4.Kapitel SPB: Sad-Person-Burrito
Let go of things and persons who don't bring you joy and laughter and love.
Der Wind pfeift laut durch die Ritzen der Fensterrahmen, als ich die Stiegen zur Eulerei hinaufsteige. Es ist noch nicht mal mehr als drei Wochen her, seit wir uns in Kings Cross verabschiedet haben, doch ich vermisse Benj so sehr. Ich vermisse seinen Geruch, sein Lachen und ich vermisse es neben ihm aufzuwachen. Ich begutachte das cremeweiße Kuvert zwischen meinen Fingern. Die schwarzen Buchstaben schimmern durch das Papier hindurch. Was soll ich nur machen? Mein gesamter Körper schmerzt, so sehr vermisse ich ihn. Ich seufze resigniert und erklimme die letzten Stufen, bevor ich die schwere Tür zu den Schlafplätzen unserer geflügelten Postboten aufdrücke. Ein Windstoß fährt durch meine Haare und trägt den Geruch von Stall zu mir herüber. Ich streiche Strähnen aus meinem Gesichtsfeld und begebe mich zu Desty, die mich von einem Balken aus neugierig begutachtet.
„Hey, Kleines", grinse ich und lege meinen Kopf in den Nacken. Sie krächzt vergnügt. Die schwarzen Flügel schlagen einige Male, als sie zu mir flattert und sich auf meine Schulter plumpsen lässt.
„Uff. Du bist schon ganz schön schwer." Ein vorwurfsvolles Klackern ist die Antwort.
„Nein, das meinte ich nicht", brumme ich und fahre vorsichtig durch ihr weiches Gefieder. Sie beginnt meine Haare anzuknabbern, als wisse sie, dass ich keine Eulenkekse für sie mithabe.
„Hier", sage ich und halte ihr den Brief hin, „Weißt du an wen-?" Noch bevor ich meinen Satz beenden kann, schuhut sie erfreut, schnappt sich den Umschlag, schmiegt sich ein letztes Mal an mich, bevor sie ihre Schwingen ausbreitet und sich voller Elan auf den Weg macht. Flatternd und schneller als ich schauen kann, ist sie schon aus der Eulerei verschwunden und auf dem Weg nach London. Ich trete an die Luke und lasse den Wind über mein Haupt streichen. Der See glitzert fröhlich vor sich hin. Orange und rote Farbtupfer segeln durch die Luft. Desty ist nur noch ein kleiner, schwarzer Punkt auf einem blauen Blatt Papier. Ich wette, sie wird von Benj mit Eulenkeksen überschüttet. Ich atme tief aus und verharre für einen Moment. Es ist so friedlich. Wer weiß. Vielleicht haben wir ja mal ein Jahr lang Ruhe von dem ganzen Scheiß. Auch wenn ich es sehr bezweifle. Trotzdem. Es ist so verdächtig ruhig. Vielleicht. Ein einziges Mal. Ein einziges Mal ein Jahr voller Hoffnung und Vertrauen.
Nach einer Weile wende ich mich zum Gehen. Ich wollte noch mit Lily Sachen wegen Halloween abklären. Kann das nicht James machen? Er will doch eh keine Gelegenheit verpassen, bei ihr zu sein. Ich trabe die Treppe hinunter. Hoffentlich wird es was. Obwohl? Weiß ich nicht ganz sicher, dass es etwas wird? Aber was, wenn wir die Vergangenheit so beeinflusst haben, dass es nichts wird? Was, wenn wir die Zukunft der Vergangenheit komplett verändert haben? Warte was? Macht das überhaupt Sinn? Zeitreisen und Zeitsprünge sind so verwirrend. Ist es nicht so, dass man die Vergangenheit nicht mal ändern kann, auch wenn man es versucht? Müsste es nicht so sein, dass auch, wenn man das Gefühl hat die Vergangenheit geändert zu haben, beziehungsweise sie ändern will, sie nicht geändert hat, weil sie schon davor so war und man selbst ein Teil der Vergangenheit geworden ist?
„Nein! Jetzt hörst du mal mir zu!" Ich schrecke auf und bleibe wie angewurzelt auf der Stufe stehen.
„Was denn?! Du bist doch eh diejenige, die mich die ganze Zeit anschnauzt!" Das ist Lucas Stimme.
„Ja, aber nur, weil du mir nie zuhörst!" Oh, no. Marl erhebt erneut ihre Stimme: „Du hörst auch nie auf mich! Immer wenn ich sage, dass mich etwas wirklich stört oder du mich mit irgendwas wirklich verletzt hast, ist es dir egal!"
„Es ist mir nicht egal!", protestiert er lautstark, „aber ich seh nicht ein, dass ich was an mir ändern muss, nur weil du nicht damit zurechtkommst!"
„Nur weil ich was? Tut mir leid, dass es zu viel von dir verlangt ist, etwas zu ändern, was deiner Freundin weh tut", ihre Stimme ist beißend.
„Tut mir leid, dass es dir offenbar nicht passt, wer ich bin!", faucht er zurück, „Gut, dass du nach mehr als zwei Jahren Beziehung da draufkommst!"
„Das stimmt so nicht! Aber dennoch kannst du manchmal auf mich Rücksicht nehmen!"
„Warum muss ich mich ändern!? Warum? Ich versteh das nicht! Warum reich ich dir nicht so, wie ich bin?"
„Lucas, darum geht es nicht. Es geht darum-!"
„Nein, genau darum geht es offenbar!" Ich wende mich ungut berührt ab. War hier nicht irgendwo ein Geheimgang? Ich versuche die beiden lauten Stimmen, die miteinander ringen, auszublenden, als ich einige Schritte nach oben mache. Jackpot. Ich tippe schnell den dritten Stein neben dem Gemälde eines dicken Zauberers in einer Blumenwiese an, lasse das Bild zur Seite gleiten und verschwinde schnellen Schrittes im Gang dahinter. Die beiden werden sich hoffentlich wieder einkriegen. Ich meine, sie streiten sich regelmäßig wegen so banalen Sachen wie Zahnbürsten, Nutella und Hausaufgaben, also ja. Sie kriegen sich schon wieder ein. Ich schauere kurz. Solche Auseinandersetzungen habe ich noch gut von Toby in Erinnerung. Blitzende grüne Augen. Wut und Verzweiflung in jeder Faser meines Körpers. Ein flaues Gefühl macht sich in meinem Magen breit.
Ich sitze auf meinem Bett, als die Tür mit einem Mal aufgerissen wird. Mein Blick schnellt nach oben. Marls blonde Haare verdecken ihr Gesicht. Sie durchquert mit einigen Schritten das Zimmer und lässt sich auf ihr Bett fallen. Mit einem flauen Gefühl im Bauch drehe ich mich zu ihr.
„Marl?" Brummen ist die Antwort.
„Marl ist alles ok?", will ich wissen. Hoffentlich ist der Streit nicht ausgeartet. Stille. Schniefen.
„Oh no", murmle ich, rapple mich auf und haste zu ihr hinüber.
„Marl?", sage ich sanft. Wieder schnieft sie. Dann hebt sie kurz ihren Kopf, um sich ihre Haare aus dem Gesicht zu streichen. Ihre Augen schimmern schmerzerfüllt. Rot sind sie, gereizt vom salzigen Wasser der Tränen.
„Oh no", murmle ich und kletterte zu ihr auf das Bett. „Was ist denn los?" Ich schlinge meine Arme um sie, während Tränen weiter ihre Wangen hinablaufen.
„Lu-Lucas und ich", krächzt sie, „das", sie schluckt hart, „es ist vorbei."
„Was?", entfährt es mir. Marl nickt nur verzweifelt und ein Schluchzen entfährt ihr, als sie ihren Kopf gegen meine Schulter lehnt. Ich streiche sanft über ihren Rücken und lasse sie weinen. Bald ist mein Shirt nass von Tränen.
„Es ist ok", murmle ich, „Lass es raus. Es ist ok."
Schniefend und wimmernd kuschelt sie sich näher an mich.
„Wenn du darüber reden willst, ich bin da." Sie nickt. Ich streiche die blonden Strähnen hinfort, die wieder von ihrem Platz hinter Marls Ohr zurückgefallen sind und ihre Nase kitzeln. Nach einer Weile setze ich mich auf. „Ok, Marl. Wir machen jetzt Folgendes." Mit rotgeweinten, großen Augen sieht sie zu mir auf.
„Was denn?" Ihre Stimme ist rau.
„Bleib kurz wo du bist." Sie nickt. Ich hüpfe aus dem Bett, hole meine Decke und rufe kurz: „Twinky?" in den Raum. Mit einem kleinen Knall erscheint der kleine Hauselfe vor mir.
„Ja, Miss Haimerl?", quiekt die Kleine.
„Eiscreme." Sie nickt verstehen und hastig verschwindet sie auf der Stelle.
„Was machst du mit der Decke?", fragt Marl leise.
Ich grinse: „Wir machen einen Sad-Person-Burrito."
Einige Minuten später liegt eine Marlene, eingerollt in eine dicke Decke vor mir und wird mit Eiscreme von mir gefüttert. Die Tränen sind von ihren Wangen aufgetrocknet. Sie wirkt ruhig.
„Also", beginne ich vorsichtig, „was ist los? Warum denn?"
Ihre Augen schwimmen für einen Moment, bevor die sich fängt und beginnt: „Es is... irgendwie weird." Ich nicke und füttere ihr einen weiteren Löffel Eiscreme. Für eine Weile ist es still.
„Weil", sie schnieft, „er hat irgendwie seit den Sommerferien so wenig Zeit für mich. Und immer, wenn ich etwas sage, schnappt er behindert zurück. Dann hab ich ihn mal machen lassen, aber jetzt will ich mich halt schon wie ein Teil seines Lebens wieder fühlen, weißt du?" Ihre Stimme wird dünn. „Und, und ich mein, ja, wir si-" Sie stockt. Tränen schimmern erneut in ihren Augen. „Waren lange zusammen. Und ich dachte mir, ok, vielleicht braucht er einfach etwas Zeit für sich. Aber jetzt? Ich mein, wieviel mehr Zeit braucht er denn noch? Und ja. Immer wenn ich ihn darauf anspreche, heißt es, dass ich ihn nicht supporte und ja, dass das halt er ist und er das nicht ändern kann."
„Oh no", murmle ich und streiche ihr über die Schulter.
„Ja, aber weißt du was? Es soll mir wurscht sein. Was soll ich mit wem zam bleiben, der nie Zeit für mich hat und sich ganz offensichtlich nicht für mich interessiert? Soll er doch alleine in seinem Zimmer sitzen. Wird schon sehen, was er verloren hat." Ihre Augen funkeln vor Ärger. Sie entwurschtelt sich aus der Decke und schnappt mir Eis und Löffel aus der Hand. Mit großen Augen starre ich sie an.
„Weift du?", beginnt sie durch einen Mund voll Eis hindurch zu ranten, „er kanm mir geftohlen bleibn. Und ich seh nicht ein warum", sie schluckt, „warum ich ihm jetzt blöd hinterherheulen soll. Ich hab hier important shit zu erledigen. Und nur weil er ein Trottel is und nicht weiß was er will, soll das nicht mein Problem sein. Dieser- dieser Blödmann." Ein weiterer Löffel Eiscreme landet in ihrem Mund. Ich pruste bei dem originellen Schimpfwort.
„So gefällt mir das", sage ich, „Du bist Supergirl, ok? Oder zumindest mein Supergirl. Du bist fähig as fuck, hast einen super Charakter und kannst sowieso alles, wenn du willst, ok? You know that?"
Ihre aufgesprungenen Lippen verziehen sich zu einem Lächeln. „Danke Emmi. Und ja, I know."
Die Tage fließen den Fluss der Zeit entlang. Morgen wird der Mond am vollsten sein. Man merkt es Remus an. Sein Immunsystem fährt herunter. In Zaubertränke hatte er einen Hustenanfall, der sich angehört hat, als würde er ersticken, weswegen James ihn zum Krankenflügel begleitet hat. Die Sonne nähert sich bereits in goldenem Glühen dem Horizont, als ich mit angezogenen Beinen im Gemeinschaftsraum sitze. Remus müsste schon in der heulenden Hütte sein. Der Mond hängt schon blass schimmernd am Abendhimmel.
„Emmi", Marys Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. Ich drehe mich zu ihr um.
„Hm?" Das Mädchen mit den goldenen Locken lässt sich in einen der Ohrensessel vor mir fallen. Ihre hellen Augen sehen mich so nachdenklich an, dass ich nicht umhin komme zu fragen, ob sie etwas beschäftigt. Kurz hebt sie ihr Kinn an, als wolle sie etwas sagen, bevor sie sich jedoch zurücklehnt und schweigt.
„Mary?" Besorgnis schwingt in meinen Worten mit. Es ist nicht üblich für sie, Schweigen so in die Länge zu ziehen.
„Hm?", macht nun sie. Schnell fliegen ihre Locken umher, als sie den Kopf schüttelt. „Oh Mann, sorry. Ja, ich wollte mit dir wegen etwas Wichtigem reden." Ich nicke. Mein Blick haftet interessiert an ihr, auch wenn ein flaues Gefühl in meinem Magen liegt. Remus. Meine Augen flackern zur Uhr. Es ist noch Zeit.
„Also", beginnt Mary und bringt so meine Aufmerksamkeit zurück zu ihr, „es geht um Vollmond." Eisig rast Kälte durch meine Venen. Woher-?
„Jah?", erwidere ich und hoffe, dass ich dabei möglichst verwirrt wirke. Ein kleines Schmunzeln schleicht sich auf Marys Lippen.
„Ich weiß von Remus, Emmi." Stille dröhnt in meinen Ohren. Die restlichen Schüler, die bis vor ein paar Minuten noch Schach gespielt haben, haben sich schon in die Schlafsäle verkrümelt. Nur das Feuer in den Kaminen knistert freudig vor sich hin.
„O..ok", murmele ich.
„Ich habe mir die Prophezeiung zu Bernstein und Opal hunderttausendmal durchgelesen", gluckst sie, „da denkt man sich dann schon was."
Sie wird wieder ernst: „Hör zu, die Sache ist die. Ich bin kein, du weißt schon. Ich denke, das ist eh klar." Ich nicke. Ja, das würde Sinn machen. „Aber dennoch bin ich ein Teil der Prophezeiung. Die Prophezeiung, die von Wölfen spricht. Deswegen hab ich etwas recherchiert. Es gibt einen Fall, ich will da jetzt nicht zu sehr ins Detail gehen, aber es gibt einen Fall in dem eine Person, eine ganz normale, so wie wir, von einem Werwolf gebissen wird. Es ist sehr, sehr selten, aber in diesem Fall infiziert der Virus das Opfer nicht – nicht auf die herkömmliche Art. Der Virus mutiert aufgrund von verschiedensten Faktoren und es entsteht etwas, das der weiße Nachtwolf genannt wird."
Etwas klingelt in meinem Gehirn. „Ja und weiter?"
„Die Prophezeiung!", sie beugt sich nach vorne, während ihre Augen aufgeregt zu leuchten beginnen, „Weißt du noch, was in der Prophezeiung von Opal und Bernstein stand? Dass „Wenn Bernstein und Opal vereint, der volle Mond am Himmel erscheint"... dann kommt das Ganze Werwolfzeug und am Schluss „schlussendlich dann, steht am Rande nah, das Licht für selbst für wahr." Weißt du, was ich meine?"
Langsam verstehe ich, worauf sie hinauswill. Ich schüttle mit großen Augen den Kopf: „Aber was, wenn es nicht so ist, Mary? Ich weiß, was du meinst, aber was, wenn es nicht so ist und schief geht? Was machen wir dann?"
„Das Risiko müssen wir eingehen."
„Aber das Risiko ist zu groß."
„Nein ist es nicht. Und das hat dich doch auch nie aufgehalten, oder?" Ich denke an die Schlacht, an das Turnier und Morsira. Ich seufze geschlagen, während meine Augenbrauen sich besorgt zusammenziehen.
„Ich halte es trotzdem nicht für die beste Idee", meine ich mit vor der Brust verschränkten Armen, „Außerdem..."
„Remus, ich weiß. Er müsste auch mit von der Partie sein."
„Das wird ein schweres Unterfangen."
„Ja", murmelt sie, „glaubst du können wir ihn morgen schon fragen?" Mein Blick flackert zur Uhr über dem Kamin, die stetig vor sich her tickt. Er müsste schon begonnen haben sich zu verwandeln. Wir müssen los.
„Ich weiß nicht, vielleicht warten wir noch ein paar Tage, er ist immer etwas neben der Spur, weißt du."
Sie nickt. „Ja, das ist vielleicht besser."
„Du, Mary, reden wir morgen weiter? Ich hab vergessen, dass ich den Burschen noch versprochen hab, vorbei zu schauen."
„Ihr macht das oft an Vollmond, oder?", will sie neugierig wissen.
Wie vom Donner gerührt verharre ich für einen Moment. Mein Herz rast in meiner Brust, als ich so gefasst wie möglich hervorbringe: „Was?"
„Naja, Marl und du, ihr seid oft bei ihnen drüben." Mein Gehirn arbeitet auf Hochtouren.
„Ja, wir sitzen meist beisammen und alles. Wir machen uns halt Sorgen um ihn und das schafft man halt besser zusammen."
Sie nickt verstehend: „Ja, klar. Das hilft immer. Na, dann, ich halt dich nicht länger auf. Viel Spaß euch. Es wird schon alles gut gehen."
„Danke Mary", sagte ich, dankbar, dass sie mir einerseits diese Lüge geglaubt hat und andererseits dafür, dass sie so ein verdammt herzensguter Mensch ist.
„Gute Nacht, schlaf gut und wir werden die Nachtwolfsache schon noch irgendwie hinbiegen." Sie lächelt und winkt mir, während ich immer noch mit zittrigem Atem zum Schlafsaal der Jungs hinaufhaste. Als ich mich endlich beruhigt habe, stoße ich die Tür auf. Die restlichen Rumtreiber sehen mich schon erwartungsvoll an.
„Was hat denn so lange gedauert?", will James wissen.
„Mary", seufze ich, „Etwas wegen der Prophezeiung, aber wir reden später drüber. Wir sollten los." Die anderen nicken zustimmend, während Krone den Tarnumhang aus dem Kasten nimmt.
„Ist noch wer im Gemeinschaftsraum?", fragt Tatze mit gerunzelter Stirn, als der Stoff des Umhangs seine Füße verschwinden lässt.
„Ich denke nicht. Aber sicher ist sicher", murmle ich. Wir drängen uns zusammen, bevor James uns unter dem silbrig glitzernden Stoff, einem schimmernden Vorhang aus Wasser verschwinden lässt. Ich blicke nach unten. Wir sind zu viele. Unsere Füße sind alle noch zusehen. Vor ein paar Jahren war das noch nicht so. Warum müssen die denn alle soviel wachsen? Ich kann zumindest von mir sagen, dass ich keinen Zentimeter mehr gewachsen bin, seit ich vierzehn geworden bin.
„Wir sind zu groß", meint Marl resigniert.
„Meine Schuld ist es nicht", gebe ich trocken zurück. Die restlichen vier blicken zu mir hinunter. Ja, so ist das halt, wenn man die kleinste ist. Sirius bellendes Lachen vermischt sich mit dem leisen, pfeifenden von Peter.
„Ich mach schon", gluckst letzterer und innerhalb von Sekunden verschwindet der blonde Junge und an seiner statt hockt eine graue Ratte, die erwartungsvoll zu uns hinaufschaut. Ich bücke mich und klaube ihn auf und setze ihn auf meine Schulter. Seine kleinen Krallen stechen leicht auf meiner Haut, als er sich festklammert.
„Ok, gehen wir", murmelt James, „wir sind eh schon spät dran."
Wir hasten die Stufen hinab zum Gemeinschaftsraum, wo wir fast gegen Frank stoßen, der gähnend die Treppe erklimmt. Wir quetschen uns an die Wand und warten, bis der Junge an uns vorbei in den Schlafsaal getrottet ist und die Tür hinter ihm zufällt, bevor wir weiter hasten. Wir haben schnell den Gemeinschaftsraum durchquert und sind durch das Portraitloch gehuscht, bevor wir die Korridore entlangeilen. Das Licht des Vollmondes kämpft sich durch die dunklen Wolken, die ihn zu verdecken versuchen. Wir steuern den Geheimgang zu den Ländereien an.
Wormy krallt sich fester in den Stoff meines Hoodies, als wir abrupt stehen bleiben. Sirius öffnet den Gang und nacheinander huschen wir hinein. Als sich das Mauerwerk hinter uns mit Knirschen wieder schließt, ziehe ich mir erleichtert den Tarnumhang über den Kopf. So cool er auch ist, atmen kann man da drunter nicht wirklich. Peter krabbelt von meiner Schulter und wuselt den langen Gang voran.
„Lumos", murmeln zwei Stimmen und erleuchten den Raum.
James packt gerade seinen Umhang sorgfältig in seiner Tasche, bevor er sich zu uns dreht: „Kommt, wir müssen weiter."
Seine Augen flackern kurz zu Sirius, doch der erwidert seinen Blick ruhig. Ich reibe meine Schulter, bevor ich Peter folge. Der Kerl ist schon irgendwo ganz weit vorne mit seinen Rattenfüßchen. Für eine Weile hört man nichts außer unseren Schritten, die knirschend wiederhallen, und unseren Atemzügen. Irgendwann kommen wir bei der Falltüre an. Sirius stemmt sie kurzerhand hoch und hievt sich aus dem Loch. Flink folgen wir ihm an die Oberfläche. Ich atme tief die herbstliche Nachtluft ein. Ein kühler Wind zieht über die Ländereien und zerzaust mein Haar. James wirft Marl und mir den Tarnumhang zu. Einen Augenblick später steht ein Hirsch an seiner statt und ein schwarzer, zerzauster Hund an seiner Seite. Yin nestelt am Umhang herum, bevor wir beide darunter verschwinden können. Wir folgen ihnen durch das gefallene Laub und das nasse Gras, bis wir vor der Peitschenden Weide stehen. Die normalerweise um sich schlagenden Äste sind erstarrt. Der Hirsch und der Hund nehmen für einen Moment Menschengestalt an, dann sind sie im Loch zwischen den Wurzeln verschwunden. Hastig eilen wir über die Fläche und lassen uns durch das Loch fallen. Erde und Pflanzenreste rieseln auf mich herab, als ich am Boden aufkomme.
„Ugh", mache ich und wische mir den Dreck aus den Haaren.
„Ich hab definitiv das Falsche an", grummelt Marl hinter mir.
„Sagst du das nicht jedes Mal?", will ich wissen.
„Ja, eh." Fäden hängen an ihrem Strickpulli herab. Die Wurzeln haben ihre Spuren hinterlassen. Ich hebe meinen Zauberstab.
„Reparo", murmle ich und sehe zu, wie die losen Garnschlaufen ihren Platz im Strickmuster wieder einnehmen.
„Leute kommt ihr endlich?", ruft James genervt von vorne.
„Jaja!", sagen Yin und ich unisono, bevor wir hinterher hasten. Der Gang wird immer höher und breiter, sodass wir nicht mehr geduckt gehen müssen. Je näher wir der heulenden Hütte kommen, desto lauter wird das Gejaule von Moony. Er ist einsam. Wir beeilen uns und als wir endlich in der Hütte angekommen sind, verwandeln wir uns. Meine Sinne schärfen sich, ich nehme die Nacht um mich herum ein, bevor wir sie uns zu eigen machen.
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