Kapitel 9 - Die Theorie vom Wasser
»Lass es mich noch einmal zusammenfassen. Dass ich es auch wirklich verstanden habe, ja?«, fing Oscar an, als ich mit meiner Geschichte fertig war. Der Schule statteten wir heute wohl keinen Besuch mehr ab, dafür war es längst zu spät.
Ich bedeutete ihm fortzufahren. Ich konnte ihn verstehen: es war wirklich nicht so leicht zu kapieren, und ich verstand ja selbst nur die Hälfte davon.
»Das alles ist erst seit dem Ausflug letztes Wochenende passiert. Du warst nachts in einer Höhle, mit einem unterirdischen See. Von dort aus konntest du den Krater des Vulkans der Insel sehen. Und als du dort warst, hat der Vollmond in die Höhle geschienen. Du hast dich vom Wasser angezogen gefühlt und bist in den See eingetaucht – an mehr kannst du dich nicht erinnern?«
»Nein, ich glaube da war auch nicht mehr. Es scheint alles irgendwie mit dem Wasser und dem Vollmond zusammenzuhängen«, überlegte ich laut.
Oscar strich sich nachdenklich über das Kinn. »Und immer, wenn du in Berührung mit Wasser kommst, verwandelst du dich in eine Meerjungfrau«, fügte er hinzu.
Ich schüttelte mir die Haare aus dem Gesicht. »Okay, jetzt haben wir meine Geschichte analysiert, kann ich dich mal was fragen?«, wechselte ich das Thema. Mir brummte langsam der Schädel.
Oscar nickte, auch wenn er immer noch mit den Gedanken woanders war: den Blick weit in die Ferne gerichtet und die blauen Augen wiesen einen seltsamen Glanz auf. So kannte ich ihn nur, wenn er in seinem Element war. Wenn er sich Theorien ausdachte und Dinge analysierte. Gott, er war manchmal so ein Nerd und Streber obendrein!
»Wie hast du mich gefunden? Und bist du überhaupt nicht böse auf mich?«, wollte ich wissen.
Oscar grinste verschmitzt. »Das war leicht. Ich habe gesehen, wie du gestern zum Strand gelaufen bist, allerdings bist du nicht mehr zurückgekommen. Also dachte ich mir, ich geh dich mal suchen. Heute Morgen habe ich dich dann hier gesehen, als ich den Strand entlanggelaufen bin. Und warum sollte ich böse sein? Du konntest das einfach nicht richtig erklären. Und seien wir doch mal ehrlich: hätte ich es nicht mit eigenen Augen gesehen, hätte ich dir kein Wort geglaubt«, erklärte er.
Ich rieb mir die Schläfen. »Ich glaube es ja selbst nicht. Was meinst du denn, wie ich erschrocken bin, als ich zum ersten Mal diesen Fischschwanz gesehen habe«, sagte ich mit einem gequälten Lächeln.
Oscar griff nach meiner Hand. »Ich verspreche dir, dass ich niemandem auch nur ein Sterbenswörtchen davon erzählen werde, was ich hier gesehen habe.« Dabei schaute er mir tief in die Augen.
Etwas verwirrt von der Zuneigung in seinem Blick, entzog ich ihm meine Hand. »Danke, aber du musst nicht nur versprechen, dass du niemandem etwas sagst, du musst mir helfen! Ich schaffe das nämlich nicht allein«, räumte ich verzweifelt ein.
»Darauf kannst du dich verlassen.«
Nachdem ich mich wieder angezogen hatte, gingen wir zusammen nach Hause. Wie erwartet war Mom alles andere als glücklich darüber, dass ich mit Oscar die Schule geschwänzt hatte. Dennoch war sie froh, dass es mir gut ging. »Bitte ruf mich das nächste Mal an, wenn du nicht Zuhause schlafen willst. Ich möchte nicht noch jemanden verlieren«, flüsterte sie mir ins Ohr, während sie mich fest an sich drückte.
»Ist gut, Mom!« Ich versuchte krampfhaft Luft zu holen, da sie mich beinahe erdrückte. »Ich werde dir beim nächsten Mal Bescheid geben, versprochen!«
Endlich ließ sie mich los.
»Du hast doch gesagt, dass alles mit dem Vollmond und dem Wasser zusammenhängt«, sagte Oscar nach einer Weile.
Wir saßen in unserem Garten, und während seine Füße im Wasser des Pools baumelten, lag ich auf einer der Liegen und starrte in den Himmel. Er war so blau wie Oscars Augen. Ich blinzelte. Was war das denn eben? Um die wirren Gedanken zu vertreiben, die sich scheinbar nur noch um Oscar drehten, schüttelte ich den Kopf. »Ja, irgendwie schon, warum?«, fragte ich.
»Ich glaube nicht, dass es nur der Vollmond und das Wasser waren, sonst könnte ja jeder Mensch zu so einem Wesen werden«, meinte er.
Eine Wolke in der Form eines Herzens zog gerade vorbei. Ich hob eine Augenbraue an. Jetzt wurde es langsam seltsam. »Vielleicht lag es an dem See – also am Ort – und wie der Mond in die Höhle geschienen hat. Vielleicht gab es ja noch mehr Zusammenhänge und ich war genau zufällig zur richtigen – oder wohl eher falschen – Zeit dort«, fügte ich hinzu.
»Meinst du, wir sollten nächsten Vollmond zur Insel fahren?«
Entsetzt schaute ich in seine Richtung. »Spinnst du?«
Ein breites Grinsen zierte seine Mundwinkel. »Was denn?«, fragte er gespielt unschuldig.
Anklagend zeigte ich auf seine Brust. »Es reicht doch, wenn ich dieses Problem habe. Da kannst du nicht auch noch zu ... einem Meermann werden, falls das jeden Vollmond passiert!« Frustriert warf ich die Arme in die Höhe.
Oscar hob beschwichtigend eine Hand. »Okay, ok-« Er verstummte plötzlich. Seine Augen weiteten sich.
Verwirrt folgte ich seinem Blick.
»Hast du das eben gesehen?«, fragte er und sprang auf.
Ich nahm eine aufrechte Sitzposition ein. »Was denn?«
Er deutete auf das Wasser im Pool. »Ich glaub's nicht! Da ist gerade ein Tropfen aufgestiegen. Genau in dem Moment, als du deine Arme gehoben hast«, rief er aufgeregt.
»Scht! Schrei nicht so laut rum! Wenn das meine Mom hört ...«, fuhr ich ihn an, gesellte mich aber zu ihm. »Und wie soll ich denn einen Tropfen aufsteigen lassen? Ich hab doch nichts gemacht.« Verwirrt starrte ich auf das Wasser. Es lag ruhig da.
»Mach's einfach nochmal«, forderte Oscar mich auf.
»Wie denn?« Versuchsweise hob ich einen Arm. Nichts passierte. »Scar, ich glaube, das hast du dir nur-« Das »eingebildet« blieb mir im Halse stecken.
Unbewusst hatte ich mich auf das Wasser konzentriert. Auf einmal spürte ich eine Art Verbindung, und als ich den Arm erneut hob, kräuselte sich die Oberfläche des Pools. Staunend beobachteten wir, wie eine kleine Kugel, nur aus Wasser geformt, in die Luft aufstieg.
»Ich glaub's nicht!«, flüsterte ich überwältigt.
Oscars Augen funkelten vor Aufregung. »Kaycie«, flüsterte er mindestens genauso überwältigt, »du bist nicht nur eine Meerjungfrau, du kannst auch das Wasser kontrollieren!«
Ich nickte langsam. »Und das macht die ganze Sache noch komplizierter, als sie eh schon ist.« Ich warf Oscar einen Seitenblick zu. »Was sagst du, hilfst du mir herauszufinden, was mit mir passiert ist?«
Immer noch starrte er wie gebannt auf die Kugel. Das Sonnenlicht brach sich in ihrer durchsichtigen Hülle. Wie eine Seifenblase schwebte sie über dem Pool.
Oscar nahm meine Hand in seine. »Ich bin dabei, aber es wird definitiv keine leichte Aufgabe werden.«
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