Kapitel 8 - Erwischt
Nach dem Vorfall lief ich ewig den weitläufigen Strand entlang. Seit Langem hatte ich weinen müssen. Ich wollte Oscar nicht weh tun, aber ich konnte ihm auch nichts erzählen. Er würde es mir sowieso nicht abkaufen.
Mit durch Tränen verschleierter Sicht starrte ich auf das glitzernde Wasser. Es war ein herrlicher Abend: Die Sonne ging langsam über dem Meer unter und färbte den Himmel in zarte Orange- und Rosatöne.
Das gleichmäßige Rauschen der Wellen beruhigte mich. Es ließ mich für eine kurze Zeit meine Probleme vergessen. Stattdessen träumte ich vom Schwimmen und Tauchen Unterwasser. Ich fühlte mich mehr denn je mit dem Element verbunden, vor allem aber zog es mich in eine Richtung – die Insel. Von meinem Standpunkt aus konnte ich sie in der Ferne sehen. Mein Innerstes verzehrte sich danach, wie sonst nach einer Tafel Schokolade.
Verstohlen huschte mein Blick umher, aber wie es schien, war ich die Einzige an diesem Strandabschnitt. Kurz überlegte ich, ob ich meine Klamotten hierlassen sollte, verwarf den Gedanken jedoch wieder. Lieber nasse als gar keine, sollte jemand auf die Idee kommen, sie einfach mitzunehmen. Also lief ich angezogen zum Wasser, sammelte meine Kleider zusammen, nachdem ich mich verwandelt hatte und tauchte anschließend unter.
Mir machte die kühle Temperatur überhaupt nichts aus, im Gegenteil, ich fühlte mich pudelwohl. Meine Augen brannten auch nicht, als ich sie versuchsweise aufschlug. Der Sonnenuntergang tauchte hier unten alles in ein magisches Licht. Fischschwärme zogen an mir vorbei. Ihre Schuppen schimmerten in den verschiedensten Farben. Bunte, vielfältige Korallen wiegten sich durch den sanften Strom unter mir.
Anfangs war das Fortbewegen mit dem Fischschwanz ziemlich umständlich für mich. Ich war es gewohnt, mit zwei Beinen zu schwimmen, und keine Beinfreiheit mehr zu haben, geschweige denn sie überhaupt zu spüren, versetzte mich in Panik. Aber als ich den Dreh raushatte, merkte ich, wie unglaublich schnell ich vorankam. So schnell konnte ein Mensch niemals schwimmen. Es machte furchtbar viel Spaß.
Ich musste auch nicht ständig auftauchen – gefühlt verbrachte ich über ein oder zwei Stunden unter Wasser, bis mein Kopf die Oberfläche durchbrach, damit ich mich umsehen konnte. Ich hatte mich weit vom Festland entfernt. Bis zum Grund waren es mehrere Meter. Dort, wo das schwindende Sonnenlicht keine Auswirkungen hatte, war die Umgebung in tiefe Blautöne gehüllt. Aber es machte mir keine Angst: Jetzt konnte ich alles sehen, was sich unter mir verbarg.
Die Insel war nun nicht mehr weit weg, ich konnte sie deutlich ausmachen. Zuerst wollte ich zum nahegelegenen Strand schwimmen, dann bemerkte ich eine Steinformation unterhalb der Insel. Nur ein Bruchteil davon befand sich oberhalb des Meeresspiegels: also der Schlot des Vulkans, der Rest erstreckte sich darunter.
Ich umrundete die Formation, bis ich auf eine Öffnung im Gestein stieß. Plötzlich kamen wieder Erinnerungsfetzen in mir hoch. Die Grotte bei Vollmond. Der unterirdische See. Die Lichtpunkte. Könnte das der Eingang zu dieser geheimnisvollen Höhle sein, an die ich mich nur bruchstückhaft erinnerte?
Ich wagte einen Versuch, und schwamm in die ungewisse Dunkelheit. Am Ende sah ich ein diffuses Licht – darauf tauchte ich zu. So gelangte ich schließlich an die Wasseroberfläche.
Tatsächlich, das hier war die Höhle. Sie sah im Schein des Mondes atemberaubend aus. Allerdings war es nicht wie beim letzten Mal. Ich spähte nach oben. Durch die Öffnung des Vulkans ragte nur der dunkle, sternenbedeckte Himmel über mir auf.
Meine Kleidung legte ich auf einen Felsen. Ein bisschen unpraktisch war das Ganze schon, wenn ich nicht komplett nackt sein wollte. In der Gestalt als Meerjungfrau ging das: ich hatte eine Schwanzflosse, die mir bis unterhalb des Bauchnabels reichte und meine Brüste waren ebenfalls mit Schuppen bedeckt.
Der Rest war normale Haut, die sich allerdings etwas widerstandsfähiger anfühlte. Das merkte ich vor allem, wenn ich lange im Wasser blieb. Mir wurde nicht kalt. Die Haut schrumpelte nicht. Sie blieb stets glatt und glitzerte leicht in der Farbe meiner Schuppen. Ein heller, beiger Ton, der perlmuttfarbig schimmerte.
Eigentlich war ich nicht die Art Mensch, die an Übernatürliches glaubte, aber mein Fall bestätigte mir, dass es wohl doch so etwas geben musste. Gab es dann auch Feen, Drachen oder Hexen? Lebten sie alle unter uns Menschen, genau wie ich möglichst unauffällig?
Tief seufzend legte ich meinen Kopf am Rand des Sees ab, starrte in den Himmel und ließ mich vom Wasser treiben. Ich fühlte mich schwerelos, ohne Probleme, glücklich ...
Irgendwann musste ich wohl eingeschlafen sein, denn als ich aufwachte, war die Sonne bereits aufgegangen. Kurz überfiel mich Panik. Mom machte sich bestimmt Sorgen um mich. Was war mit Oscar? Und in der Schule würde ich jetzt auch einiges verpassen.
Dann versuchte ich mich zu beruhigen. Wegen einem Tag war es doch nicht gleich ein Weltuntergang. Viele machten wegen anderen Dingen blau. Und meine Probleme waren im Vergleich dazu von einem ganz anderen Kaliber. Dennoch konnte ich nicht ewig hierbleiben, sonst würde Mom am Ende noch die Polizei verständigen und mich als vermisst melden.
Ich griff nach meinen Kleidern und schwamm so schnell es mir möglich war zurück zum Festland. Am Strand konnte ich ein paar Leute ausmachen, die am Wasser entlangliefen. Ich entfernte mich von ihnen und schwamm zu einem Strandabschnitt, der zwar recht abseits meines Zuhauses lag, aber durch Felsen geschützt wurde. Keine Menschenseele war dort zu sehen. Also der perfekte Ort, um sich als Meerjungfrau von der Sonne trocknen zu lassen.
Damit meine Hose, das Shirt und die Unterwäsche nicht gleich sandig wurden, warf ich sie auf einen Stein und zog mich anschließend an Land. Die Sonne brannte auf meiner Haut, sie hatte ihren Zenit beinahe erreicht. Zügig ließ die warme, trockene Luft die Feuchtigkeit verdunsten. Erschöpft schloss ich die Augen. Doch in diesem Moment war ich unachtsam.
Plötzlich räusperte sich jemand in meiner Nähe. Erschrocken fuhr ich zusammen und konnte gerade so ein Kreischen unterdrücken. Verdammt. Wie hatte das nur passieren können?
Mein Herz raste, dann erkannte ich Oscar, der beschwichtigend die Arme hob. »Hey, Hey! Ich bin es nur. Vor mir brauchst du keine Angst zu haben«, sagte er und kniete sich vor mich hin.
Fasziniert glitt sein Blick über meinen Fischschwanz – der jedoch bald verschwinden würde. Jetzt hatte ich noch viel mehr Angst, völlig entblößt vor ihm zu liegen, als in meiner Meerjungfrauengestalt. Panisch überlegte ich gleich wieder ins Wasser zu hechten. »Oscar, ich kann das alles erklären, aber zuerst brauche ich dringend ein Handtuch! Entweder das oder ich hau gleich wieder ab«, drängte ich ihn und sah mich hilflos um.
Oscar grinste schief, dabei hielt er mir ein großes, frisches Handtuch entgegen. »Hier, das ist eigentlich meins, aber ich denke, du brauchst das jetzt dringender als ich.« Er zwinkerte mir zu, als ich danach griff.
Hastig wickelte ich das Tuch um mich herum. Keine Sekunde zu früh, denn die Lichtpartikel meldeten sich mal wieder. Kurz darauf war der Spuk vorbei und ich war wieder ein Mensch mit zwei Beinen und Füßen, mit jeweils fünf Zehen.
Oscar pfiff anerkennend. »Also, jetzt solltest du mir mal so einiges erklären«, meinte er und starrte mich an als wäre ich ein völlig anderer Mensch. Was ich in gewisser Weise ja auch war.
Ich setzte mich auf einen Felsen und klopfte auf den freien Platz neben mir. »Setz dich, das könnte eine Weile dauern. Ist eine ziemlich lange und komplizierte Geschichte.«
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