4.

Dezember, Freitag

Wie ich später erfuhr, hatte er das tatsächlich. Ich hatte jedoch den klaren Vorteil, dass der Mathe 2 Kursraum nicht auf dieser Etage lag. Zudem wusste ich, dass Mike und Eric wieder in der letzten Stunde kommen würden. Also war ich vor dem Unterricht unauffindbar und danach schnell genug verschwunden.

Allerdings hatte ich heute schlechtere Karten, denn der Kursraum von Deutsch 2 – der letzte Kurs, der noch fehlte – befand sich direkt nebenan. Bis zum Klingeln stand ich also im Mädchenklo und drehte Däumchen.

Anhand der Blicke, die Nikita und ihre Clique mir danach zuwarfen, war das wohl auch gut so. Stefanie grinste unverhohlen, als ich mich entnervt neben sie setzte. Wieso machte Mike sich diese Mühe? Ich sah absolut keinen Redebedarf.

„Er probiert es sicher nach dem Unterricht noch mal. Soll ich ihn fragen, ob er deine Handynummer möchte?" Ihrem Grinsen entnahm ich, dass sie die Idee verdammt gut fand.

„Nur wenn du eines frühen Todes sterben möchtest!"

„Ich weiß nicht, was du dich so anstellst. Er sieht verdammt heiß aus, er ist definitiv im richtigen Alter, er hat einen sehr interessanten Beruf, und er macht sich ganz offensichtlich Gedanken um dich."

„Er weiß wo ich wohne!", gab ich grimmig zurück. „Wenn er sich solche Sorgen macht, hätte er genauso gut klingeln und fragen können!"

Ich hatte zwar keine Ahnung wie ich darauf reagiert hätte (vermutlich hätte ich einfach den Hörer der Sprechanlage aufgehängt), aber er hätte es gekonnt, wenn es ihm ernst gewesen wäre. Das hier hingegen tat er nur um mich zu ärgern. Und diese Genugtuung würde ich ihm definitiv nicht geben!

Er hatte sicher wieder den Beamer und den Laptop einzupacken und viele Fragen von schwärmenden Mädchen zu beantworten. Wenn ich Glück hatte, würden sie ihn lange genug aufhalten.

Kurz vor Unterrichtsende begann ich unauffällig einzupacken. Als es klingelte war ich die Erste an der Tür. Die Tür zum Nachbarkursraum öffnete sich gerade und die ersten Schüler strömten heraus. Mit einem kurzen Blick auf sie durchquerte ich den Flur bis ins Treppenhaus, wo ich mich in Sicherheit wähnte.

Ich bezweifelte, dass Mike mir folgen würde. Diese Blöße würde er sich nicht geben. Und Steffi würde es hoffentlich nicht wagen, ihren Vorschlag umzusetzen – das würde sie sonst bereuen!

Der Hinterausgang war offen und ich wandte mich nach links, auf den Weg zwischen dem Gebäudeteil B und dem Bolzplatz. Der Weg, der für meine Flucht heute verantwortlich war. Genervt warf ich dem verdammten Loch im Zaun einen bösen Blick zu. Hoffentlich würden die nächsten Freitage nicht genauso ablaufen. Vielleicht wäre es doch besser gewesen, es hinter sich zu bringen. Aber dann dürfte ich mir von Steffi, Nikita und Co die ganze nächste Woche noch mehr dumme Kommentare anhören.

„Hey.", rief es plötzlich und ich fühlte mich augenblicklich ertappt. Hatte ich Mike unterschätzt?

Vor mir löste sich eine Gestalt aus dem Schatten des Schulgebäudes und schlenderte langsam auf mich zu. Größe und Statur passten nicht, stellte ich erleichtert fest. Er war zwar muskulös, aber kleiner. Das war nicht Mike. Im nächsten Moment allerdings wünschte ich mir, es wäre so gewesen.

Es gab diese Typen von denen man automatisch wusste, dass sie Ärger bedeuteten. Man wusste es einfach, weil ihre ganze Haltung genau das signalisierte und der eigene Körper darauf reagierte. Der Kerl, der hier auf mich zu kam und dabei eine Zigarette wegschnippte, gehörte ganz eindeutig zu dieser Sorte.

Er trug eine Bomberjacke über einem schwarzen Sweater, abgewetzte Jeans und Turnschuhe. Sein dunkles Haar war zu kurz, sein Lächeln zu unecht, sein Gang zu selbstbewusst, seine dunklen Augen zu bedrohlich. Er betrachtete mich wie ein Raubtier, das seine Beute anvisierte.

„Du bist die mit der Band.", stellte er fest. Dann war das keine Verwechslung. Mir stellten sich die Nackenhaare auf. Gänsehaut breitete sich über meinem Körper aus, mein Herz begann warnend schneller zu schlagen. Meine Beine weigerten sich weiter zu gehen, also blieb ich verunsichert stehen.

Es war Freitagnachmittag. Die meisten Schüler waren schon zu Hause, die anderen würden durch den Hauptausgang gehen. Wir waren hier ganz allein und ich hatte das ungute Gefühl, dass er darauf spekuliert hatte.

„Wir müssen uns mal unterhalten." Er grinste, da mir offenbar anzusehen war, dass er mich einschüchterte. Und er war nur noch wenige Schritte von mir entfernt.

„Es ist verdammt schwer, dich zu erwischen! Man könnte glatt meinen, dass du vor mir auf der Flucht bist!", knurrte da eine Stimme hinter mir. Schritte näherten sich und ich drehte mich erleichtert um. Ich hätte nie gedacht, dass ich mich einmal freuen würde Mike zu sehen.

Er hatte sich seine Jacke über die Schulter geworfen, als hätte er keine Zeit gehabt sie anzuziehen. Sein grauer Pullover spannte sich über der muskulösen Brust. Sein Blick flog zwischen mir und dem Typen hin und her und seine Lippen pressten sich verärgert aufeinander. Ich hatte das Gefühl das er das Kreuz durchdrückte, während er sich neben mir aufbaute und Bomberjacke mit Blicken taxierte.

„Ist alles okay?" Mikes Stimme klang ungewohnt scharf und autoritär. Bomberjacke musterte ihn abschätzend, warf mir einen letzten Blick zu und zwinkerte.

„Wir sehen uns.", versprach er, drehte sich um und marschierte davon. Ich sah ihm sprachlos nach.

„Ist alles okay?", wiederholte Mike, sanfter diesmal.

„Ja." Meine Stimme zitterte leicht. Ich hatte gar nicht bemerkt, wie angespannt ich war.

„Ein Verehrer?" Etwas in seiner Stimme sagte mir, dass er die Frage nicht ernst meinte und einfach nur wissen wollte, was hier los war. Doch darauf hatte ich selbst keine Antwort. Bomberjacke hatte sich nach unserer Band erkundigt. Manchmal wurden wir gefragt, ob wir auf Geburtstagen oder ähnlichem auftraten. Ich hätte gern geglaubt, dass es nur darum ging.

Ich spürte, dass Mike mich noch immer beobachtete und zwang mich, ihm meine Aufmerksamkeit zu schenken. Ein leichter Hauch seines Aftershaves wehte zu mir herüber. Es war dasselbe, das auch an seinem T-Shirt gehaftet hatte. Dieser Geruch beruhigte mich aus irgendeinem Grund und die Anspannung fiel langsam von mir ab.

„Was gibt's?", fragte ich betont unschuldig.

„Versteckst du dich vor mir?" Er klang wirklich ein bisschen beleidigt. Hatte ich sein Ego verletzt? Das war er sicher nicht gewöhnt, wo die Mädchen sonst Schlange standen.

„Nein.", log ich ungeniert. „Wieso?"

„Dann haben deine Freundinnen nicht zufällig erwähnt, dass ich dich gesucht habe? Mehrfach?" Sein Blick machte deutlich, dass er mich durchschaute, aber es war mir egal.

„Jetzt hast du mich ja offensichtlich gefunden."

Er seufzte, schüttelte den Kopf und fuhr sich mit der Hand durch die fluffigen, dunkelbraunen Haare. Als wüsste er selbst nicht recht, was er hier eigentlich tat. Das machte ihn glatt ein bisschen sympathisch.

„Ich habe mir Sorgen gemacht.", begann er. Ich beschloss den Vorwurf in seiner Stimme zu überhören, weil er mir eben – wenn auch unbewusst – geholfen hatte. Außerdem hatte ich Mike irgendwie anders eingeschätzt. Er konnte ja doch ganz fürsorglich sein.

„Dir ging es nicht gut. Du konntest den Kopf kaum bewegen und danach warst du nicht in der Schule. Niemand wusste, wie es dir geht. Ich hatte schon Angst, ich hätte einen Wirbel verletzt, oder Schlimmeres." Soweit hatte ich gar nicht gedacht. Er schaffte es tatsächlich, dass ich ein schlechtes Gewissen bekam. Zumindest ein bisschen.

„Es war nur eine Prellung. Ich war ein paar Tage zu Hause, aber jetzt ist wieder alles in Ordnung." Bisher hatte ich nichts Gegenteiliges bemerkt. An fremden Shirts hatte ich auch nicht wieder geschnuppert. Ich zuckte die Schultern. „Du wusstest doch, dass ich seit zwei Wochen wieder in der Schule bin. Das spricht eigentlich für sich."

„Das bedeutet noch lange nicht, dass es dir gut geht. Das kann auch heißen, dass du nur nicht so viel Unterrichtsstoff verpassen willst."

„Wenn dich das so beschäftigt hat, hättest du auch klingeln und mich fragen können.", wehrte ich ab und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Ich war mir nicht sicher, ob du mich deiner Mutter doch noch vorstellen möchtest." Nun zuckte er die Schultern und lächelte. Andere Mädchen hätte dieser Anblick sicher dahinschmelzen lassen. Aber so leicht ließ ich mich nicht um den Finger wickeln. Dank ihm hatte ich nämlich ganz schön mit Mom zu kämpfen gehabt, die mich an diesem Abend noch zu gern in die Notaufnahme geschleppt hätte.

„Sie hätte dich sicher gern kennengelernt, um sich für die Arztbesuche zu bedanken."

„Hätte ich dich heute nicht erwischt, hätte ich vor eurer Tür gestanden."

„Dann hast du ja noch mal Glück gehabt." Oder ich. Oder wir beide.

„Deine Feindseligkeit ist anstrengend." Das Lächeln war verschwunden. Sein Blick war einen ganzen Hauch kühler geworden. Offensichtlich hatte er sich dieses Gespräch anders vorgestellt.

„Was soll ich denn sonst sein? Dankbar?" Ha! Da musste er erst einmal überlegen.

„Okay, wir hatten auch keinen guten Start.", gab er dann zu und ich schnaubte. Das war wohl die Untertreibung des Jahres. Außerdem bedeutete ‚Start', dass noch etwas folgen würde. Darauf konnte ich getrost verzichten.

„Ich habe jedenfalls mit Frau Aschensee gesprochen." Frau Aschensee war unsere Direktorin, weshalb ich Mike stirnrunzelnd ansah. Er hatte sich aber nicht über mich beschwert, oder? „Sie will sich schnellstmöglich um die Reparatur des Zauns kümmern. Du musst also keine Angst haben, dass das noch mal passiert."

„Da müsstest du ihr vorschlagen, den Sportunterricht abzusetzen. Sport ist Mord." Bälle ganz besonders, wie man gesehen hat. Vielleicht würde sie auf einen erfahrenen Polizisten hören? Wie alt war er eigentlich? Stefanie hatte vorhin gemeint, Mike wäre ‚definitiv im richtigen Alter'. Er sah aus wie Anfang zwanzig.

„Ich denke es gibt Schlimmeres, als sich ab und zu bewegen zu müssen." Das klang wieder überheblich. Ich war mir sicher, dass er den Sportunterricht geliebt hatte. Ich war nicht unsportlich, ich empfand nur die meisten Übungen als völlig nutzlos. Wann musste ich im täglichen Leben schon mal eine Vorwärts- oder Rückwärtsrolle anwenden? Oder ein Seil raufklettern? Ich wollte kein Einbrecher werden.

„Ich habe nichts gegen sinnvolle Bewegung. Aber wie sinnvoll ist es bitte, wenn zwanzig Mann einem Ball hinterherrennen? Oder wenn man zwanzig Kilo Hanteln stemmt?", fügte ich mit Blick auf seinen muskulösen Oberkörper hinzu. Wie lange er wohl täglich im Fitnessstudio verbrachte, um so auszusehen?

„Lass mich raten: Für dich sind wahrscheinlich Shoppingtouren und Tütenschleppen Sport genug?" Er betrachtete mich abschätzig, als würde er meine Sorte Mädchen ganz genau kennen. Dieser Blick ließ mich innerlich kochen. Tatsächlich hasste ich Shoppingtouren. Wenn meine Mutter Lust darauf hatte, musste sie immer meine Tante mitnehmen. Ich trug höchstens die Tüten, ja, denn ich war ansonsten zu nichts anderem zu gebrauchen. Und ja, ich war hinterher völlig ausgelaugt. Sinnvoll fand ich daran aber gar nichts.

„Ich gehe gern schwimmen, wenn du es unbedingt wissen willst. Der einzige Ballsport, den ich mag, sind Tischtennis und Federball. Die sind nämlich ungefährlich, wenn man sie abbekommt. Und der einzige Marathon, den ich regelmäßig mache, ist ein Lesemarathon. Mit Büchern, falls du so etwas kennst."

Einen Moment lang war Mike über meinen Ausbruch perplex. Dann grinste er provokant. „Meinst du Bilderbücher?"

Wäre es sehr unsportlich von mir, ihm eine Ohrfeige zu verpassen? Oder ihm das Gesicht zu zerkratzen, dass ihm das unverschämte grinsen verging?

„Hatte euer Vortrag deshalb so viele Bildchen? Damit du wusstest, worum es eigentlich geht?", keifte ich zurück.

Anstatt mich böse anzugucken lachte er allen Ernstes los. Ein herzliches, offenes Lachen, als würden wir beide nur miteinander scherzen. Das brachte mich aus der Fassung und ich wusste nicht recht, wie ich darauf reagieren sollte. Mitlachen? Einfach gehen? Oder ihm eine knallen?

„Ach, hier steckst du." Eric kam um die Ecke gebogen, die Hände mit einigen Koffern bepackt. „Ich habe schon versucht dich anzurufen, aber dein Handy ist wohl noch lautlos. Hallo Liana."

„Hallo.", murmelte ich zurück, nun vollends verunsichert, während er die Szenerie musterte. Mike konnte nicht aufhören zu lächeln. Schön, dass ich ihn amüsierte. Das hatte ich definitiv nicht beabsichtigt.

„Ich durfte gerade einer ganzen Traube Schülern erklären, dass wir nicht wiederkommen." Er stellte zwei Koffer ab und seufzte. Ich war ein wenig überrascht. Ich hatte damit gerechnet, dass sie noch die zwölfte Klasse besuchten, aber offenbar war das nicht vorgesehen. Zumindest hieß das auch, dass ich Mike nicht so schnell wiedersah.

„Als Abschiedsgeschenk haben wir einen ganzen Stapel Handynummern bekommen. Und wir wurden eingeladen.", fuhr er fort und ich kam mir plötzlich sehr überflüssig vor. Das wollte ich gar nicht wissen.

„Ich muss los." Entschieden hob ich die Hand zu einem Abschiedsgruß. Wurde Zeit, dass ich hier wegkam.

„Ich wollte euch nicht unterbrechen.", entschuldigte sich Eric.

„Wir waren ohnehin fertig miteinander.", erwiderte ich. In jeglicher Hinsicht. Mike bedachte mich mit einem Blick, den ich nicht deuten konnte.

„Dann wünsche ich dir ein schönes Wochenende, Liana." Er sprach meinen Namen bedächtig aus. Als wolle er ihn kosten und wüsste noch nicht, was er von ihm halten sollte.

„Euch auch." Ich drehte mich auf dem Absatz um und lief davon, doch ich spürte seinen Blick noch immer in meinem Rücken brennen.

„Was war los?", hörte ich Eric fragen, bevor der Abstand zu groß wurde. Ich hätte Mikes Antwort darauf gern noch gehört, denn ich persönlich hatte keinen blassen Schimmer.

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