, dann trat ich aus dem Schatten des Baumes hervor und folgte Jaxon und meinem Vater, die anderen hatten sich schon in unserem, am Wald angrenzenden, Rudelhaus verstreut. So war es immer. Zwar hatte keiner in unserem Rudel Scheu vor Nacktheit, es war normal nach der Verwandlung, aber ich zog mich dennoch in die Sicherheit der Schatten zurück.

Zu Dritt traten wir aus dem Wald hinaus.
"Ich muss mich entschuldigen, der Alpha verlangt nach mir."
Ein schiefes aber auch entschuldigendes Lächeln schlich sich auf Jaxon's Lippen, dann drehte er sich um und joggte zu dem größten Gebäude an der Spitze der halbmondförmig angereihten Häuser. Kurz sah ich zu meinem Vater, erkannte jedoch an seinem glasigen Blick, dass er gerade über Mindlink mit einem unserer Rudelmitglieder sprach. Also nahm ich ihn kaum merklich am Arm und bewahrte ihn davor, in einen Maulwurfshügel zu treten.

Nach geraumer Zeit, in der wir auf unsere Haus zuliefen, welches ungefähr in der Mitte der verschiedenen Häuser lag, stoppte mein Vater und blickte sich besorgt um. Meinen fragenden Blick übergehend drückte er mir seinen Kräuteranteil in die Hände, was mich leicht überforderte.
"Kleine, jemand wurde verletzt. Mehr konnte ich nicht verstehen, die Patroullie hat durcheinander geredet und war sehr weit entfernt. Bitte hol einfach alles nötige für Fleischwunden und Knochenbrüche und komm dann zur Südseite!"

Und mit diesen Worten lies er mich stehen, sprintete los und verwandelte sich im Sprung wieder in seine drahtige Wolfsgestalt. Kleiderfetzen fielen zu Boden und schon war er im dichten Unterholz verschwunden.
Jemand aus unserem Rudel wurde verletzt? An der Grenze? Das konnte nichts gutes bedeuten.

Trotzdem musste es nun schnell gehen. Ich wirbelte herum und eilte über die hügelige Wiese, bis hin zu dem großen Schotterweg. Einige Werwölfe kamen mir entgegen, ein paar sogar in Halbgestalt. Doch ich erwiederte ihr Grüßen nicht, stattdessen sprintete ich schon fast zu unserem Haus und sprang mit einem Satz über die Treppen hinweg, auf die Holzveranda.

In übernatürlicher Geschwindigkeit zog ich die Tür auf und eilte in das Medizinzimmer am Ende des breiten und von Tageslicht durchfluteten Ganges. Mit fliegenden Finger stopfte ich alles nötige um den Verletzten zu stabilisieren in eine kleine Tasche und schon hetzte ich wieder los, lies die Tür sperangelweit hinter mir offen.

Jetzt schon in Vollgestalt raste ich durch unser Gebiet, die Tasche im Maul. Zweige peitschten mit entgegen, kleinere Nagetiere wichen mir fiepend aus, doch ich preschte weiter durch das Unterholz, immer der Spur meines Vaters hinterher. Schon bald gesellte sich eine weitere, eisenhaltige Geschmacksnote hinzu. Blut.

Ein Heulen erklang, ein Zeichen für mich noch schneller zu rennen, ich hatte schon fast das Gefühl, meine Muskeln würden zerreissen. Schon war ich bei der kleinen Gruppe angekommen und bremste ab, einige Blätter flogen auf und rieselten auf mich nieder.

Hechelnd lies ich die Tasche neben meinem Vater fallen, dieser kniete neben dem verletzten Lycanthropen. Der Verletzte hatte es also nichtmal geschafft sich zurückzuverwandeln. Das hieß nichts gutes. Mein Vater zog die Tasche sofort näher zu sich und begann, die starken Blutungen zu stoppen. Da alle Blicke besorgt auf die beiden gerichtet waren wurde mir keine Aufmerksamkeit geschenkt, daher traute ich mich, mich zurück zu verwandeln. Schnell zog ich zwei kleine Decken aus der Tasche hervor, die eine wickelte ich mir selbst um den Körper, die andere legte ich meinem Vater über die Schultern.

Dann kniete ich mich zu ihm und begann, dem Lycanthropen, der sich als der T.I.C unseres Rudels, Rey, herausstellte, zu helfen.

Schwere Schritte erklangen hinter mir. Mit gerunzelter Stirn drehte ich meinen Kopf etwas und erkannte den Alpha seines Zeichens; Octavian.
Respektvoll neigte ich meinen Kopf, dann wand ich mich wieder dem Verletzten zu. Nachdem wir ihn im Wald vorsorglich behandelt hatten, wurde er in das geräumige Behandlungszimmer in unserem Haus gebracht, wo er es sogar geschafft hatte, sich in seine Menschenform zu verwandeln.

Nun hatte ich meinen Vater abgelöst und kümmerte mich um ihn. In den letzten paar Stunden hatte er hohes Fieber bekommen, seine Wunden waren zum Glück verbunden und mit milderndem Grünwurz behandelt. Die Knochenbrüche verheilten bereits gut, aber das Fieber verlangsamte den Prozess enorm.

"Wie geht es ihm?"

Ich konnte deutliche Besorgnis um den T.I.C, der zugleich sein Bruder war, in der Stimme von Octavian hören, dennoch war da noch etwas anderes. Wut?
Sorgfältig wechselte ich den kühlenden Lappen auf der Stirn des Ohnmächtigen, dann zuckte ich mit den Schultern und gab Alpha Octavian das Zeichen, näher zu treten. Bei jedem seiner Schritte wich ich etwas zurück, es sollte nicht zu Nähe kommen.

Dieser warf mir einen kurzen Blick zu, dann legte er die Fingerspitzen auf den Lappen an der Stirn unseres T.I.Cs. Bei der unnatürlichen Körperhitze eines Lycanthropens war Fieber nicht unbedingt schlimm, jedoch war seines so hoch, dass es sogar für ein nicht menschliches Wesen gefährlich wurde. Octavian hatte mir bereits wieder Platz gemacht, seine Körperhaltung war noch angespannter als vorher.

Unter dem Verlust seines dritten Stellvertreters würde nicht nur das Rudel leiden, nein, auch Alpha Octavian hatte eine starke Bindung zu ihm, was bei Brüdern im selben Rudel, die beide einen der höheren Ränge besaßen, nicht unbedingt üblich war. Ein letztes mal überprüfte ich die Verbände, dann drehte ich mich um und nickte leicht zur Tür, Octavian verstand und verlies den Raum, gefolgt von mir.

Die Tür lies ich halb offen, bei jeder Verschlechterung von Reys Zustand würde ich es dadurch leichter bemerken.
"Verdammt, ich verstehe einfach nicht, warum er mit zwei unerfahrenen Jungwölfen auf Patroullie gegangen ist - und dann auch noch an der Südseite!"
Mein Blick glitt flüchtig hinüber zu ihm, er hatte die Stirn in Falten gelegt und die Hände zu Fäusten geballt.

Es kam öfter vor, dass Leute sich zu mir gesellten, um zu reden, ihre Gefühle und die Wut los zu werden. Sie brauchten einen stummen Zuhörer und siehe da - ich war stumm.
Aber der Alpha redete nicht oft mit mir, da ich nunmal auch noch keine richtige Rudelärztin war. Das war noch immer mein Vater.

"Er ist so ein sturer Vollidiot... Aber gut, ich will dich nicht damit belasten. Danke, dass du deinem Vater so gut hilfst.
Wir sehen uns, Kamaria."
Octavian lächelte mich kurz an, dann war er schon aus der Tür verschwunden und ich blieb alleine im Türrahmen stehen.

Ein leises Rumpeln hinter mir lies mich jedoch herum schrecken. Es kam aus dem Behandlungszimmer. In Lycanthropengeschwindigkeit stand ich bei Rey, welcher sich windend auf dem Boden lag. Weißer Schaum lief an seinen Mundwinkeln herab, seine Augen wanderten panisch nach etwas suchend durch den Raum.

"Muss.Zu.Ih..."

Er brach ab, verschluckte sich und begann zu Husten, Schwälle an Blut floßen über seine aufgerissenen Lippen.

"Ari, was ist hier..."

Scharf einatmend stürzte meine Vater zu mir, ich kniete bereits neben Rey und versuchte ihn zu beruhigen, jedoch erschwerte es meine Angst vor Körperkontakt um einiges. Rey schlug mit aller Kraft um sich, als würden elektrische Schläge seinen Körper durchzucken. Und dann, ganz unerwartet, traf mich eine seiner unkontrollierten Schläge.

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