6. Anspannung
Es sind einige Stunden vergangen und der Unbekannte ist immer noch bei meinem Chef. Ich frage mich, warum er hier ist und in welcher Beziehung er zu meinem Chef steht? Doch die wichtigere Frage ist: Wer ist eigentlich mein Chef? Ist er so kaltblütig wie der Fremde über ihn erzählt hat? Hat er seinen Freund getötet oder vertraue ich den Worten des Fremden zu sehr? In meinem Kopf kreisen zahlreiche Fragen, so dass ich nicht zur Ruhe komme. Wie soll ich heute mit diesen Gedanken schlafen können?
Ich schaue in die Richtung des Ganges. Vielleicht ist der Unbekannte schon tot und ich habe es nur nicht bemerkt. Vielleicht ist er an mir vorbeigelaufen, ohne dass ich es mitbekommen habe. Immerhin ist er ein Monster. Verdammt, was mache ich hier nur? Warum grübbele ich so sehr über eine Person nach, die ich nicht kenne? Ich schüttle meinen Kopf. Ich muss endlich aufhören zu denken und stattdessen anfangen zu arbeiten.
Ich laufe zu Stefan und frage, ob ich mit ihm wechseln kann. Er stimmt zu. Vielleicht, weil er sich immer noch Sorgen um meinen Zustand gemacht hat. Ich bin ihm dankbar.
Die Bestellungen für die Gäste entgegenzunehmen, ist immer noch schlimm, aber seit dem heutigen Vorfall fühle ich mich wie betäubt. Ich habe die ganze Zeit auf die Regeln geachtet, gelächelt und meine Arbeit gemacht. Es ist wie eine Schleife. Immer die gleichen Schritte und keine Fehler machen. Wie ein Mantra habe ich es in meinem Kopf eingeprägt. Und dann ist alles viel einfacher geworden. Vielleicht werde ich eines Tages auch so wie Stefan. Er macht seine Arbeit immer perfekt.
Irgendwann werden die Kunden weniger. Es tauchen mehr Kollegen auf, die ich noch nie gesehen habe, und dann wird mir klar, dass die Nacht vorbei ist. Ich spüre langsam die Müdigkeit, die meinen Körper überkommt, und bin überglücklich, dass ich die Zeit überstanden habe. Ich hatte gedacht, dass es öfter zu Streitereien kommt oder dass jemand stirbt. Aber Stefan hat mir auf dem Weg zum Umkleideraum gesagt, dass es heute schön war und dass es manchmal hektischer und riskanter ist. Ich dachte, ich würde mich schlecht fühlen, aber bis jetzt geht es mir gut.
In der Umkleidekabine angekommen, ziehe ich mich um. Ich trage jetzt eine graue Sporthose und ein graues T-Shirt, das auch alle anderen bekommen haben. Danach verlasse ich den Raum und spüre wieder dieses Unbehagen. Wieder macht sich Sorge in mir breit. Ich schließe die Tür des Umkleidekabine und schaue nach links, in Richtung des Restaurants, aber da ist niemand. Und dann nach rechts, wo die Treppe ist, aber auch dort ist niemand. Vielleicht werde ich einfach zu paranoid. Ich atme tief ein und aus.
Ich laufe zur Treppe und gehe hinauf. Und dann, als ich meinen Blick nach oben und nicht mehr auf die Stufe werfe, sehe ich ihn. Den Unbekannten.
,,Schön dich wieder zu sehen, Amelie", sagt er mit einem schiefen Lächeln im Gesicht. Woher kennt er meinen Namen? Mein Herz setzt einen Schlag aus. Verdammt, warum muss ich ausgerechnet ihn treffen? Ich nicke ihm zu, bevor ich weiter die Treppe hinaufgehe. Als ich an ihm vorbeigehe, packt er mich plötzlich am Arm und zieht mich näher an sich heran. Zu nah!
Er kommt meinem Gesicht näher. Es sind vielleicht nur dreißig Zentimeter zwischen uns. Seine Augen bohren sich in meine. Schnell mache ich ein paar Schritte rückwärts und reiße mich von ihm los, aber es nützt nichts. Was will er eigentlich von mir?
,,Lassen Sie mich los...", verlange ich, aber er lacht mich nur aus. Mein Herz rast und mir ist wieder zum Weinen zumute. Warum können sie mich nicht einfach in Ruhe lassen? Warum müssen sie mich ärgern und versuchen, mich an meine Grenzen zu bringen?
,,Immer mit der Ruhe! So behandelt man keine Kunden", sagt er, zwinkert mir zu und lässt meinen Arm los.
,,Bis dann, meine Liebe! Wir sehen uns bald wieder!", sagt er amüsiert, dreht mir den Rücken zu und lässt mich ganz allein auf der Treppe stehen. Meine Hände ballen sich zu Fäusten. Ich verstehe diese Welt einfach nicht! Habe ich etwas falsch gemacht? Stimmt es, dass es noch mehr Regeln gibt und ich diese versteckten Regeln gebrochen habe? Muss ich mir das alles gefallen lassen? Ich schüttle den Kopf.
,,Warum bist du hier?", sagt plötzlich eine allzu bekannte Stimme. Ich drehe mich erschrocken zu ihm um, wie eine überrumpelte Katze. Mein Chef löst sich von der Wand, an der er angelehnt war, und geht auf mich zu. Woher kommt er denn jetzt her?
,,Ich wollte auf mein Zimmer gehen. Es tut mir leid, dass ich zu lange gebraucht habe und Ihren Gast aufgehalten habe. Ich-", sage ich hastig.
,,Hat er etwas gesagt?", unterbricht mich mein Chef. Ich weiß nicht genau, was er von mir hören will. Ich bleibe stumm. Seine blauen Augen mustern mich durchdringend. Ich kann es nicht ertragen, ihm in die Augen zu sehen. Dieser Mann schüchtert mich einfach so ein.
,,Er hat also etwas gesagt", schlussfolgert er, während er einen Schritt auf mich zugeht, ohne seinen Blick von mir abzuwenden. Ich spüre nun die Wand in meinem Rücken. Bitte, lass mich in mein Zimmer, sage ich in meinem Kopf.
,,Er sagte nur, dass wir uns wiedersehen werden. Mehr nicht, ich schwöre!", flüstere ich und senke meinen Blick. Ich kann es nicht ertragen, wenn ich seinen Blick auf mir spüre. Es fühlt sich an, als würde er mit spitzen Pfeilen auf mich schießen.
,,Hat er noch etwas anderes gesagt?", fragt er ein wenig eindringlicher. Ich schüttle sofort den Kopf, traue mich aber immer noch nicht, ihm in die Augen zu sehen. Die Luft wirkt auf einmal so drückender. Aus irgendeinem Grund beginne ich zu schwitzen.
,,Nein, nur, dass er bald zurückkommt. Ich glaube, er mochte seinen Getränk. Deshalb hat er es erwähnt. Ich...", stottere ich.
Es entsteht Stille. Keiner versucht, das Gespräch in Gang zu halten. Die Atmosphäre ist einfach zu angespannt. Seine Dominanz ist spürbar. Sein Gesicht verfinstert sich, sein Blick ist wie versteinert. Irgendwann ergreift er dann doch wieder das Wort und sagt: ,,Ich verstehe. Du kannst jetzt gehen. In deinem Zimmer liegen neue Kleider und dein Essen für heute. Guten Appetit. Und das nächste Mal vergiss nicht, was ich dir heute gesagt habe. Habe ich mich klar ausgedrückt?".
Sofort nicke ich und beeile mich, von hier wegzukommen. Ich entferne mich schnell von ihm und stolpere, als ich an ihm vorbeilaufe. Mit hochrotem Kopf raffe ich mich schnell auf und laufe in mein Zimmer. Mein Zufluchtsort.
Ich atme tief ein und aus. Irgendwann werde ich von hier abhauen.
Wieder und wieder denke ich an diesen Gedanken.
Eines Tages wird jeder eine gerechte Strafe bekommen. Dazu muss ich nur durchhalten...
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