19. Ein Kuss

,,Amelie."

,,Amelie, bist du wach?", höre ich eine Stimme sagen.

,,Amelie."

Langsam öffne ich meine Augen und schaue auf die weiße Wand vor mir. Ich gähne laut und strecke mich. Es ist weder hell, noch ungewohnt dunkel. Mein Herz pocht heftig. Für einen kurzen Moment raubt mir die Angst den Atem, bis ich merke, dass ich mich in meinem Zimmer befinde.

,,Amelie", wispert eine Stimme hinter mir. Ich merke langsam, dass die Matraze leicht nachgibt und jemand an meiner Seite ist.

Sofort drehe ich mich in meinem Bett um und ziehe die Decke ein wenig hoch. Zuerst erkenne ich nur Umrisse, bis ich dann meinen Chef erkenne. Er sitzt auf der Kante des Bettes und sieht mich an. Er wirkt nervös. Stimmt etwas nicht?

,,Hallo", wispert Noe.

Ich setze mich auf, um ihn besser zu betrachten. Er trägt eine dunkle Jeans und ein weißes Hemd. Es wirkt so, als sei er fehl am Platz.

,,Tut mir leid. Bin ich etwa zu spät?", frage ich hastig und schaue aus dem Fenster. Es ist noch früh am Morgen. Warum ist er hier? Habe ich etwas falsch gemacht? Oder ist er meinetwegen hier?

Er streicht sich durch die Haare und unterbricht kurz den Blickkontakt. Er seufzt. Was geht ihm nur durch den Kopf?

,,Warum hast du das getan?", fragt er. Damit verwirrt er mich noch mehr. Was genau meint er eigentlich? Er scheint mein irritiertes Gesicht richtig zu deuten und sagt dann: ,,Warum hast du mir dein Blut angeboten?"

Ich verstehe. Ich schaue auf meine Hände hinunter. Wie soll ich ihm das nur erklären? Soll ich mir eine Lüge ausdenken? Aber ich bin nicht gut darin, andere zu belügen. Ich frage mich, ob er die Wahrheit vertragen kann. Ich hebe meinen Blick wieder.

,,Ich dachte, dass es helfen würde", antworte ich ehrlich. Ich weiß, dass es nur eine vage Antwort ist, aber zu mehr bin ich gerade nicht fähig. Es entsteht eine Stille zwischen uns.

,,Es scheint dir wieder gut zu gehen. Konntest du dich erholen?", frage ich besorgt.

Er nickt. Am liebsten würde ich ihn reden hören, denn ich mag seine Stimme sehr. Aber das tut er nicht.

,,Du musst schockiert gewesen sein", sagt Noe nach minutenlanger Stille. Warum fühlt sich diese Situation so komisch an? Seit ich ihm mein Blut gegeben habe, weiß ich nicht genau, wie ich mich verhalten soll.

,,Das war ich. Ich wäre gerne zu dir gegangen, um zu sehen, wie es dir geht, aber ich konnte nicht so einfach gehen, wenn noch Kunden im Restaurant sind", erwidere ich und weiche wieder seinem Blick aus. Diese Intensität irritiert mich.

,,Der Kunde ist König. Sie müssen bedient werden", sagt er nur. Ich lächle ihn müde an.

,,Stimmt. Ich habe mein Bestes getan, um in deiner Abwesenheit alles zu erledigen. Am Anfang war es schwer, aber am Ende ist es mir leichter gefallen. Manche Kunden sind sehr nett", sage ich leise. Ich schaue nun auf meine Hände.

,,Ich weiß. Ich habe alles gehört. Du hältst dich an die Regeln", antwortet er. Ich sehe ihn wieder an. Ja, ich halte mich an die Regeln. Das ist alles, was ich tun kann und was ich brauche.

,,Warum diese Regeln?" frage ich und beiße mir auf die Zunge, als mir diese Frage herausrutscht.

,,Regeln sind wichtig. Regeln können das Leben vereinfachen und schützen", sagt er knapp.

,,Du magst Regeln? Hast du noch mehr Regeln?", frage ich interessiert. Er presst die Lippen fest aufeinander und nickt zögerlich. Interessant. Er muss die Kontrolle über alles haben. Das scheint ihm unangenehm zu sein, denke ich. Ich schätze, das bedeutet, das Thema zu wechseln.

,,Ich fühle mich hier wohl. Ich weiß genau, was ich zu tun habe und was mich erwartet, wenn ich etwas tue. Ich habe Freunde gefunden, die ich sehr mag. Ich habe eine Arbeit, die mir Spaß macht."

,,Das kann man schnell verlieren, wenn man nicht aufpasst. Nichts ist für immer. Das solltest du dir merken", sagt er und steht plötzlich auf. Ich mache es ihm nach und stehe ebenfalls auf. Warum klingt er jetzt so gemein? Was will er mir damit sagen? Bedeutet das, dass ich mich nicht zu sehr an dieses Leben gewöhnen sollte, weil ich sowieso sterben werde? Dieser Gedanke macht mich traurig.

,,Ich verstehe nicht." Ich mache eine Pause. ,,Was willst du mir damit sagen?"

Er seufzt. ,,Ich wollte dir nur sagen, dass dein Job nicht immer von deiner Leistung abhängt. Das kannst du dir selbst erklären. Außerdem gilt das auch für deine Freunde. Irgendwann ist auch diese Beziehung zu Ende. Es ist besser, Abstand zu halten."

Ich schüttle den Kopf. Warum muss er alles so schlecht reden?

,,Beziehungen machen glücklich. Sonst kann man es hier irgendwann nicht mehr aushalten", erwidere ich. Er schaut nicht mehr in meine Richtung. Er wendet sich von mir ab und läuft zur Tür. Bitte, geh nicht... Er berührt die Klinke.

,,Ich habe dich vermisst", sage ich lauter. Er bewegt sich nicht mehr. Seine Hand liegt noch immer auf dem Türgriff. Ich höre ihn laut ausatmen.

Ich habe ihn so sehr vermisst. Ich weiß, es ist dumm, aber ich vermisse ihn wirklich. Ich frage mich ständig, wo er ist und was er gerade macht. Ob er mich auch vermisst, so wie ich ihn vermisse, oder ob er in meiner Nähe sein will oder nicht.

Ich atme laut aus und ein und dann werfe ich für kurze Zeit meine Schüchternheit ab. Ich laufe zu ihm und umarme ihn von hinten. Er zuckt kurz zusammen. Ich lehne meinen Kopf auf seinen Rücken.

,,Ich habe viel an dich gedacht. Ich hatte so furchtbare Angst um dich. Ich bin froh, dass es dir gut geht und du wieder fit bist. Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn dir etwas zugestoßen wäre", flüstere ich und drücke mein Gesicht näher an ihn. Ich spüre seine harten, männlichen Körper. Ich fühle mich sicher und geborgen.

Er sagt kein einziges Wort. So stehen wir minutenlang, bis ich ihn loslasse und einen Schritt zurücktrete, um ihn wieder von mir loszulassen. Die Spannung liegt noch immer in der Luft. Ich habe Angst vor ihm. Angst vor dem, was er tun wird.

Er dreht sich um. Seine Augen scheinen zu glänzen. Ich habe noch nie so viel Wärme in seinen Augen gesehen. Er öffnet den Mund, aber kein Wort kommt über seine Lippen. Er schluckt, und dann hat er sich wieder unter Kontrolle. Die Wärme in seinen Augen scheint zu verschwinden.

,,Beziehungen spielen in meinem Leben keine große Rolle. Du siehst etwas in mir, das ich dir nicht geben kann. Du solltest damit aufhören und dich lieber auf dein eigenes Leben konzentrieren. Ich vergebe dir für dieses Missgeschick, aber ich werde es das nächste Mal nicht mehr zulassen", sagt er, während er näher zu mir kommt und mich nun mit diesen eiskalten blauen Augen betrachtet.

,,Ich bin zufrieden mit meinem Leben. Ich mag mein Leben so wie es ist", sagt er knallhart.

Wieder schlucke ich und fasse mir dabei an den Hals. Ich habe ihn noch nie so lange reden hören. Kann ich ihm wirklich glauben? Habe ich all seine Handlungen missverstanden und sie als Zuneigung fehlinterpretiert? Sagt er wirklich die Wahrheit?

,,Warum kann ich dir nicht glauben?", frage ich und versuche, mir meine Gefühle nicht anmerken zu lassen. Plötzlich lächelt er nur.

,,Die Wahrheit tut weh. Aber alles, was ich von dir will, ist, dass du für mich arbeitest", erwidert er. Langsam kommt er mir näher, ohne mich aus den Augen zu lassen.

Mein Herz pocht heftig gegen meine Brust. Warum tut er das? Warum behandelt er mich so?

,,Dann erkläre mir das bitte. Was, glaubst du, ist zwischen dir und mir? Warum hast du mich ignoriert? Früher hast du jedes Mal vor allen anderen gegessen. Jetzt tauchst du nicht mehr auf. Fühlst du überhaupt etwas? Bist du wirklich so ein grausames Monster?", schoss es mir aus den Mund. Was mache ich hier eigentlich? Das führt doch zu nichts.

,,Begreifst du es einfach nicht?", fragt er. ,,Was weißt du denn schon von mir? Denkst du wirklich, du weißt alles über mich?"

Mein Atem geht schneller. Ich beiße die Zähne zusammen und balle meine Hände zu Fäusten. Das kann einfach nicht sein. Ich weiß, was ich gefühlt habe. Aber warum muss er alles so kompliziert machen? Er hat ja recht. Ich weiß nicht alles über ihn, und wenn ich ehrlich bin, will ich es jetzt auch nicht wissen.

,,Siehst du, die Wahrheit tut weh. Du machst es mir auch wirklich einfach", sagt er belustigt und dreht sich wieder um. Der Druck in meinem Herzen wird immer schmerzhafter. Der Schmerz ist kaum auszuhalten.

Kein Zurück mehr.

Plötzlich ist alles klar und ich weiß, was ich jetzt tun muss. Vielleicht werde ich es später bereuen, aber jetzt, in diesem Augenblick, muss ich es tun.

Ich verringere den Abstand zwischen uns, drehe ihn um, lege meine Hände an seine Wange und ziehe ihn näher zu mir. Und dann lege ich meine Lippen auf seine.

Ich küsse ihn.

Ich will ihm zeigen, was er mir bedeutet. Das Schöne ist und lässt mich lächeln, dass er diesen Kuss zwischen uns erwidert.

Ich schnappe nach Luft und beende damit den Kuss. Es fühlt sich an, als hätte er minutenlang gedauert. Ich schaue ihn an. Ich streichle seine Wange. Er lässt es immer noch zu.

Aber auch dieser Moment muss irgendwann enden.


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