2.
Donnerstag
In der folgenden Woche ging es bei den Mädchen in unserem Kurs nur um ein Geschlecht. Leider ließ sich auch Stefanie, deren Date sich als ein Reinfall entpuppt hatte, von dem Thema anstecken.
„Nikita hat behauptet, dass sie gehört hat, dass die beiden wiederkommen. Sie sollen ihren Vortrag wohl auch in den anderen Kursen halten."
„Aha." Das erklärte natürlich, wieso neuerdings jedes Mädchen aus der Oberstufe auf dem Gang herumlungerte, sobald es zur Pause klingelte. Wenn sie nicht gerade im Bad standen, um ihr Makeup zu überprüfen. Oder warum sie trotz Novemberwetter bauchfrei trugen. Selbst Stefanie achtete in letzter Zeit auf einen tieferen Ausschnitt und engere Sachen.
„Ob es auffällt, wenn ich mich in deinen Kurs mogel?", wandte sie sich an Esther, die aus dem Nachbarkurs stammte und auf dem leeren Platz vor uns saß. Ihr Kursraum war praktischerweise genau nebenan. Wir verbrachten gern die Pausen miteinander.
„Und plötzlich doppelt so viele Schülerinnen im Kurs sind? Du bist nämlich nicht die Einzige mit dieser Idee ..." Esther grinste wissend und strich sich eine Strähne ihres dunkelbraunen Haares hinters Ohr. Ich war die einzige Blondine in dieser Runde, mit meinem Honigblond.
„Schade. Ich hätte Mike gern noch einmal in die Augen gesehen.", bedauerte Steffi.
„Genau. In die Augen.", spottete ich. Dieser Körperteil war sicher der Letzte, der sie interessierte. Ja, er sah gut aus und er war Polizist, was es irgendwie doppelt sexy machte. Aber mussten sie sich deshalb gleich vorstellen, wie es wäre von ihm mit Handschellen ans Bett gefesselt zu werden, während er sie vernaschte? Genau das war nämlich das Hauptgesprächsthema der letzten vier quälend langen Tage gewesen. Die Mädels hier brauchten eindeutig ein Hobby!
Esther verkniff sich nur mühsam ein Lachen, wechselte dann jedoch schnell das Thema: „Stimmt es eigentlich, dass ihr heute probt?"
„Ja. Aber zusehen lohnt sich gerade nicht. Wir müssen für die Weihnachtsfeier üben.", ging ich dankbar darauf ein. Ich war die Sängerin in einer kleinen, fünfköpfigen Band namens ‚Calm Storm'. Ursprünglich hatten wir die Band nur aus Spaß gegründet, doch durch eine Abmachung mit meiner Schulleiterin waren wir inzwischen etwas bekannter geworden.
Diese Abmachung besagte, dass wir – solange ich Schülerin dieses Gymnasiums war – die Sporthalle zum Proben mit der Band, sowie zum Verwahren der Instrumente nutzen durften. Natürlich nur, wenn kein Unterricht in besagter Halle stattfand. Das Vorrecht konnte mir außerdem jederzeit entzogen werden, zum Beispiel wenn meine Noten absacken würden, oder in der Sporthalle Schabernack getrieben wurde.
Im Gegenzug spielten wir auf schulischen Veranstaltungen Lieder ihrer Wahl. Das passte uns nicht immer und anfangs hatte es uns einige Überwindung gekostet, doch inzwischen hatten wir uns daran gewöhnt. Wir hatten dadurch sogar Fans bekommen und ich war der Liebling meiner Musiklehrerin. Eigentlich eine Win-win-Situation. Allerdings stand ich nicht so gern im Rampenlicht und noch weniger mochte ich Feiertagslieder. Aber was sollte ich machen?
„Vielleicht komme ich trotzdem.", entgegnete Esther leise und ein leichtes Lächeln, das ich nicht deuten konnte, huschte über ihre Lippen.
Die Probe sollte 16:30 Uhr stattfinden. Ich war ein wenig spät dran, da ich gelesen hatte und etwas zu sehr in mein Buch vertieft gewesen war. Aber zum Glück wohnte ich nicht weit von der Schule entfernt – und damit auch von der Sporthalle.
Unsere Schule bestand aus drei Gebäudeteilen: Das Gebäudeteil A, das Foyer – in dem sich auch der Haupteingang befand – und das Gebäudeteil B, in dem sich unser Kursraum befand. Neben dem Gebäudeteil B verlief ein gepflasterter Weg, auf dessen anderer Seite der Bolzplatz des Gymnasiums war.
Im Sommer nutzten ihn die Sportlehrer um uns draußen zu triezen. Und da er allen zur Verfügung stand, wenn die Schule ihn nicht brauchte, wurde er nach der Schule oftmals zum Fußballspielen genutzt. So wie heute.
Es war ein recht milder Tag, die Sonne schien und keine Wolke war am Himmel. Das schienen einige Irre gleich auszunutzen, obwohl es bereits dämmerte. Normalerweise war der Bolzplatz um diese Jahreszeit fast immer leer. Es war zu kalt und zu düster, denn der Platz war nicht beleuchtet. Außerdem war der Zaun kaputt, der den Platz umgab. Ein großes Loch, links neben dem Tor, in Wegrichtung, klaffte darin.
Die Fußballspieler schien das nicht zu kümmern. Ich konnte hören wie der Ball hin- und her geschossen wurde und die Spieler sich gegenseitig etwas zuriefen, doch ich schenkte ihnen keine Beachtung. Die Sporthalle befand sich direkt neben dem Bolzplatz. Ich konnte die anderen bereits warten sehen und versuchte herauszufinden, ob Esther dabeistand. Die Fußballspieler brüllten, ich beschleunigte meinen Schritt. Und plötzlich prallte etwas Hartes mit ziemlichem Karacho gegen meinen Nacken.
Ich hörte und spürte den Aufprall, während ich gleichzeitig nach vorn katapultiert wurde. Einen Moment lang sah ich nur noch Sternchen. Irgendwie hatte ich mich noch abfangen können, denn ich fand mich auf allen Vieren wieder, verwirrt den Boden anstarrend. Meine Knie und meine Handballen brannten vom Sturz. Und mein Kopf brummte, als hätte mich jemand niedergeschlagen.
„Scheiße, du hast sie voll erwischt!" Am Rande meines Sichtfeldes nahm ich mehrere Bewegungen wahr, doch ich war nicht imstande darauf zu reagieren.
„Ist alles okay?" Eine große Gestalt hockte sich vor mich und musterte mich beunruhigt. Langsam hob ich den Blick und sah in leuchtend grüne Augen mit hellblauen Sprenkeln, umrahmt von langen, dunklen Wimpern. Irgendwie kamen mir die Gesichtszüge und die Stimme bekannt vor, aber mein Kopf war noch zu sehr mit seinem Trauma beschäftigt.
„Geht es dir gut?" Sarah war plötzlich neben mir und strich mir über den Rücken. Außer mir war sie das einzig andere weibliche Bandmitglied. Nun erkannte ich auch endlich, wer vor mir hockte.
„Ist dir schwindlig?" Mike trug eine kurze schwarze Sporthose, ein weiß-schwarzes T-Shirt, darüber eine offenstehende blaue Sportjacke, und natürlich Turnschuhe. Aber er war es. Unverkennbar. Was hatte ich meinem Karma getan?
„Es geht schon.", behauptete ich und kratzte mein letztes bisschen Würde zusammen, um aufzustehen. Vor ihm würde ich garantiert nicht im Dreck sitzen bleiben!
„Bist du sicher?"
Ich zwang mich, ihn und die Schmerzen zu ignorieren und rappelte mich hoch. Meine Handballen waren aufgeschürft und bluteten, mein Nacken protestierte schreiend gegen die Bewegung, doch das war nicht das Schlimmste: Um mich herum standen sämtliche Fußballspieler, plus die Bandmitglieder und Mike. Und alle starrten mich an.
„Es geht schon.", wiederholte ich in der Hoffnung, dass sie dann einfach gingen. Keiner rührte sich. Ich konnte mich leider auch nicht in Luft auflösen.
„Das sah übel aus. Du hast den Ball volle Kanne abbekommen!", widersprach Sven, ein weiteres Bandmitglied. Er war ein Jahr jünger als wir anderen und oftmals noch ein richtiger Kindskopf. „Tut es weh?"
„Nein, alles bestens!", entgegnete ich zynisch und drehte den Kopf in seine Richtung. Ein schwerer Fehler. Eine Welle aus Schmerz zuckte meinen ganzen Körper hinauf. Mir wurde schwarz vor Augen. Die Geräuschkulisse um mich herum verschwand, in meinen Ohren dröhnte es nur noch. Ich schwankte und war nicht imstande mein Gleichgewicht wiederzufinden. Alles drehte sich plötzlich.
Zwei Hände packten mich. Mein Körper prallte gegen einen anderen, während ich darum kämpfte nicht das Bewusstsein zu verlieren und dem Strudel in meinem Kopf Einhalt zu gebieten.
So etwas hatte ich bisher noch nicht erlebt. Ein Mädchen aus unserem Sportkurs war einmal umgekippt, als sie beim Fußball den Ball vor den Kopf bekommen hatte. Danach war sie eine Woche lang mit einer Gehirnerschütterung krankgeschrieben gewesen. Konnte das auch solche Auswirkungen haben, wenn man nur den Nacken erwischte?
Ich versuchte mich zu erinnern, welche Erste-Hilfe-Maßnahmen unser Sportlehrer damals unternommen hatte, aber es fiel mir nicht ein. Das Gefühl auf einem drehenden Karussell mitzufahren war einfach zu stark. Zumindest klang es immer mehr ab.
„Liana? Hörst du mich?" Wieso? War auch mein Gehör angeknackst? Hatte ich meine Verletzungen unterschätzt?
Langsam öffnete ich die Augen. Jemand stützte mich mit seinem Körper. Mein Kopf ruhte an einer harten Brust. Ich bemerkte deutlich, wie sie sich hob und senkte. Eine Mischung aus Sandelholz, gepaart mit etwas Fruchtigem und einem Hauch Zimt, haftete an dem T-Shirt. Das roch gar nicht mal schlecht.
„Vielleicht sollten wir einen Krankenwagen rufen?", fragte jemand in die Runde. „Eine Kopfverletzung ist nicht ohne."
„Nein." Ein Krankenwagen war wirklich das Letzte, was ich gebrauchen konnte. Noch dazu wegen eines verdammten Balls! Halbherzig versuchte ich von dieser Brust abzurücken und allein zu stehen. Stattdessen wurde ich nur ein Stück nach hinten geschoben und prüfend betrachtet.
„Du bist gerade umgekippt!", tadelte Sarah. „Du solltest dich untersuchen lassen!"
„Sie war nicht völlig weg. Aber untersuchen lassen solltest du dich trotzdem!", entgegnete Mike vor mir. Nun erkannte ich sein Shirt. Hatte ich wirklich gerade an seinem T-Shirt gerochen? Okay, vielleicht brauchte ich doch einen Krankenwagen. Mein Kopf schien mehr als nur angeknackst zu sein!
„Ich wusste nicht, dass du auch Arzt bist." Entschieden schüttelte ich seine Hände ab und trat ein paar Schritte zurück, um Abstand zwischen uns zu bringen. Das war mehr als peinlich! Wieso musste ich ausgerechnet in seine Arme fallen? Die Auswahl hier war eigentlich groß genug.
„Ich will nur verhindern, dass du noch mal auf dem Asphalt landest." Beinahe hätte man glauben können, dass er sich Sorgen um mich machte.
„Du meinst, nachdem du mich dorthin befördert hast?", erinnerte ich ihn. Diesen Aspekt sollte man definitiv nicht außer Acht lassen. Wobei sich wirklich die Frage stellte, was Mike für einen Tritt hatte. Ich hatte schon viele Bälle abbekommen – aber das...
Seine Miene verhärtete sich und dieses überhebliche Lächeln, von dem die Mädchen in meinem Kurs so schwärmten und das mich auf die Palme brachte, umspielte wieder seine Lippen.
„Es scheint dir tatsächlich besser zu gehen." Das klang auch noch ungeheuer herablassend. Ich versuchte ihn mit meinen Blicken aufzuspießen, aber Sarah stellte sich zwischen uns. Ob sie ihn ober mich schützen wollte, wusste ich nicht.
„Ich bringe dich jetzt nach Hause. Du solltest dich ausruhen!", entschied sie. Im Gegensatz zu Mike machte sie sich nämlich wirklich Sorgen. Und ich fand die Idee hier weg zu kommen gar nicht so schlecht.
Sarah bot mir ihren Arm an und ich hakte mich dankbar bei ihr unter. Ich hätte nicht gedacht, dass man sich auf eine Schmerztablette und ein Kühlakku so freuen konnte. Und sobald es mir besser ging, würde ich meinen Boxsack malträtieren. Ich wusste auch schon genau, wen ich mir dabei vorstellen würde.
„Wartet." Mike seufzte entnervt. „Ich bringe Liana nach Hause."
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