Kapitel 44 - Erfüllung

»Was jetzt?«

Für einen Moment starrten Oscar und ich wie gebannt auf Zoeys bewusstlosen Körper. Das Herz pochte mir bis zum Hals. Zoey wirkte, als würde sie friedlich schlafen, doch wenn ich jetzt nicht handelte, ehe Mackenzie sich von dem Schlag erholte, dann konnte sie das Blatt noch zu ihrem Gunsten wenden. Einen weiteren heftigen Angriff ihrerseits hielt ich nicht mehr stand. Ich fühlte mich ausgelaugt und schwach, was ich wohl Mackenzie und dem Gebrauch meiner Magie zu verdanken hatte.

Ich griff nach dem Stein, der achtlos am Rand des Sees lag. Ohne Mackenzies Anwesenheit war das Leuchten und Pulsieren aus seinem Inneren verschwunden. Nun sah er geradezu unscheinbar in meiner Handfläche aus, fast wie ein gewöhnlicher Edelstein. Und doch hatte er so viel Leid über meine Familie gebracht. Generation um Generation litt unter dem Fluch, der unmöglich zu bezwingen schien. Jetzt lag alles an mir. Nur ich konnte es zu Ende bringen. Nur durch mich würde sich entscheiden, ob sich die Prophezeiung erfüllte oder nicht: Eine immense Verantwortung, die allein auf meinen Schultern lastete.

Ich blickte nach oben. Die Dämmerung war einem klaren, dunklen Nachthimmel gewichen. Unaufhaltsam wanderte der strahlende, volle Mond auf den Krater des Vulkans zu. Es wurde Zeit.

Ich warf den Stein ins Wasser des Mondsees, kratzte das letzte Bisschen meiner Magie zusammen, die ihn über der Wasseroberfläche hielt und schloss die Augen. Zoeys Finger zuckten bei meiner Berührung. Während sie sich bewegte und zu sich kam, umfasste ich sie mit meiner Hand. Damit war auch Mackenzie wieder im Spiel. Mein Griff verstärkte sich, ich wappnete mich gegen ihre Macht.

»Halte sie so fest, wie es geht«, sagte ich an Oscar gewandt.

Die Augen fest zusammengekniffen, konzentrierte ich mich auf die Umgebung: Das Rauschen und Plätschern des Wassers, das von der Decke in den See tropfte, ein stetiges Echo verursachte. Den Stein, der durch mich knapp über der Oberfläche schwebte. Zoey unter mir und Mackenzie, die sich an der Kraft meiner Schwester labte und in sich aufsog. Bei dem Versuch sich gegen Mackenzie zu stemmen, atmete Oscar schwer neben mir. Seinen rasenden Herzschlag vernahm ich überdeutlich.

Meine Sinne schärften sich bis aufs Äußerste. Ich grub tiefer, fühlte das Pulsieren des Steins, der mit Mackenzies Bewusstsein erneut zum Leben erweckt war. Noch tiefer, und ich registrierte das Vibrieren in meinen Adern. Das Wasser stellte weiterhin einen Teil von mir dar. Es strömte durch mich hindurch, schenkte mir nach und nach die verlorene Energie zurück. Doch ich konnte nicht darauf warten, dass sie sich vollkommen regenerierte. Es musste mit dem kleinen Rest passieren, der mir geblieben war. Und es musste jetzt geschehen.

Schließlich gelangte ich bis zu meinen Fingerspitzen. Von dort aus schlug mir Mackenzies Feuer wie eine Wand entgegen, die mich daran hindern wollte, einzudringen. Ich kämpfte gegen die Barriere an, die sie errichtet hatte, ließ eine Welle nach der anderen auf sie los. Überschwemmte sie, bis ich endlich durchbrach und Zoeys Kern erreichte. Eine Flamme, die wild in ihrem Inneren züngelte, hieß mich erfreut willkommen, streckte die Fühler nach mir aus.

Tränen schossen mir aus den Augenwinkeln. Zoey blieb stark und behauptete sich gegen ihre Widersacherin. Hoffnung und ein wahres Glücksgefühl erfüllten mich. Zusammen konnten wir es schaffen. Ich war nicht allein. Ich hatte Zoey. Mit neuem Mut und Zoeys Magie kehrte ich in meinen Körper zurück und lenkte ihr volles Ausmaß auf den Stein. Tief atmete ich ein und aus, ein und aus ... und instinktiv wusste ich, dass der Mondschein nun direkt auf ihn gerichtet war. Der Augenblick war gekommen.

»Nein«, krächzte Mackenzie, als sie erfasste, was ich vorhatte. Sie wand sich unter Oscars Griff und meiner Kraft, die ihre kontinuierlich abspeiste und im Stein bündelte. »Nein!« Sie klang immer verzweifelter.

Vereint lehnten Oscar und ich mich auf sie, drückten sie auf den Boden, hinderten sie daran, sich zu bewegen. Dabei konzentrierte ich mich auf die Magie, die in den Stein floss und ihn ausfüllte.

»NEEEIIIIINNNNNNN!« Ihr Kreischen schrillte in meinen Ohren. Plötzlich teilte es sich in mehrere Stimmen auf, und ein ganzer Chor dröhnte durch die Grotte. Die Felswände erzitterten unter dem Lärm. Kleine Steinchen lösten sich von der Decke, die von Staub begleitet zu Boden und ins Wasser rieselten.

Ein letztes Flackern bäumte sich in mir auf. Ich schickte es zusammen mit Mackenzies nach draußen, bis es erlosch und die Stimmen endlich zum Verstummen brachte. Die gequälten Laute hallten noch lange zwischen den Wänden nach.

Ein Knirschen. Dann explodierte der blau glimmende Stein. Er sandte ein grelles Licht in seine Umgebung aus, blendete uns. Winzige abertausende Splitter stoben durch die Luft und prasselten auf uns herab. Schützend hielt ich mir die Arme vor die Augen.

Als sich alles gelegt hatte, war es auf einmal gespenstisch still. Die altbekannten Lichtpartikel stiegen vom See auf. Sie schienen mit dem Mond zu verschmelzen, der seinen höchsten Punkt erreicht hatte und sich vom Krater entfernte. Er zog seine Bahn weiter, wie schon Jahrhunderte zuvor. Der Zauber war endgültig vorbei.

Neben mir regte sich etwas. Ich riss meinen Blick vom Mond los und beobachtete wie Zoey langsam zu sich kam. Sie blinzelte in Oscars und mein Gesicht. »Ist es vorbei?« Träge wischte sie sich den Staub und die winzigen Steinsplitter aus den Haaren und von der Kleidung.

Erleichtert holte ich Luft, die ich unbewusst angehalten hatte. Ich musste lachen, Freudentränen traten mir aus den Augenwinkeln. Überschwänglich zerrte ich Zoey in eine Umarmung. Ein Schluchzen entrang sich meiner Kehle, vermischte sich mit meinem Lachen.

Auch Oscar stimmte in den Freudenausbruch ein. Er legte seine starken Arme um Zoey und mich. »Du hast es geschafft!«, stieß er heiser in meine Haare.

»Wirklich?« Zoey befreite sich aus der Umklammerung und sah mich überrascht aber auch bewundernd an. Ihr war die Verblüffung deutlich anzusehen.

»Wir haben es geschafft. Zusammen«, sagte ich. »Der Stein ist ein für alle Mal zerstört. Mackenzie kann uns nichts mehr anhaben.«

Zoey rieb sich die Augen. »Oh, Mann ... Ich hab gar nichts davon mitbekommen! Das Letzte, woran ich mich noch erinnere ist, dass wir unsere Kräfte heraufbeschworen haben, und ihr mich dann so komisch angestarrt habt«, murmelte sie peinlich berührt.

»Du konntest nichts dafür. Mackenzie hatte die Kontrolle über deinen Körper«, erwiderte ich.

Oscar drängte sich zwischen uns. »Leute, spürt ihr das auch?« Er klang ziemlich beunruhigt, sich hektisch umblickend stand er vor uns.

»Was denn?«, fragte ich besorgt.

»Es fühlt sich an, als ob die Erde bebt.«

Da nahm ich es auch wahr. Der Boden zu unseren Füßen erzitterte, schwankte sogar leicht. Ein mulmiges Gefühl machte sich in mir breit, und kribbelte bis in meine Glieder. Erschrocken sahen wir uns an, Zoey hatte es ebenfalls bemerkt. »Raus hier!«, brüllte ich gegen den Lärm an, der das Herabstürzen der ersten Bruchstücke begleitete.

Wir schnappten unsere Rucksäcke und eilten auf den Ausgang der Grotte zu. Wenn der Krater über uns einbrach und uns unter sich begrub, war es zu spät. Immer wieder rieselten Steine und zunehmend auch größere Brocken zu Boden. Es krachte und donnerte ohrenbetäubend.

Das Herz klopfte mir rasend in der Brust, ich atmete in kurzen Stößen, hielt aber nicht an. Im Gegenteil, ich zwang meine Beine zur Höchstleistung, und obwohl sie brennend protestierten, trugen sie mich aus der Höhle. Zoey und Oscar folgten mir dicht auf den Fersen.

»Wir müssen es bis zum Boot schaffen!«, rief Oscar, der das Schlusslicht bildete.

Wir schlugen uns durch das dicht bewachsene Unterholz. Äste peitschten gegen mein Gesicht oder verfingen sich in meiner Kleidung. Zoey und Oscar schien es nicht besser zu ergehen. Zischend und fluchend bahnten wir uns eine Schneise, kämpften verbissen mit den langen, knorrigen Zweigen und Wurzeln, die nach uns greifen und aufhalten wollten. Auf unserem Weg zum Strand war der Mond unsere einzige Lichtquelle. Er ließ die Umgebung in einem weißen, mysteriösen Schein erstrahlen. Schließlich hörte ich unter dem Ächzen und Schnaufen, das wir ausstießen, das Rauschen der Wellen, die gegen das Ufer brandeten. Oscar erreichte zuerst das Boot. Ohne zu zögern oder auch nur innezuhalten, schob er es ins Wasser.

Hinter mir ertönte ein lauter Knall, der mich zusammenzucken ließ. Ich drehte mich nach der Geräuschquelle um und musste mit ansehen, wie der Vulkan gerade in sich zusammenstürzte. Mir wurde schwer ums Herz. Die Grotte war damit zerstört, unter Geröll begraben. Ich hatte sie heute zum letzten Mal betreten. Für immer.

»Kaycie!«, schrie Zoey. Sie war hinter Oscar in das Boot gesprungen und wartete nur darauf, dass ich es ihnen gleichtat, während ich mich wie versteinert nicht vom Fleck rühren konnte. Das Boot trieb bereits einige Meter entfernt im Wasser.

»Ich kann nicht ... Ich verwandle mich doch, sobald ich das Wasser berühre!«

Oscar verdrehte die Augen. »Kaycie, du kannst dich gar nicht mehr verwandeln. Du hast doch den Stein zerstört, und damit den Fluch gebrochen.«

Obwohl seine Worte natürlich Sinn ergaben, ich selbst in meiner Meerjungfrauengestalt das Festland schneller als das Boot erreichen würde, hatte ich plötzlich Hemmungen. Langsam trat ich in das Wasser. Die Wellen schwappten über meine Haut, doch mehr passierte nicht. Insgeheim hatte ich es gehofft, doch enttäuscht stellte ich fest, dass meine Beine immer noch da waren statt des Fischschwanzes. Ich hatte mich nicht verwandelt. Ich schluckte das bittere Gefühl hinunter, das diese Erkenntnis begleitete.

»Komm schon!«, rief Zoey. »Siehst du denn nicht, wie die ganze Insel in sich zusammenbricht?«

Mit einem letzten Blick zurück watete ich zum Boot und schwang mich über den Rand ins Innere. Kurz darauf startete Oscar den Motor, und wir entfernten uns von der Insel. Grollend versank sie hinter uns Stück für Stück in den Tiefen des Ozeans.

»Ich werde den Mondsee schrecklich vermissen«, flüsterte ich bedrückt.

Sanft strich Zoey über meinen Rücken. »Das werden wir alle.«

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