Kapitel 40 - Kräftemessen
Vorsichtig streckte ich die Finger aus, in Richtung der freigelegten Stelle, auf den blau leuchtenden Stein zu. Er wirkte eine magische Anziehungskraft auf mich aus, genau wie der Mond – lockte mich und machte es mir unmöglich, die Hand nicht um seine glatten Kanten zu schließen. Die Berührung jagte mir einen Stromschlag und ein damit verbundenes Kribbeln durch die Adern. Die Wellen seiner Kraft ebbten ab, während es unter meiner Haut für einen Moment bläulich aufflackerte und eine wohlige Wärme aussandte.
Ich zog den Stein vom Felsen, weitere Brocken lösten sich von der Formation und landeten auf dem Grund. Fasziniert starrte ich den kristallklaren Stein in meiner Hand an. In ihm steckte eine Macht, die schwerelos wie eine Wolke darin zu schweben schien. Sie war darin eingeschlossen. Es war die Magie, die den Fluch aufrechterhielt, und ich hatte sie soeben zwischen den Fingern.
Es war ein absolut berauschendes Gefühl, das Pulsieren auf der Haut zu vernehmen. Beinahe vergaß ich, dass ich eigentlich zurückschwimmen und den anderen von meinem Fund berichten wollte. Ich kniff die Augen zusammen und schüttelte das seltsame Benommenheitsgefühl ab, welches sich meiner bemächtigte. Dann tauchte ich nach oben, dem Licht der untergehenden Sonne entgegen.
»Mein Gott, Kaycie!«, rief Zoey aus, als ich die Wasseroberfläche durchbrach.
Oscar holte erleichtert Luft. »Du hast uns wirklich einen Schrecken eingejagt! Über zwei Stunden warst du da unten.« Völlig aufgelöst strich er sich die Haare aus dem Gesicht.
Zur Antwort präsentierte ich ihnen meine Ausbeute. »Dafür habe ich den Stein gefunden!« Ich grinste bis über beide Ohren.
Staunend griff Zoey danach. Ganz vorsichtig nahm sie ihn zwischen ihre Finger. Sie glaubte wohl, er zerbrach sonst in tausend Einzelteile. »Er ist wunderschön«, hauchte sie. Der Stein schien ebenfalls eine Anziehungskraft auf sie auszuwirken.
Nur Oscars Miene blieb unbeeindruckt. Nachdenklich fuhr er sich über das Kinn. »Er ist in der Tat schön. Und dennoch müsst ihr ihn zerstören.«
»Nein!« Von Zoey ging plötzlich eine unbändige Entschlossenheit aus. Sie umfasste den Stein und presste die geballte Faust an ihre Brust. Man könnte meinen, ihr Leben hinge davon ab.
Oscars Augenbrauen schossen in die Höhe. »Zoey ...« Offenbar wusste er nicht, was er darauf sagen sollte. Es hatte ihm die Sprache verschlagen.
Unterdessen zog ich mich an den Rand des Sees ins Trockene und legte mich auf den rauen Felsboden. »Ich muss schon sagen, der Stein ist wirklich wunderschön. Warum sollten wir ihn zerstören wollen?«, fragte ich und runzelte im selben Moment die Stirn. Ich durchstöberte mein Gedächtnis, allerdings herrschte dort gähnende Leere. Es fehlte etwas Entscheidendes. Obwohl es in den Tiefen doch irgendwo herumdümpeln musste, bekam ich es nicht zu greifen. Selbst diese Ahnung verflüchtigte sich kurz darauf. Meine Schultern hoben sich wie von selbst.
Verwirrt sah Oscar von mir zu Zoey und wieder zurück. »Wollt ihr mich verarschen?«
»Inwiefern sollten wir dich verarschen wollen?«, schleuderte Zoey ihm entgegen.
Fordernd streckte Oscar eine Hand aus. »Dann gib mir den Stein.«
»Nein!« Zoey drehte sich um. Sie glich einem bockigen Kind, das sich seines Spielzeugs beraubt fühlte.
In der Zwischenzeit war ich trocken geworden und in meine Kleidung geschlüpft. Nun trat ich auf Zoey zu. »Gib her«, befahl ich.
Blitzschnell drehte sie sich zu mir um und pfefferte eine Feuersalve – ihren Fingern entsprungen – in meine Richtung.
»Ich. Sagte. Nein!«, rief sie, jedes Wort eine Oktave höher und lauter. Es schrillte in meinen Ohren.
Geistesgegenwärtig streckte ich eine Hand aus und drängte das Feuer durch meine Kraft zurück. Eine Kugel, geformt aus dem Wasser des Sees, löschte es zischend. Heißer Dampf stieg zwischen uns auf. Ich atmete schwer. Das Einzige, woran ich noch denken konnte, war der Stein, den ich an mich bringen wollte ... Warum genau, wusste ich jedoch nicht.
Ich setzte Zoey nach, die überrumpelt ihre Augen aufriss und zu spät bemerkte, was ich vorhatte. Zusammen landeten wir auf dem Boden, ich rittlings auf ihrem Bauch, sie zappelnd unter mir. Vor Überraschung entglitt Zoey der Stein. Klirrend landete er am Rand des Mondsees.
Fauchend und sich wie ein Aal windend wollte sie sich aus meinem Griff befreien. Ich reagierte schneller. Ein Winken, und eine Ladung Wasser traf meine Schwester ins Gesicht, die sie gegen die Wand drückte. Nach Luft schnappend rutschte sie zu Boden.
Ich rappelte mich auf und wollte mir nun selbst den Stein unter den Nagel reißen, doch der war plötzlich weg. Dafür lag er leuchtend und pulsierend in Oscars Handfläche. Dieser schloss sogleich die Finger darum und funkelte mich aufgebracht an. »Was ist nur in euch gefahren?« Seine Stimme hallte in der Grotte wider.
Das brachte mich endgültig zur Besinnung. Abrupt blieben Zoey und ich stehen. Wir starrten Oscar an. Verwirrt blinzelte ich. Wollte ich ihn gerade wirklich angreifen? Nur, weil ich an den Stein kommen wollte?
»Was ist passiert?«, fragte Zoey benommen. Sie hielt sich den Kopf und blickte verwundert auf ihre durchnässten Klamotten.
»Ich glaube, den hier ...«, Oscar reckte die Hand samt des Steins in die Luft, »... behalte ich. Ihr wart ja wie von Sinnen!« Er schüttelte den Kopf.
»Oh, Mann!«, rief ich aus. »Dieser Stein hat es echt in sich.«
Zoey nickte zustimmend. »Ja, es ist besser, wenn du ihn erst einmal behältst. Ich glaube, er beeinflusst uns zu sehr«, meinte sie zu Oscar. Sie wrang sich das triefende Shirt aus. »Vielleicht ist er mit einem Zauber belegt, sodass es schwieriger wird, den Fluch brechen zu können.«
»Das würde gut zu Mackenzies Art passen. Sie wollte bestimmt nicht, dass irgendjemand den Fluch jemals bricht«, gab ich Zoey recht und an Oscar gewandt sagte ich: »Danke, dass du uns davor bewahrt hast, uns gegenseitig umzubringen.«
Ein versöhnlicher Ausdruck machte sich in seinem Gesicht breit. »Immer wieder gern.«
Wir verließen die Insel. Der Mond war aufgegangen und erhellte uns – schon recht voll – den Weg zurück. Das erinnerte mich daran, was noch vor uns lag.
»Kaycie, können wir kurz reden?«, fragte Oscar, als wir unser Zuhause erreicht hatten.
Zoey war ebenfalls stehengeblieben. Ich gab ihr zu verstehen, dass sie vorausgehen sollte. Ohne ein Wort zu sagen, drehte sie sich um und lief auf die Haustür zu, während Oscar und ich vor der Einfahrt verweilten.
»Ich weiß, was du sagen willst«, sprach ich meine Vermutung aus, bevor Oscar den Mund öffnen konnte.
Sein Blick offenbarte mir alles. Nervös fuhr er sich durch die Haare. »Ich würde gern wissen, woran ich bin«, meinte er achselzuckend.
»Das verstehe ich, aber ich kann jetzt nicht an dem Punkt weitermachen, an dem wir aufgehört haben. Ich möchte, dass es richtig ist. Und keiner soll sich mehr dazwischendrängen. Zoey kann sich jeden Augenblick ändern. Sie könnte meine Gefühle für dich zu ihrem Vorteil nutzen«, erklärte ich, auch wenn sich mein Herz nach dem Gegenteil verzehrte.
Oscar grinste, seine Zähne blitzten im Licht des Mondes auf. »Du hast also noch Gefühle für mich?«
Kichernd schlug ich ihm gegen die Schulter. »Hör auf damit!«
»Mit was denn?« Er stieg in mein Kichern ein und stachelte mich an, es ihm gleich zu tun.
Atemlos vor Lachen hielt ich mir den Bauch. »Damit!«
»Okay, okay ... Aber bitte gib mir Bescheid, wenn es der richtige Zeitpunkt ist.« Nun klang er wieder vollkommen ernst.
Ich seufzte ergeben und trat einen Schritt auf ihn zu. Sanft schlang ich meine Arme um seine Hüften und sog diesen herrlichen Duft nach Erde und Lavendel ein, der ihn umgab. Oscar legte sein Kinn auf meinem Scheitel ab, atmete tief, fast erleichtert aus und erwiderte die Umarmung zärtlich. Lange standen wir einfach nur da und genossen die Nähe des anderen.
»Damit kann ich leben«, stellte Oscar nach einer Weile fest, mehr als zufrieden. Und ich musste ihm recht geben. So zufrieden und geborgen hatte ich mich schon lange nicht mehr gefühlt.
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