3.
„Was?" Sven sprach aus, was ich dachte. Ich hätte es vermutlich nur ein wenig schriller ausgesprochen, hätte ich meine Sprache gefunden.
„Du?" Auch Sarah war überrascht stehen geblieben. Und ich gezwungenermaßen mit ihr.
„Ich bezweifle, dass einer von euch schon mal einen Erste-Hilfe-Kurs hatte." Ich hörte Schritte und schon stand er neben mir und sah auf mich hinab. „Oder imstande ist, sie zu halten."
Ich schnappte entrüstet nach Luft. Das klang ja, als würde ich eine Tonne wiegen – was ich selbstverständlich nicht tat! Ich hätte mich durchaus als schlank bezeichnet. Nicht übermäßig, dürr war ich nicht, aber normal eben.
Sarah musterte mich und ich sah ihr an, dass sie ihm Recht gab. Ich versuchte ihr mit meinem Blick zu signalisieren, dass ich sie umbringen würde. Zur Untermauerung quetschte ich ihren Arm ein wenig, aber sie ignorierte meine Warnungen.
„Deine Gesundheit geht vor.", erklärte sie stattdessen und ließ mich einfach los. „Ich würde sagen, du bringst sie nach Hause, weil du sie verletzt hast!", fuhr sie an Mike gewandt fort, als hätte ich kein Mitspracherecht.
„Klingt fair.", stimmte einer seiner Fußballfreunde zu.
„Dann gehe ich lieber allein!", zischte ich und Mike lächelte süffisant.
„Dann zeig doch mal, wie gut du allein gehen kannst.", forderte er und machte eine entsprechende Handbewegung. Ich biss mir auf die Lippe und befahl meinem Körper, sich in Bewegung zu setzen. Wenn ich jetzt einen perfekten Abgang hinlegte, hätte ich auch Runde zwei gewonnen.
Leider spielte mein Körper nicht mit. Das Schwindelgefühl kam zurück, egal wie sehr ich blinzelte oder mir die Fingernägel in die Handballen grub. Und das sah man offensichtlich auch. Ehe ich erneut auf allen Vieren landete war Mike neben mir, legte einen Arm um meine Taille und presste mich an seine Seite.
„Dachte ich mir.", stellte er leise fest. „Möchtest du wirklich vor ein Auto torkeln und die Statistik verfälschen?"
„Ich könnte dich vor ein Auto schubsen. Dann stimmt sie wieder!" Ich spürte wie er leise auflachte, dabei meinte ich das durchaus ernst. Nach allem was er angerichtet hatte, machte er sich tatsächlich noch über mich lustig. So ein Idiot! Dabei war es beinahe unmöglich noch zu stürzen, so wie er mich festhielt. Er bot mir den nötigen Halt, gleichzeitig dirigierte er mich vorwärts und gab das Tempo an. Ich gab es nur ungern zu, aber er wusste was er tat.
Und plötzlich kam in mir die Frage auf, ob dieser Schuss ein Unfall oder Absicht gewesen war. Ich war mir nicht sicher. Einerseits war es zweifellos eine Glanzleistung, einen so präzisen Schuss abzugeben. Das Loch im Zaun war nicht übermäßig groß. Dazu noch ein Ziel, das sich bewegte. Und etliche Mitspieler, die im Weg hätten sein können. Die Wahrscheinlichkeit so etwas zu planen und auch noch umzusetzen war – statistisch gesehen – wohl sehr gering. Vielleicht überschätzte ich ihn. Andererseits waren die Chancen auf einen Zufall sicher nicht geringer.
Mike genoss das alles viel zu sehr. Es war definitiv keine schlechte Rache. Und entschuldigt hatte er sich auch nicht. Entweder, weil er ein arroganter Idiot war, oder weil es ihm eben nicht leidtat – was wiederum für Absicht sprach. Vielleicht auch aus beiden Gründen.
„Wird dir wieder schwindlig?" Mike deutete mein Grübeln wohl anders. Sein Griff wurde noch ein wenig fester, dabei hielt er mich sowieso schon eng an sich gedrückt.
„Nein, aber wenn du weiter so zudrückst, schaffst du das vielleicht noch."
„Oh." Sofort lockerte sich sein Griff. „Entschuldige."
„Du kannst mich ruhig ganz loslassen, ehe ich noch mehr blaue Flecke bekomme." Momentan hatte ich einen guten Weg gefunden, dass mir weder schwindlig, noch schwarz vor Augen wurde. Ich durfte nur den Kopf nicht bewegen.
„Bist du sicher?"
„Ich würde es gern riskieren, ja." Bevor wir noch von jemanden gesehen wurden, den ich kannte.
„Okay." Zögernd löste sich sein Griff, doch sein Arm verharrte vorsorglich über meinem Körper in Position, als müsste er jeden Moment wieder zugreifen. Ich ignorierte die Geste und lief weiter. Der Weg nach Hause kam mir heute unerträglich lang vor.
„Du schwankst jedenfalls nicht mehr.", stellte Mike fest, der mich nicht aus den Augen ließ.
„Dann fällte das torkeln vor ein Auto wohl weg."
„Du könntest aber immer noch mit einem anderen Fußgänger zusammenprallen." Obwohl ich sein Gesicht nicht sah, wusste ich das er grinste.
„Ich werde wohl darauf vertrauen müssen, dass die anderen mir ausweichen." Zu Schade, dass ich kein Pferd parat hatte und stattdessen mit diesem Esel laufen musste. Konnte er nicht einfach verschwinden? „Ich glaube, den Rest des Weges schaffe ich auch allein."
„Das glaube ich aber nicht."
„Du willst doch nur wissen wo ich wohne!"
„Das stimmt. Und deshalb mache ich es ganz offensichtlich, statt heimlich in der Datenbank auf Arbeit zu stöbern. Wo bliebe sonst der Spaß?"
„Wahrscheinlich hast du deswegen Computerverbot und musst Vorträge an Schulen halten."
„Schon möglich. Oder weil ich bei den Schülern einfach so gut ankomme." Wohl eher bei den Schülerinnen.
„Nicht zu vergessen bei den Lehrern.", ergänzte ich. Frau Kühnemund hatte ihm ja beinahe aus der Hand gefressen. Sie hatte immerhin gekichert. Ich hatte sie vorher noch nie kichern gehört.
„Du solltest mich mal mit Eltern erleben." Lieber nicht.
„Ich hoffe du erwartest nicht, dass ich dich meiner Mutter vorstelle!", raubte ich ihm die Illusionen. Er brauchte nicht zu glauben, dass ich ihn mit hochnahm.
Ich wohnte mit meiner Mutter allein in einer Dreiraumwohnung in einem Block. Meine Eltern hatten sich getrennt, als ich noch ein Kleinkind war. Ich hatte trotzdem regelmäßigen Kontakt zu meinem Vater, doch das Verhältnis zu ihm ließ sich folgendermaßen beschreiben: Es gab nicht wirklich eins. Zum einen wohnte er dafür zu weit weg, weshalb wir uns nicht oft sahen, zum anderen hatte ich kein Interesse daran. Zwischen uns lagen ganz einfach Welten – nicht nur auf die Entfernung bezogen.
Das Verhältnis zu meiner Mutter hingegen war dafür umso enger. Wir hatten eine gute und recht unkomplizierte Mutter-Tochter-Beziehung. Eigentlich kam sie eher einer Freundschaft gleich. Dennoch hätte ich nicht gewusst, wie ich ihr Mike hätte vorstellen sollen. Zumindest nicht ohne die Worte ‚arroganter Idiot' oder ‚Blödmann' in den Mund zu nehmen.
„Das hängt ganz von dir ab.", riss Mike mich aus meinen Gedanken.
„Was soll das heißen?"
„Das ich keine Ahnung habe, ob du imstande bist Treppen zu laufen. Du?"
„Das werde ich jetzt herausfinden." Erleichtert blieb ich vor der kleinen Treppe oberhalb unseres Blockes stehen und zeigte auf die Eingangstür. „Vielen Dank fürs bringen, ohne dich hätte ich es nicht gefunden!"
Er ließ seinen Blick nach oben schweifen und schien zu überlegen. „Welches Stockwerk?" Das Vierte, aber das würde ich ihm bestimmt nicht auf die Nase binden.
„Ich glaube im Zweifelsfall erkenne ich das am Namensschild.", erwiderte ich also nur schnippisch.
Mike ignorierte mich wieder. Er lief die Treppe hinunter, drehte sich um und sah mich auffordernd an. Ich versuchte nicht zu offensichtlich mit dem Kiefer zu mahlen. Betont gleichgültig nahm ich eine Stufe nach der anderen, ohne den Blickkontakt zu ihm abzubrechen. Ich schaffte die Treppe problemlos. Er schmunzelte, doch ich stiefelte schon an ihm vorbei zur Eingangstür und kramte in meiner Tasche nach dem Schlüssel.
„Danke für diesen tollen Abend! Du warst umwerfend!", versuchte ich ihn erneut abzuwimmeln, spürte jedoch wie er hinter mich trat. Offenbar verstand er den Wink mit dem Zaunpfahl nicht.
„Ist deine Mutter zu Hause?" Nein, er verstand den Wink eindeutig nicht. Und bevor ich reagieren konnte, drückte er auf die Klingel.
„Ja?", erklang es kurz darauf aus der Sprechanlage. Natürlich nahm sie nie ein Bad, eine Dusche oder war gar nicht erst zu Hause, wenn man es am dringendsten brauchte!
„Ich bin's." Der Summer ertönte und ich drückte die Tür auf. Angesäuert blieb ich im Eingang stehen. Diese Tür würde sich nur vor seiner Nase schließen, egal wie ich das anstellen würde! „Zufrieden?"
„Zufrieden.", bestätigte er jedoch und machte gar keine Anstalten mit hoch zu wollen. „Wir sehen uns morgen."
„Morgen?" Vor lauter Überraschung vergaß ich ihn weiter böse anzugucken.
„An deiner Schule. Oder haben sie dich inzwischen rausgeworfen?"
„Mich wundert es eher, dass sie dich noch reinlassen.", konterte ich und verschwand im Treppenhaus, bevor er antworten konnte.
In der Nacht zum Freitag wurden die Schmerzen fast unerträglich und die Übelkeit ging nicht weg. Also ging ich am nächsten Tag brav zum Arzt.
Mein Nacken war geprellt, ähnlich wie bei einem Schleudertrauma. Das erklärte natürlich so manches. Allerdings konnte man dagegen nicht viel tun, außer sich langsam zu bewegen und Schmerzmittel zu nehmen. Beides tat ich bereits.
Meine Ärztin hatte Erbarmen mit mir und schrieb mich bis einschließlich Mittwoch krank. Ich war nicht böse darum. Die Vorstellung Mike wieder zu begegnen war nicht sehr verlockend. Außerdem konnte ich mich so vor den Konsequenzen seines Besuches drücken: Etwa vor erneuten Schwärmereien meiner Mitschülerinnen, einschließlich Stefanies. Sie hatte zwar nicht unrecht – seine Augen hatten wirklich eine ungewöhnliche Farbmischung und hässlich war er auch nicht. Aber was nützte sein gutes Aussehen, wenn er ein absoluter Idiot war?
Was für Konsequenzen mein Fehlen dagegen haben würde, damit hatte ich nicht gerechnet.
Donnerstag
Ich hatte meinen Rucksack noch nicht einmal abgestellt, als mich Stefanie auch schon bombardierte: „Weißt du eigentlich, was hier letzte Woche noch los war? Du hast echt was verpasst!" Davon war ich überzeugt.
„Dir auch einen schönen guten Morgen." Ich ließ mich auf meinen Platz sinken und sah mich unbehaglich um. Irgendwie fühlte ich mich beobachtet, und tatsächlich: Nikita und ihre Clique sahen allesamt zu uns rüber. Zu mir, genauer gesagt.
Im Kopf ging ich kurz meine Morgenroutine durch: Ich war nicht mehr im Schlafanzug und mein Haar war auch gekämmt. Ich hatte Zähne geputzt, meine braunen Augen mit einem Lidstrich betont und mir die Wimpern getuscht. Also was starrten sie so?
„Rate mal, wer letzten Freitag im Mathe 1 Kurs war ...", forderte Stefanie meine Aufmerksamkeit zurück und grinste bis über beide Ohren. Ich hatte keine Lust den Namen auszusprechen.
„Der Weihnachtsmann?" Passend zu den nahenden Weihnachtsferien.
„Ha ha, sehr witzig!" Ihre Augen wurden zu schmalen Schlitzen und sie senkte verschwörerisch die Stimme. „Er hat nach dir gefragt."
Einen Moment lang war ich zu überrascht, um zu reagieren. Damit hatte ich absolut nicht gerechnet. (Jetzt ergaben die Blicke der anderen natürlich Sinn.) Stefanie belauerte jedoch weiter meine Reaktion. Also senkte auch ich die Stimme:
„Was hast du dem Weihnachtsmann erzählt?"
„Sehr witzig! Du weißt genau von wem ich rede!"
„Hast du sie schon gefragt?" Esther ließ sich auf den Platz vor uns sinken und musterte mich neugierig. Das Ganze hatte sich offenbar herumgesprochen wie ein Lauffeuer.
„Ja, aber sie stellt sich dumm.", beschwerte Steffi sich gereizt.
„Oh, ein Geheimnis also." Esther grinste zweideutig und in diesem Moment gab ich auf. Wilde Gerüchte oder Spekulationen konnte ich nicht auch noch gebrauchen! Da war die Wahrheit deutlich harmloser.
Ich erzählte ihnen knapp die Rohfassung und ließ sämtliche Feinheiten – zum Beispiel, dass ich in seine Arme geplumpst war, oder er mich Heim gebracht hatte – fein säuberlich weg. Wichtig war es ohnehin nicht. Und die beiden hörten sowieso nur, was sie hören wollten. Was Stefanie auch gleich bestätigte.
„Er spielt hier Fußball?" Ihr klappte der Mund weit auf. Ich seufzte laut.
„Nett von dir, dass du dich um meinen Gesundheitszustand sorgst! Es geht mir übrigens besser, vielen Dank!"
„Er sah ganz schön betroffen aus, als wir ihm sagten, dass du krank bist.", berichtete Esther.
„Mit Sicherheit. Er hat sich ja nicht einmal entschuldigt!" Ich sag's doch: Kein Unfall!
Sie zuckte die Schultern und erhob sich. „Ich glaube, morgen kommen sie in den Mathe 2 Kurs. Vielleicht will er das dann nachholen."
Das bezweifelte ich. Aber er konnte es gern versuchen.
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