kapitel drei

Nach dem Essen helfen mir meine Tante und mein Bruder beim Abwaschen.

Im Hintergrund läuft eine Folge Downton Abbey, während ich meiner Tante von meinem Tag erzähle. Natürlich erwähne ich kein Wort über das Gespräch mit James. Dann lenke ich das Thema auf sie und frage, wie es mit ihrem Laden läuft.

Vor sechs Jahren hatte meine Tante den Wunsch geäußert, ihren eigenen kleinen Gemüse- und Obstladen aufzumachen. Gemeinsam mit ihrer Schwester – meiner Mutter – und drei weiteren Freundinnen eröffnete sie dann zwei Jahre später den Laden The Sprout Basket. Das Gemüse und Obst hatten die fünf zusammen im Garten von Emma gezüchtet. Auch wenn der Laden gut besucht ist, rutscht die finanzielle Lage wieder ins Negative. Die Konkurrenz des neuen Supermarkts in der Stadt ist einfach zu groß. Vor allem nach dem Tod meiner Mutter, als der Laden fast ein halbes Jahr geschlossen war.

Laut meiner Tante läuft es in letzter Zeit wieder etwas besser, aber an ihrer Stimme kann ich hören, dass der Laden wohl nicht mehr lange durchhalten wird.

„Aber mach dir mal keine Gedanken", sagt meine Tante nur lächelnd und wischt die Arbeitsplatte sauber.

-

Mit dem Kopf auf die Hände gestützt sitze ich an meinem Schreibtisch in meinem Zimmer und starre auf die Notizen, die Ruby mir gegeben hat. Die Worte verschwimmen vor meinen Augen, und ich komme nicht weiter als eine Zeile.

Das Thema ist weder schwer noch habe ich Probleme, den Text zu verstehen, aber ich kann einfach nicht denken. Meine Gedanken schweifen immer wieder zu dem Geld in meinem Rucksack, der jetzt am anderen Ende meines Zimmers neben dem Schmutzwäschekorb steht. Ich habe es einfach nicht geschafft, den Inhalt herauszuholen.

Seufzend nehme ich eine andere Position auf meinem nicht besonders bequemen Stuhl ein und nehme meinen Stift wieder in die Hand, um weiterzuschreiben. Doch keine Sekunde später wippe ich schon wieder mit den Beinen und kaue auf dem Ende meines Stifts herum.

„Ugh."

Mit einem erneuten Seufzen lasse ich den Stift fallen und falte die Hände vor meinem Gesicht, ehe ich mir durchs Haar fahre und mich dem Übeltäter zuwende. Unschuldig steht der braune Rucksack an Ort und Stelle – derselbe, den ich kurz vor dem Tod meiner Eltern von ihnen bekommen habe.

Mit einem Ruck stehe ich auf, und die Lampe auf dem Tisch gerät ins Wackeln. Erschrocken halte ich die Luft an, ehe ich nach vorne springe, um sie aufzufangen. Wie in Zeitlupe rutscht sie über die Tischkante, streift meine Finger und landet schließlich mit einem Klirren auf dem Boden.

Die plötzliche Dunkelheit in meinem Zimmer lässt mich die Nacht draußen erst richtig wahrnehmen. Mein Blick schweift zu meinem digitalen Wecker am Bett, der grünlich schwach leuchtet und mir mitteilt, dass es bereits nach 23 Uhr ist.

Ich fluche leise und hoffe, dass meine Tante und mein Bruder nicht wach geworden sind. Gebannt halte ich den Atem an und lausche auf kommende Schritte. Erleichtert atme ich aus – sie scheinen es nicht mitbekommen zu haben. Vorsichtig taste ich auf meinem Schreibtisch herum, bis ich mein Handy zu fassen bekomme.

Das grelle Licht lässt mich die Augen zusammenkneifen. Ich schalte die Handytaschenlampe ein und begutachte den Schaden auf dem Boden. Zuerst ziehe ich die Lampe aus der Steckdose, bevor ich vorsichtig die größeren Scherben aufhebe und fege – mit dem Ärmel meiner Jacke über die Hand gestülpt – den Rest beiseite. Das muss ich morgen sauber machen.

Gerade als ich eine weitere Scherbe aufhebe, höre ich ein lautes Rumpeln hinter mir. Erschrocken fahre ich zusammen, und die Scherbe gleitet zu Boden, dabei streift sie meine Handfläche. Für ihre Größe sollte das eigentlich kein großer Schaden sein, aber die Kante ist so scharf, dass sie mich doch tatsächlich geschnitten hat. Fluchend stehe ich auf und renne nach draußen.

Zur selben Zeit reißt meine Tante ihre Tür auf, und unsere Blicke kreuzen sich. Ich verstecke meine Hand hinter meinem Rücken und hoffe, dass sie nichts gesehen hat, bevor wir in Timos Zimmer stürmen.

Mein Bruder liegt zusammengerollt neben dem Bett und schaut uns mit seinen großen blauen Augen verletzt und fast schon peinlich berührt an.

„Sorry", flüstert er leise, und der Ton in seiner Stimme bricht mir beinahe das Herz.

Zu zweit knien wir uns vor ihm nieder.

„Ich wollte doch nur etwas trinken gehen, und dann ist die Krücke weggerutscht." Er fängt an zu weinen.

Meine Tante und ich wechseln einen Blick, und sie nickt, bevor sie aufsteht und das Zimmer verlässt. Ich setze mich neben Timo, lehne mich ans Bett und lege einen Arm um ihn. Er richtet sich auf und kuschelt sich an mich.

Ich streiche ihm über das Haar, bis sein Schluchzen leiser wird und er schließlich verstummt. Einige Minuten sitzen wir schweigend auf dem Boden. Dann kommt unsere Tante mit einem Glas Wasser und Lorelei im Schlepptau zurück ins Zimmer.

Zu viert sitzen wir auf dem Boden. Timo trinkt das Wasser und beruhigt sich langsam. Lorelei legt ihren Kopf auf meinen Schoß, und ich kraule sie.

Für einige Minuten sitzen wir schweigend zusammengekauert und warten, bis das Glas leer ist. Timo gähnt laut und wir lachen.

„Na komm, ab ins Bett mit dir."

Wir helfen ihm ins Bett, und ich decke ihn zu, bevor ich ihm einen Kuss auf die Stirn drücke.

Meine Tante umarmt mich, bevor sie mir eine gute Nacht wünscht und in ihrem Zimmer verschwindet. Lorelei tapst mir hinterher, und ich verschließe meine Tür hinter ihr. Sie rollt sich auf meinem Bett zusammen und schaut mich neugierig an.

Ich schalte das Licht an, lehne mich gegen die Tür und atme aus, bevor ich meine verletzte Hand betrachte, die ich hinter meinem Rücken versteckt hatte. Die Wunde ist zum Glück nicht tief, aber sie blutet immer noch, und es brennt höllisch. Vor Sorge um Timo habe ich den Schmerz ausgeblendet.

In meinem Kleiderschrank finde ich zum Glück ein Erste-Hilfe-Set, das ich vor ein paar Tagen für mein Fahrrad gekauft habe, und hole ein Pflaster sowie einen Verband heraus. Ich traue mich nicht, ins Badezimmer zu gehen, aus Angst, dass meine Tante es mitbekommen würde.

Seufzend setze ich mich neben Lorelei, und sie beschnuppert meine verbundene Hand, bevor sie vorsichtig meine gesunde Hand ableckt. Ich lache leise und kraule sie erneut. Währenddessen lasse ich meinen Blick durch mein Zimmer gleiten und bleibe bei meinem Rucksack hängen.

Mit einem Ruck stehe ich auf. Lorelei steht ebenfalls auf, ihr Schwanz wedelt, und sie beobachtet mich, wie ich den Rucksack in die Hand nehme und öffne. Langsam ziehe ich den braunen Umschlag heraus – und mir wird wieder ganz heiß. Ich setze mich im Schneidersitz hin und öffne den Umschlag. Dann ziehe ich die Geldscheine heraus. So viel Geld.

Ich zähle die Scheine, und mit zitternden Fingern packe ich sie wieder zurück. James hatte nicht gelogen – es sind wirklich 40.000 Pfund. Mir wird schlagartig bewusst, dass das echt ist, und ich schaue mich hektisch nach einem guten Versteck um. Niemand darf das Geld sehen – zumindest nicht, solange ich nicht weiß, was ich damit machen soll.

Mein Blick fällt auf meinen Nachttisch. Ich ziehe die unterste Schublade heraus – meine Snack-Schublade. Ich verstecke den Umschlag unter Chips und Gummibärchen.

Müde schalte ich das Licht aus und stattdessen die kleine Lampe an meinem Bett an. Dann setze ich mich wieder neben Lorelei. Tausend Gedanken toben in meinem Kopf – eigentlich sollte ich schlafen. Ich rolle mich unter meiner Decke zusammen und kuschle mich an Lorelei.

Doch plötzlich habe ich einen Geistesblitz und setze mich wieder auf – diesmal aber nicht so hektisch, damit die Hündin sich nicht noch einmal erschreckt. Ich stehe auf, tapse zu meinem Schreibtisch und schalte meinen Computer ein. Er hatte meinem Vater gehört und ist dementsprechend schon etwas älter, wodurch er beim Hochfahren langsamer ist.

Das gibt mir Zeit, noch einmal darüber nachzudenken. Doch dann leuchtet das Display endlich auf, und mein Entschluss steht fest.

Ich werde dem Arzt meines Bruders eine E-Mail schreiben.

Das Geld ist da. Die Operation kann endlich stattfinden.

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