Kapitel 7 - Unter Verdacht

Ich fühlte mich schrecklich, als ich am nächsten Morgen aufwachte. Nach meiner überstürzten Flucht gestern, hätte ich Oscar wenigstens eine Nachricht schicken können. Eine Erklärung, was mit mir nicht stimmte, und warum ich nicht mehr aufgetaucht war.

Das hätte ich tun können, wenn ich mein Handy bei mir gehabt hätte. Aber das war in meinem Rucksack, und den hatte ich im Café gelassen. Vermutlich hatte Oscar ihn mitgenommen. Und wie sollte ich ihm eigentlich erklären, warum ich einfach so ins Wasser gesprungen war? Was gab es da schon für einen logischen Grund?

Stöhnend quälte ich mich aus meinem Bett. Es half alles nichts, ich musste aufstehen, ich musste zur Schule und ich musste mit Oscar reden, ob ich nun wollte oder nicht.

Gestern war ich noch eine Weile im Wasser unterhalb der Stege geblieben, dann schwamm ich vom Hafen weg und suchte mir ein ruhiges Plätzchen, an dem ich mich trocknen lassen konnte. Zum Glück war die Luft so trocken und warm, dass dieses Unterfangen nicht allzu viel Zeit in Anspruch nahm. Dabei musste auch meine nasse Kleidung trocken werden, die ich noch schnell einsammelte – sie dümpelte an der Wasseroberfläche, dort, wo ich eingetaucht war. Ich schnappte sie mir, als gerade niemand zu mir hinüberblickte.

Nachdem alles trocken war, machte ich einen großen Bogen um das Hafengebiet und lief total umständlich nach Hause, damit ich ja keinem begegnete, den ich kannte, und der mich vielleicht gesehen hatte. Während ich so allein für mich war, hatte ich auf einmal viel Zeit zum Nachdenken, und mir wurde klar, dass es verdammt schwer werden würde, den Schein zu wahren, ich wäre normal.

Wie zum Teufel sollte ich das nur hinbekommen? Ich konnte nicht einmal meine Hände länger als ein paar Sekunden waschen, ohne mich zu verwandeln. Wollte ich das tun, musste ich auf jeden Fall ein Handtuch bereithalten und meine Hände dann sofort und gründlich trockenrubbeln. Duschen konnte ich ebenfalls vergessen, genauso wie morgens mal eben das Gesicht waschen.

Aber Zähneputzen ging, wenn nichts auf meine Haut kam. Also schlurfte ich in Richtung Badezimmer, um meine Zähne zu putzen – das Einzige, das ich noch machen konnte, ohne gleich zu einem halben Fisch zu werden. Aber ich hatte die Rechnung natürlich nicht mit Zoey gemacht, die das Bad belegte. Laute Musik dröhnte mir entgegen, begleitet von einem entsetzlichen Geräusch: Zoey Stimme. Heiliger Kuhmist, davon kriegte man ja nicht nur Ohrenkrebs, da fielen einem die Ohren ab, so grausam hörte sich das an.

Ich beschloss mir einen Kaugummi von Zoey zu stibitzen und zog mich an. Dafür, dass ich mich nicht frisch gemacht hatte, sah ich noch ganz akzeptabel aus, fand ich. Ich streckte meinem Spiegelbild die Zunge entgegen und ging nach unten in die Küche.

»Guten Morgen, mein Schatz!«, begrüßte Mom mich fröhlich.

Sie hatte mal wieder einen Haufen zum Essen vorbereitet. Obwohl mir durch Zoeys gequälte Laute der Appetit vergangen war, bekam ich allein vom Geruch des herrlichen Frühstücks langsam wieder Hunger – das war Moms Geheimwaffe. Durch ihr Essen fühlte ich mich immer besser.

»Und, hast du gut geschlafen?«, fragte sie, als wir zusammen am Tisch saßen und ich mir eine Portion Rührei mit Toast auf den Teller lud.

»Ja, ganz okay«, antwortete ich.

»Geh doch bitte mit Zoey zur Schule, ihr macht so selten etwas zusammen«, meinte Mom dann.

Ich verschluckte mich beinahe an meinem Toast. War das etwa ihr Ernst? »Mom!«, rief ich quengelnd. Das kannst du mir nicht antun, in Gedanken.

»Kaycie, ich möchte, dass ihr euch besser versteht. Meine Therapeutin hat gesagt ...«

Ab Therapeutin hörte ich schon gar nicht mehr zu. Es war mir völlig schnuppe was die alte Wachtel zu sagen hatte. Die Beziehung zu Zoey verlief prima, solange wir uns aus dem Weg gingen.

Am Schluss redete Mom so lange auf mich, und später auf Zoey ein, dass wir gezwungenermaßen gemeinsam das Haus verließen und bis zur nächsten Straßenecke zusammenliefen. Dann nahmen wir getrennte Wege. Was mir ganz recht war.

An der Schule angekommen, überfiel Oscar mich beinahe. Er rannte auf mich zu und umarmte mich stürmisch, was sonst gar nicht seine Art war. »Wo bist du gestern denn nur abgeblieben?«, fragte er. Die Frage ›Und warum bist du fluchtartig ins Wasser gesprungen?‹ hing unausgesprochen zwischen uns in der Luft.

Etwas zerknirscht nahm ich meinen Rucksack entgegen. »Ich musste dringend aufs Klo?«, gab ich zurück und blickte dabei auf meine Schuhe. Mann, ich war verdammt schlecht im Lügen. »Ich wollte dir ja eine Nachricht schreiben, aber mein Handy war noch in meiner Tasche«, fügte ich hastig hinzu.

Oscar hob eine Augenbraue an. »Und warum hast du nicht einfach von Zuhause aus angerufen?«

Mist. Das war mir natürlich nicht eingefallen.

Ich versuchte ein Lächeln, ein sehr gequältes und peinlich berührtes, um genau zu sein. »Ups?«

Oscar schüttelte den Kopf, konnte aber offensichtlich nicht mehr ernst bleiben. »Kay, Kay, was mach ich nur mit dir?«

Ich war froh, dass Oscar erstmal nicht fragte, was genau gestern mit mir los gewesen war. Der Tag verlief sogar ganz entspannt. In der Schule kam ich nicht so oft mit Wasser in Kontakt, wie Zuhause oder im Café. Ich musste lediglich die Toiletten meiden, aber das war eigentlich die einzige Einschränkung.

Gelangweilt folgte ich dem Unterricht, schlief jedoch nicht wie sonst ein, weil ich wenigstens etwas mitbekommen wollte, da wir in den nächsten Wochen die letzten Tests für das Schuljahr schreiben würden.

Oscar saß neben mir, und immer wieder bemerkte ich seine verstohlenen Blicke in meine Richtung, als hätte er Angst, dass ich mich vor seinen Augen in Luft auflöste. Mir wurde bewusst, dass ich ihm früher oder später mein Geheimnis beichten musste. Er war nicht der Typ, der schnell aufgab. Er würde mich nerven, Löcher in den Bauch fragen, wenn nicht sogar heimlich beobachten, wenn er unbedingt etwas wissen wollte. Ich sollte ihn also schleunigst einweihen, bevor alles aus dem Ruder lief.

Aber wie stellte ich das nur am besten an? Ich konnte ihm ja schlecht einfach sagen, dass ich ein halber Fisch war, sobald ich in Kontakt mit Wasser kam. Das klang selbst für mich noch zu befremdlich. Wie zur Hölle war das überhaupt passiert? Und warum gerade mir? Fragte ich mich ein ums andere Mal.

Ein Stoß in die Rippen brachte mich wieder in die Wirklichkeit zurück. »Ist irgendetwas?«, fragte Oscar besorgt.

Mein schlechtes Gewissen plagte mich, als ich den Kopf schüttelte und dabei lächelte. Ich hasste es zu lügen, vor allem vor Menschen, die mir so wichtig waren wie Oscar.

Am Nachmittag beeilte ich mich nach Hause zu kommen. Obwohl es mir in der Seele wehtat, ging ich Oscar aus dem Weg. Sein trauriger Blick, als ich ihm sagte, dass wir wann anders etwas zusammen machen könnten, folgte mir noch lange. Jungs waren schlimmer als Welpen. Diesen traurigen Blick hatten sie alle perfekt drauf, sodass man sich erst recht wie der schlechteste Mensch auf der Welt fühlte. Und Oscar hatte ihn sogar noch perfektioniert. Lange konnte ich dem nicht mehr widerstehen, und dann würde es nur so aus mir heraussprudeln.

Gerade als ich mir mein Frustessen für den Nachmittag zusammenstellen wollte, klingelte es an der Haustür.

»Kaycie! Ist das wieder dein dämlicher Freund?«, rief Zoey von oben.

Genervt verdrehte ich die Augen und ging zur Tür. Es stand niemand anderes als Oscar vor mir. Hatte Zoey etwa hellseherische Fähigkeiten? Auf der anderen Seite, wer sollte uns schon besuchen kommen? Hatte Zoey überhaupt Freunde? Wenn ja, dann hatte sie offensichtlich niemanden erwartet.

»Ich hoffe, deine Schwester ist nicht allzu genervt, wenn ich hier so plötzlich auftauche«, begrüßte er mich mit einem verschmitzten Grinsen.

Zoey trampelte genau in diesem Moment die Treppe hinunter und rauschte mit wehenden Haaren und einer säuerlichen Miene an uns vorbei. Oscar schubste sie grob zur Seite.

Sie hatte anscheinend beschlossen, Sport zu treiben, anstatt wie üblich das Haus mit ihrem Musikgeschmack zu terrorisieren. Obwohl ich zugeben musste, dass manchmal das ein oder andere gute Lied dabei war.

Oscar schüttelte über Zoeys unmöglichen Auftritt nur den Kopf.

»Also, was machst du hier?«, fragte ich und ließ ihn eintreten. Jetzt, wo er schon einmal da war, konnte ich ihn schlecht ein zweites Mal abweisen.

»Ich dachte, wir könnten mal in Ruhe miteinander reden ... wegen gestern«, fing er an. Er fuhr sich unsicher durch die Haare und lümmelte sich auf das Sofa im Wohnzimmer. »Du bist einfach abgehauen, ohne einen wirklichen Grund ...« Und schon wieder hing die unausgesprochene Frage im Raum, warum ich ins Wasser gesprungen war.

Ich biss mir auf die Unterlippe.

Oscar hielt inne und dachte nach, und das war ein ziemlich mieses Zeichen. Peinlich berührt schob ich mich auf dem Sessel zu seiner Rechten hin und her und wich seinem Blick aus. Wenn er jetzt eins und eins zusammenzählte ...

Seine Augen wurden groß. »Moment mal! Seit wann rennst du eigentlich weg, wenn du mal ein bisschen Wasser abkriegst?«

Ohne genau darüber nachzudenken, sprang ich auf. Was mich natürlich nicht verdächtig machte. Wenn ich Wasser hörte, war ich eben sofort alarmiert. »Scar, ich habe eigentlich keine Zeit mit dir darüber zu diskutieren ...«, setzte ich etwas hilflos an und warf die Arme in die Luft.

Oscar hingegen eilte in Richtung Küche. »Warte hier, ich will nur ...« Den Rest bekam ich nicht mit, da er schon aus dem Zimmer war, aber ich ahnte Übles.

»Oscar, ich-« Meine Augen weiteten sich, als ich sah, wie er mit einem Glas Wasser zurückkam.

Ich versuchte noch ihm auszuweichen, aber da hatte er das Glas bereits über mir entleert. So viel zum Thema »Aufpassen«.

Ich keuchte auf. Schnurstracks rannte ich zum Badezimmer.

»Kaycie!«, rief Oscar mir nach. »Was ist los mit dir? Das ist doch nur ein bisschen Wasser!«

Er folgte mir. Hastig sperrte ich mich ein, dann klatschte ich auch schon bäuchlings auf die Fliesen.

»Kannst du mir nicht einfach erklären, was mit dir los ist?«, rief er durch die verschlossene Tür und klopfte leicht dagegen.

Ich holte tief Luft und kniff die Augen zusammen. »Bitte geh jetzt, Oscar!«, sagte ich bestimmt. Meine Lippen bebten. Ich musste mich beherrschen, nicht in Tränen auszubrechen.

Er verstummte.

»Kaycie?« Versuchte er es nach einer gefühlten Ewigkeit noch einmal.

»Geh einfach!« Diesmal klang meine Stimme nachdrücklicher.

Und dann hörte ich, wie sich seine Schritte zögernd entfernten.

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