1. Die Nacht

Es ist ein kalter Novembertag. Ich spüre, wie die Kälte durch das offene Fenster in das warme Zimmer strömt. Heute ist das Wetter angenehm. Die Sonne strahlt mir ins Gesicht und ich spüre, wie sich eine Gänsehaut auf meinen Armen bildet. Diese kleinen Momente machen mich in letzter Zeit sehr glücklich.

Schnell wische ich mir über die Arme, um die Gänsehaut zu vertreiben, binde meine braunen Haare zu einem Zopf und schließe dann das Fenster mit einem kräftigen Ruck. Ich verlasse den Umkleideraum und begebe mich direkt hinter den Tresen, wo ich die meiste Zeit im Restaurant verbringe. Es ist wieder so weit.

Das Restaurant "Die Nacht" hat geöffnet.

Ich habe keine Angst, ich habe keine Angst. Still wiederhole ich die Worte in meinem Kopf, um mich selbst zu überzeugen. Ich hole einige Male tief Luft und zwinge mir ein freundliches Lächeln ins Gesicht, auch wenn es mir enorm schwerfällt.

Lautes Schmatzen. Zahlreiche Gelächter aus allen Ecken. Ein ekelhafter Geruch, der mich seit Tagen in den Wahnsinn treibt. Und diese verdammte Hitze, die dafür sorgt, dass ich mich wie ein Frosch in einem heißen Kochtopf fühle. Ich will fliehen, ganz weit weg von hier. Leider ist es nicht so leicht, von hier zu entkommen. Ich bin ein Gefangener und jeder in diesem Raum weiß das nur zu gut.

,,Mädel, beweg deinen Arsch und bring die Bestellung zum Kunden!", schreit der Koch gereizt, der sich hinter mir befindet. Ich drehe mich um und nehme sofort sein wütendes Gesicht wahr. Es trennt uns nur eine weiße Wand und die einzige Möglichkeit, um Kontakt mit ihm aufzunehmen, ist durch das kleine quadratische Schiebefenster, das gerade offen steht und mir einen Einblick in die Küche gewährt.

Die Hitze, die aus der Küche kommt, schlägt mir quasi knallhart ins Gesicht entgegen. Es ist verdammt nochmal zu heiß in der Küche und ich frage mich, wie die Köche nur so lange da drinnen sein können, ohne in Ohnmacht zu fallen. Meine Augen brennen. Ich trete einen Schritt zurück, um dieser Hitze zu entweichen. Leider bringt das auch nicht viel. Der Geruch ist eindeutig schlimmer.

Ich habe ihn noch nie in seiner ganzen Gestalt gesehen. Seine Haut ist grün, was ich bisher noch nie an einem Menschen gesehen habe. Er hat keine Augenbrauen und kein einziges Haar an seinem Kopf oder im Gesicht. Seine schmalen Lippen formen sich zu einem Strich. Der Koch lächelt nie. Seine ebenso grünen Augen verfolgen mich. Die Nervosität nimmt wieder die Oberhand in meinem Körper.

Mein Blick wandert zur Bestellung, die vor mir auf den Tisch abgelegt wurde. Auf dem Teller liegen mehrere Streifen Fleisch geschnitten; Gemüse, das in feine kleine Stücke geschnippelt wurden und eine blaue Soße, die ich noch nie gesehen habe.

,,Tisch drei. Menschenfleisch mit Gemüse und unserer hausgemachten Soße", sagt er, bevor er wegschaut, das Fenster zuschließt und an der nächsten Bestellung arbeitet.

Genau das ist es. Es ist Menschenfleisch. Wer hätte gedacht, dass ich irgendwann an einem Ort landen würde, an dem Menschenfleisch verkauft wird. Ich nicht... Und nun muss ich die wichtigsten Entscheidungen meines Lebens treffen, um nicht selber so zu enden wie das Stück Fleisch auf dem Teller. Mein Hals schnürt sich zusammen. Beruhige dich, ich schaffe das.

Mir wird automatisch schlecht und mein Herz klopft wieder wie verrückt. Ich muss die Bestellung zum Kunden bringen, allerdings ist es immer noch eine Herausforderung für mich, das Essen zu diesen Wesen zu bringen. Jedes Mal aufs Neue.

Vorsichtig hebe ich den warmen Teller und drehe mich zur Kundschaft um. Schweißtropfen fließen langsam über meine Stirn. Ich beiße mir auf die Zunge und blicke auf Tisch drei.

Dort sitzt kein Mensch, obwohl er einige Ähnlichkeiten aufweist. Sein Körper sieht menschlich aus, doch sobald man nach oben schaut, erhascht man einen Blick auf ein rattenähnliches Gesicht. Ich schlucke. Dieses Ding ist hungrig. Ich muss mich endlich bewegen und ihm das Essen bringen, sonst frisst er mich.

Regel Nummer eins: Zeit ist kostbar. Lass niemanden warten.

Mit vorsichtigen Schritten steuere ich mein Ziel an und versuche die anderen Monster nicht zu stören. Ich lasse jeden durch und versuche nicht die Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Als ich dann vor dieser Ratte stehe, stelle ich behutsam den Teller vor seiner Nase ab. Jeder meiner Bewegungen wurden von ihm verfolgt. Bloß kein Fehler machen. Ganz langsam ...

,,Guten Appetit. Wenn Sie-"

Er hört mir gar nicht zu und greift das Fleisch wie ein Wahnsinniger, um es direkt in seinen Mund zu stopfen. Schmatzen ertönt im ganzen Raum. Sein Speichel tropft ihm auf den Tisch. Ein paar Monster werfen mir Blicke zu, jedoch nur für einige Sekunden bis sie sich wieder auf ihr eigenes Essen konzentrieren. Ich versuche diese Blicke zu ignorieren.

Die Ratte ist in seiner eigenen Welt und ignoriert mich völlig. Ich verbeuge mich leicht und laufe dann zurück an mein Platz hinter der Theke.

Regel Nummer zwei: Der Kunde ist König.

Langsam beruhigt sich mein Herz. Diese Monster dürfen nicht im Bereich der Mitarbeiter und komischerweise hat noch nie jemand in meiner Anwesenheit diese Regel gebrochen. Es gibt mir das Gefühl, in Sicherheit zu sein, wenn ich die weiße Linie auf dem Boden hinter mich bringe und den Bereich hinter der Theke betrete.

Ich atme tief ein und aus. Ich habe überlebt und die Bestellung ist beim Kunden. Ich schließe die Augen, um die Situation kurz zu verarbeiten, aber das hält nicht lange an.

Geschreie. Ein Stuhl fliegt über die Köpfe mehrerer Kunden und dann ein lauter Knall, als der Metallstuhl auf dem Boden aufschlägt. Als Nächstes fallen mehrere Teller und einige Gläser auf den Boden. Zwei der Monster scheinen eine Auseinandersetzung zu haben und versuchen gerade sich die Köpfe einzuschlagen. Das Essen liegt leider auf dem Boden.

Nein. Nein. Nein. Nein...

Regel Nummer drei: Kein Streit erlaubt. Es muss Ordnung geschafft werden, damit jeder Kunde ein gutes Erlebnis hat.

,,Was machst du denn da? Beweg deinen flachen Hintern und sorge dafür, dass das Essen nicht auf den Boden fällt. Fleisch ist kostbar!", brüllt der Koch wütend und wirft aus dem kleinen Fenster ein Brotmesser nach mir. Ich kann mich schnell ducken, bevor mich das Messer fast erwischt. Das Messer landet auf dem Boden. Ich bücke mich, greife nach dem Messer und werfe ihm böse Blicke zu.

,,Warum tust du nichts? Ich-"

,,Halt die Klappe und erledige deine Arbeit. Oder soll ich unserem Boss sagen, dass du dich der Arbeit verweigerst?" Er blickt mich zornig an. Seine grünen Augen scheinen noch dunkler auszusehen. Ich kann ihm einfach nicht widersprechen.

Regel Nummer vier: Keine Arbeit verweigern.

Ich presse meine Lippen zusammen und halte das Messer mit der anderen Hand, während ich auf die zwei Monster zugehe. Es hat sich eine Menge von Schaulustigen gebildet. Ich hoffe, dass diese Wesen mir keine Probleme machen werden. Regel Nummer drei ist bekannt, da überall an den Wänden diese Regeln hängen.

,,Ehm... Entschuldigen Sie... Bitte... Hier sind Streitereien nicht erlaubt. Stopp, bitte werfen Sie nicht den Tisch um. Stopp, nein... Nicht- "

Der kleinere von beiden bekommt einen richtigen Schlag ab und sein schwarzes Blut tropft auf dem dreckigen Boden. Doch er gibt nicht auf und bleibt hartnäckig. Er entblößt seine scharfen Zähne; ein tiefes Knurren entweicht aus seiner Kehle und plötzlich springt er auf den größeren, mit einer Stärke, die den Größeren dazu bringt, sein Gleichgewicht zu verlieren. Seine Fangzähne steuern auf den schuppenartigen Hals und versinken sich hartnäckig darin. Rotes Blut fließt aus der Wunde. Gelächter, Anfeuerungsrufe hallen durch den großen Raum. Ich verstehe kein einziges Wort, was diese Wesen sagen, aber ich weiß, dass es nicht Gutes bedeutet.

Mir wird schlecht und ich kneife kurz die Augen zu. Das muss aufhören. Ich muss was tun. Sofort!

,,Stopp!", schreie ich so laut wie ich kann. Plötzlich hält jeder inne und sie starren mich alle an. Die Blicke der Monster machen mir Angst. Es fühlt sich so an, als ob ich die Unterhaltung gestört habe und dass ich keine Befugnis habe, mich einzumischen. Verdammt, was habe ich nur getan?

Der Kleinere starrt mich jetzt ebenso an und lässt den Größeren los, der still auf den Boden fällt und sich nicht mehr bewegt. Mit langsamen Schritten läuft der Kleinere auf mich zu. Er wirkt wie eine Raubkatze, die gleich seine Beute einfangen möchte. Ich versuche seinen Blick standzuhalten, keine Schwäche zu zeigen, aber diese Augen zeigen mir nur, dass er mich umbringen möchte.

Vorsichtig gehe ich zurück, ohne seinen Blick zu verlieren. Ich möchte nicht sterben...

Plötzlich knurrt der Vampir ähnliche Wesen wieder und stürmt auf mich zu. Ich renne, aber es ist  natürlich zu spät. Er hat meinen Arm geschnappt und drückt fest zu. Das Messer fällt auf den Boden. Ich kann mich nicht von ihm abwenden.

,,Bitte...", flehe ich verzweifelt, obwohl ich weiß, dass es nichts bringt. Ein teuflisches Grinsen breitet sich auf seinem Gesicht aus.

Ich schaue ihn an und dann hebt er seine Hand. Sein Schlag wird gleich folgen. Verzweifelt kneife ich meine Augen zu und warte auf meinen elendigen Tod. Ich warte und warte, jedoch spüre ich nichts.

Vorsichtig öffne ich erst das linke Auge, dann das rechte Auge. Seine Hand ist noch in der Luft, bereit mich zu schlagen, aber er tut es nicht. Warum? Ich folge seinem starren Blick.

Ich schlucke. Er ist da.


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