Kapitel 36 - Aussprache
»Oscar!«
Mit ihm hatte ich nicht gerechnet. Augenblicklich schoss mir die Röte ins Gesicht. Vermutlich konnte er meine Gefühle gerade an meiner Mimik ablesen, wie in einem offenen Buch. Verdammt. Ich wollte ihm doch gefasst gegenübertreten, sollte ich ihm begegnen. Und jetzt führte ich mich wie ein schüchternes Mädchen auf, das ihre Emotionen überhaupt nicht kontrollieren konnte.
Ich war wütend auf mich selbst und auf Zoey. Auf Oscar hingegen verspürte ich überhaupt keinen Groll mehr. Ich wollte ihm einfach nur um den Hals fallen und ihn nie wieder loslassen. Er hatte mir gefehlt. Egal, wie sehr sich Zoey angestrengt hatte, sie hatte es nicht geschafft, dass ich mich von Oscar abwandte.
»Können wir reden?«, fragte er nach einer Weile.
Ich nickte, während ich versuchte die Tränen zurückzudrängen, die auf einmal in meine Augen getreten waren. Es herrschte ein einziges Chaos in meinem Inneren. Ich wollte gleichzeitig heulen, lachen, ihm eine Ohrfeige verpassen, ihn umarmen ... Stattdessen blieb ich stocksteif stehen und blickte ihm unschlüssig entgegen.
»Es tut mir leid«, flüsterte er unsicher. Er meinte es dennoch vollkommen ernst, und ich glaubte ihm. Ich sah den flehenden Ausdruck in seinen Augen: Er hatte Angst, dass ich wieder gehen würde, ihn erneut stehenlassen würde.
»Ich weiß«, antwortete ich deshalb.
Überrascht weiteten sich seine blauen Augen. »Bitte, lass es mich erklären ... diesmal richtig.« Er griff nach meiner Hand.
Ich ließ es geschehen, ließ es zu, dass Oscar meine Finger mit seinen starken umschloss. »Ich will es verstehen.«
Sanft zog er an meiner Hand und wir setzten uns wieder in Bewegung, liefen den Strand weiter entlang. Erst nach ein paar Minuten begann er zu erzählen: »Ich saß an dem Abend noch im Café. Zoey kam dazu. Ich schwöre, sie sah haargenau so aus wie du. Trotzdem merkte ich, dass irgendetwas anders war. Sie verhielt sich seltsam, und sie trug auch nicht die Klamotten, die ich von dir gewohnt bin. Da ich aber fest davon ausging, dass es sich um dich handelte – immerhin wähnten wir Zoey auf der Insel –, habe ich diese Ungereimtheiten einfach so hingenommen ...«
Ich runzelte die Stirn. »Wie konnte sie überhaupt wie ich aussehen? Klar, wir sind Zwillinge, aber wir sind doch so verschieden. Und gerade du kennst uns mit am besten ...«
Oscar nickte. »Das hat mich auch lange nicht losgelassen. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass sie eine Art Illusion erschaffen haben muss. Immerhin ist sie eine Hexe. Sie kann ja auch Feuer aus ihren Händen schießen lassen, als wäre es das Normalste auf der Welt! Ich glaube, dass sie mich beeinflusst, wenn nicht sogar manipuliert hat, denn im einen Moment wusste ich, dass irgendetwas komisch an ihr war, und im nächsten war es mir völlig egal.«
Abrupt blieb ich stehen. »Du hast es also doch bemerkt? Oh, Zoey ... was bist du nur für ein Miststück!«, rief ich aufgebracht.
»Ja, für kurze Zeit habe ich etwas geahnt. Während wir zu dir nach Hause gelaufen sind, wurde ihr Verhalten immer seltsamer. Und kurz bevor sie mich ... nun ja ... küsste, habe ich ihr wahres Gesicht erkannt. Sie konnte die Illusion anscheinend nicht länger aufrechterhalten ... oder sie hat sie wegen dir absichtlich fallen lassen«, kam er zum Schluss.
Ich ballte meine Hände zu Fäusten, meine Wut auf Zoey flammte noch einmal auf, bevor ich mich dazu zwang, die Vergangenheit ruhen zu lassen. »Na schön, ich glaube dir, denn das traue ich ihr echt zu. Aber wir können uns nicht mehr über sie aufregen. Wir müssen mit ihr wenigstens so etwas wie einen Waffenstillstand schließen«, sagte ich ernst.
In Oscars Miene zeichnete sich Verwirrtheit ab. »Warum das denn?«
»Hör zu, ich habe etwas in Erfahrung gebracht. Ich weiß, wie wir alles rückgängig machen können.«
Oscars Blick blieb weiterhin skeptisch.
Ich hielt ihm das Buch entgegen. »Hier steht alles drin. Es gibt eine Prophezeiung, die besagt, wie man den Fluch brechen kann.«
»Prophezeiung? Fluch? Wovon sprichst du?«
Ich seufzte. »Ich hab dir doch von Mackenzie erzählt, richtig?« Als er langsam nickte, redete ich weiter: »Mackenzie belegte damals ihre Zwillingsschwester mit einem Fluch. Diesem sind Zoey und ich heute noch ausgesetzt. Ich wurde dadurch zu einer Meerjungfrau. Man kann ihn brechen. Dafür sind nur die vereinten Kräfte beider Zwillingsschwestern nötig. Also meine und Zoeys ... Das Einzige, was uns noch fehlt, ist der Stein, an den der Fluch gebunden ist.«
»Okay.« Oscar hatte mir in der Zwischenzeit das Buch abgenommen und darin herumgeblättert. »Und wo soll dieser Stein sein, von dem du da sprichst?«
»Das weiß ich nicht so genau. Aber Judy vermutet, dass er sich noch immer irgendwo in der Nähe der Insel befindet. Schließlich hat der Stein die Insel erst entstehen lassen ...«
»Wer ist Judy?«, wandte Oscar ein, ein großes Fragezeichen im Gesicht.
»Sie war die beste Freundin meiner Großmutter und hat ebenfalls versucht, den Fluch zu brechen. Allerdings hatten sie damals den falschen Stein – beziehungsweise war es ein Anhänger. Jedenfalls haben sie es nicht geschafft ... Wir können es diesmal hinkriegen, da bin ich mir sicher«, sagte ich entschlossen.
Oscar nickte gedankenverloren. Andächtig fuhr er über die Schrift, die ordentlich mit schwarzer Tinte verfasst wurde. »Hier steht noch etwas anderes ... eine bestimmte Planetenkonstellation.« Genau dafür brauchte ich ihn, und er war natürlich gleich darauf gestoßen.
»Ja, davon hat Judy mir ebenfalls erzählt. Sie meinte, schon in den nächsten Wochen würde sich dieses Phänomen wieder ereignen. Den genauen Zeitpunkt hat sie bis jetzt nicht ermitteln können. Den müssen wir noch herausfinden ... Und damit kommst du ins Spiel.«
»Ich sehe mal, was sich dazu finden lässt. Du solltest in der Zwischenzeit mit Zoey reden. Sie ist schließlich ein Teil dieser Sache ... Ohne sie funktioniert es offenbar nicht.«
Ich fuhr mir durch die Haare. »Ich weiß ... nur leider hab ich keine Ahnung, wie ich das anstellen soll«, flüsterte ich ratlos.
Beruhigend drückte Oscar meine Hand. »Du bist ihre Schwester. Hör ihr zu. Vielleicht braucht sie einfach jemanden zum Reden. Ich glaube nicht, dass sie so abgrundtief böse ist, wie sie vorgibt zu sein. Sie ist allein. Sie braucht dich«, sprach er mir Mut zu.
Daraufhin lenkte ich ein: »Okay, okay ... ich werde mit ihr reden. Mehr als zurückweisen kann sie mich nicht.«
»Gut, wir sehen uns später.« Er drückte noch einmal sanft meine Hand, dann entfernte er sich.
Ich starrte auf den blauen Ozean. Ein bisschen fürchtete ich mich schon. Schließlich wusste ich nicht, wie Zoey auf mich reagieren würde. Sie könnte mich ignorieren, aber auch angriffslustig sein und mir wehtun. Letzteres hatte sie neuerdings recht häufig getan. Würde sie mir zuhören? Würde sie mir Glauben schenken?
Um das herauszufinden, machte ich mich auf den Weg nach Hause, wo ich sie vermutete. Es war an der Zeit, dass Zoey wieder meine Schwester wurde.
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