KAPITEL 3

Flamur

Ungeduldig trommelte er mit den Fingern auf dem Lenkrad seines Wagens herum, während er vor der letzten Ampel vor Luanas Zuhause auf das grüne Licht wartete. Er kannte sie erst seit drei Tagen, war aber schon wieder auf dem Weg zu ihr. Sie faszinierte ihn, auch wenn er es sich selber nicht wirklich eingestehen wollte. Es interessierte ihn, wie sie jeden einzelnen Tag schaffte, obwohl sie durch ihre Behinderung so eingeschränkt war. Was sie wohl die ganze Zeit machte?

Die Ampel schaltete auf Grün und lenkte Flamurs Aufmerksamkeit wieder auf die Straße, die jetzt wieder frei war. Erleichtert seufzte er und trat auf das Gaspedal.

Er musste heute wieder recht schnell gehen, denn sein Terminplan war stramm, doch die nächsten Tage würden ihm wieder mehr Luft zum Atmen lassen. Er wusste nicht, wie er das durchhielt, denn, auch wenn er es selten zugab, das Leben als Sänger war anstrengend. Vor allem in den letzten Vorbereitungen vor seiner Tour.

Dazu kam Luana, mit der er zwar wirklich seine Zeit verbringen wollte, die ihm jedoch logischerweise auch seine restliche freie Zeit raubte.

Flamur hielt vor ihrem Haus an und sah nach einem schnellen Blick nach links und rechts, dass sich niemand sonst in der Straße befand. Schnell hastete er zur Haustür und klingelte ungeduldig. Es war besser, wenn niemand ihn hier sah. Die Gefahr aller möglichen Gerüchte, die in Klatschzeitschriften auftauchten und über sein Privatleben munkelten, war zu groß.

Heute war es ihr Vater, der ihm öffnete. Flamur hatte bisher noch nicht die Möglichkeit gehabt mit ihm zu sprechen, weswegen er ihn höflich begrüßte und ihm die Hand reichte.

»Sie müssen dann wohl Flamur sein«, sagte der stämmige Mann und lächelte ihn freundlich an. Er erschien Flamur allein dadurch, dass sein Lächeln echt war, sympathischer als Angelika. Von ihm musste Luana auch die blonden Haare geerbt haben.

»Genau. Aber es gibt keinen Grund mich zu siezen.« Flamur erwiderte das Lächeln, warf jedoch nervös einen Blick nach hinten auf die Straße, da jeden Moment Menschen vorbeilaufen und ihn sehen könnten.

Luanas Vater schien den Grund seiner Unruhe zu verstehen, denn er machte Platz, damit Flamur eintreten konnte.

»Ich bin übrigens Sven«, stellte sich sein Gegenüber vor. »Ich hoffe, du hast nur Gutes mit meiner Tochter vor. Meine Frau und auch Luana haben mir gestern erzählt, warum du hier zurzeit ein- und ausgehst.«

»Keine Sorge, ich tue ihr nichts an«, bestätigte Flamur und musste ein Grinsen unterdrücken.

»Das will ich wohl hoffen. Sie ist in ihrem Zimmer«, informierte Luanas Vater ihn noch, bevor er ihm noch einen prüfenden Blick zuwarf und verschwand.

Flamur begab sich auf direktem Weg zu ihrem Zimmer, wo er aus Gewohnheit die Hand hob, um zu klopfen, dann aber den Kopf schüttelte, als er erkannte, dass es ein sinnloses Unterfangen gewesen wäre.

Er runzelte die Stirn. Wie machten das eigentlich ihre Eltern? Es konnte doch sein, dass sie sich gerade umzog, wenn sie in ihr Zimmer kamen. Und sie würde es noch nicht mal bemerken.

Lieber führte er seine Gedanken nicht weiter aus, bevor er noch in verbotene Gefilde abrutschte. Denn er wollte ganz sicher nichts von Luana, das wäre doch absurd.

Vorsichtig öffnete er die Tür und lugte durch den entstandenen Spalt, bevor er sie ganz öffnete, aber im Türrahmen stehen blieb, als er Luana sah. Sie zog sich nicht etwa um, um Himmels willen, nein, doch saß sie an ihrem Schreibtisch und bewegte ihren Zeigefinger über die Seiten des vor ihr aufgeschlagenen Buches.

Sie war ganz fixiert darauf und Flamur wollte sie ungern stören, weshalb er beschloss, sie noch kurz stumm zu beobachten. Daran war sicher nichts verboten.

Dachte er am Anfang noch, sie würde aufmerksam ... lesen, so merkte er bereits nach wenigen Sekunden, dass sie die Zeilen mehr lustlos als konzentriert verfolgte, als hätte sie sie schon zu oft gelesen und das Lesen nur noch als Zeitvertreib genutzt wurde, weil sie nichts anderes zu tun hatte.

Da er sich nicht länger wie ein unerwünschter Beobachter vorkommen wollte, stieß Flamur sich vom Türrahmen ab und ging auf Luana zu. Kurz bevor seine Hand ihren Oberarm berühren konnte, drehte sie sich um. Er würde lügen, würde er sagen, er habe sich nicht erschreckt.

Hey', sagte er zögerlich. ‚Wie hast du mich denn erkannt?' Er war neugierig geworden.

Durch den Luftzug der Tür und als du hergelaufen bist. Wenn du ... dick wärst und schwerfällig laufen würdest, könnte ich dich auch dadurch erkennen.' Sie schob sich eine Haarsträhne zurück, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte und schaute zu ihm hoch.

Flamur lächelte. ‚Woher willst du wissen, dass ich nicht dick bin?' Er überging, dass sie bemerkt hatte, dass er in der Tür stehengeblieben war.

Ich weiß es nicht.' Luana zuckte mit den Schultern. ‚Deine Finger fühlen sich nicht so an und du gehst nicht schwerfällig. Aber das muss nichts heißen. Also, ich meine, ich hätte nichts dagegen, wenn du ... ein bisschen dicker wärst als andere und so ...'

Er verstand, was sie meinte. Sie war wahrscheinlich einer der letzten Menschen, die jemanden für etwas verurteilen würden. Sicher wurde sie es selber zu oft.

Alles gut, Luana. Und um dich aufzuklären: Ich bin ganz normal gebaut.' Er lachte amüsiert.

Wollen wir ins Wohnzimmer?', fragte Luana, der das Thema sichtlich unangenehm wurde.

Klar doch. Du musst mir nur den Weg zeigen.'

Ihre Mundwinkel hoben sich erfreut und sie stand von ihrem Stuhl auf, ohne dem aufgeschlagenen Buch auf ihrem Tisch noch einmal Beachtung zuschenken. Flamur trat einen Schritt zur Seite, als sie an ihm vorbeiging und folgte ihr dann durch die Wohnung.

Er  war fasziniert davon, wie sie durch ihre halboffene Tür und den Flur entlang ging, ohne sich auch nur an einer Stelle unsicher zu sein. Der Flur mündete im Wohnzimmer, auf das Luana ohne Probleme zusteuerte. Sie ließ sich auf der rechten Seite des dunkelgrauen Sofas nieder, weswegen Flamur sich links hinsetzte.

Darf ich dich etwas fragen?' Flamurwar gerade etwas eingefallen, das er schon gestern hatte wissen wollen, es dann jedoch vergessen hatte.

Natürlich.' Luana hatte ihre Hände in den Schoß gelegt und hielt den Kopf gesenkt, was ungewohnt für Flamur war, da es so schien, als würde sie ihm nicht die volle Aufmerksamkeit schenken. Doch Luana war es nicht gewohnt, Menschen anzusehen, wenn sie mit ihnen ... redete.

Wegen deiner Taubblindheit ...' Flamur wusste nicht genau, wie er es formulieren sollte. ‚Hast du sie schon immer oder ... eben nicht?'

Luana biss sich auf die Lippe und zog die Beine an, um sie zu umarmen. Vermutlich war das nicht ihr Lieblingsthema und Flamur bereute bereits, dass er die Frage gestellt hatte. Was, wenn er alles kaputt gemacht hatte?

Nein, also, ich bin blind geboren, ja. Deswegen ... ich habe noch nie etwas gesehen.' Sie stockte kurz und schien sich ihre nächsten Worte zurechtzulegen. ‚Aber ich komme gut damit klar, wirklich. Ich konnte als Kind gut auf meine Umgebung hören, besser als andere, und habe mich auch sehr darauf verlassen, da mir das Sehen fehlte. Als ich fünf war, hatte ich eine ... eine Hirnhautentzündung. Sie wurde zu spät von den Ärzten erkannt. Dadurch konnte ich nicht mehr hören. Aber mir wurde beigebracht, wie ich mich zurechtfinden und verständigen kann.'

Flamur lächelte. Er war stolz auf sie, dass sie ihm davon erzählt hatte, denn es war sicher nicht leicht für sie, über das Thema zu reden. Und er war fasziniert von ihrer Stimme. Sie betonte manche Wörter noch falsch und sprach holprig und in kurzen Sätzen, doch er wollte unbedingt wissen, wie sie klang, wenn sie mehr Übung darin hatte.

Na also, du hast doch etwas zu erzählen. Wer hat dir das alles beigebracht?', hakte Flamur neugierig nach.

Mein Vater hat eine Privatlehrerin gefunden, die lormen kann. Sie hat mir das alles beigebracht. Du weißt, was lormen ist, oder?'

Flamur nickte, merkte aber im selben Moment, dass es dumm von ihm war. ‚So in etwa, ja', sagte er zögerlich.

So rede ich mit meiner Familie. Ich schreibe die Buchstaben sozusagen auf ihre Hände. Jeder Buchstabe ist an einer anderen Stelle. Sie sind entweder Punkte oder Striche. Und wenn du mit einem Wort fertig bist, klatscht du einmal in die Hand. Verstanden?'

Es war süß, wie sie sich etwas aufrichtete und manchmal ihre Hände passend zum Gesagten bewegte. ‚Verstanden.'

Gut. Meine Lehrerin heißt Lyna. Sie war wie eine Freundin, obwohl sie viel älter ist. Sie hat auch versucht, mir taktile Gebärden beizubringen, dabei war ich aber nicht gut.' Luana stockte. ‚Seit einem Jahr kommt sie nur noch ganz selten. Es gibt so viele andere Taubblinde, die ihre Hilfe brauchen.'

Luana legte ihren Kopf auf die Knie und drehte sich zu ihm, als warte sie auf eine Reaktion seinerseits.

Ich wünschte, dir wäre das alles nicht passiert. Das hast du nicht verdient.' Für einen Moment berührte er ihre Hand mit seiner, zog sie aber dann wieder weg. Er sollte aufhören, sie so oft zu berühren, vielleicht wollte sie das gar nicht und konnte es ihm nicht sagen.

Ich versuche immer, es positiv zu nehmen. Sonst hätte ich dich vielleicht nicht kennengelernt, oder?'

Flamur grinste. ‚Also magst du mich?'

Als Reaktion stieg ihr eine leichte Röte ins Gesicht und sie drehte ihren Kopf weg, damit Flamur es nicht sehen konnte. Er lachte. Sie war echt ... süß.

Flamur?' Sie hatte den Kopf wiedergehoben und in seine Richtung gedreht. Ich blinden hellblauen Augen sahen zu ihm.

Was ist los?', fragte er und rückte ein Stück näher zu ihr.

Warum ... warum kannst du mit mir reden und alle anderen nicht?' Ihre Stimme war unsicher, viel leiser als die vorherigen Minuten. Sie traute sich nicht zu fragen. Und Flamur traute sich nicht, ihr zu antworten.

Ich ...' Er fühlte sich schlecht, furchtbar schlecht, als er entschied, es ihr vorerst nicht sagen zu können. Vielleicht war es egoistisch, ja, vor allem nachdem sie ihm von sich erzählt hatte, doch er mochte diesen Teil von sich nicht.

Ich muss jetzt wieder gehen.'

Er zuckte zusammen, als Luanas Mund sich öffnete und ein verletzter Ausdruck in ihre Augen trat.

Schnell versuchte er Schadensbegrenzung zu betreiben. ‚Ich muss wirklich gehen, heute habe ich wirklich nicht viel Zeit. Aber ich erzähle es dir wirklich bald. Nur ... heute noch nicht.' Wie oft hatte er jetzt bitte „wirklich" in seine Sätze eingebaut?

Luana nickte langsam, weswegen er erleichtert ausatmete. ‚Es ist in Ordnung, wenn du es jetzt noch nicht sagen möchtest. Aber es ist so neu für mich. Irgendwie habe ich mich jetzt schon daran gewöhnt, so mit dir zu reden. Es ist echt komisch.'

Sie erhob sich, was Flamur ihr schnell nachmachte. ‚Du kommst also morgen wieder?'

Ich versuche es, vielleicht habe ich wieder mehr Zeit.' Bevor er weiter nachdachte, trat er einen Schritt auf sie zu und legte seine Arme um ihren schmalen Körper. Luana war von seiner Umarmung überrascht und zuckte zusammen, weswegen er es schon wieder zu bereuen begann. Sie kannten sich doch kaum. Und Luana war dazu noch taubblind.

Doch als er sie schon wieder loslassen wollte, legte auch sie für einen Moment ihre Arme um seinen Rücken und ihren Kopf auf seine Schulter.

Bis morgen', sagte sie noch leise, bevor sie einen Schritt zurücktrat und mit hastigen Schritten in ihr Zimmer ging.

Flamur meinte zu sehen, dass ihre Wangen wieder rot angelaufen waren. Er lächelte. Luana war wirklich süß.

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