Kapitel 35 - Prophezeiung
»Wirklich?«, fragte ich hoffnungsvoll. »Wie?«
Mrs. Parker erhob sich und bereitete eine weitere Kanne Tee zu, obwohl ich meinen kaum angerührt hatte. Das holte ich nun nach, und das angenehm, süße Aroma des mittlerweile abgekühlten Getränks breitete sich in meinem Mund aus. Anschließend angelte ich mir einen von den bereitgestellten Keksen und genehmigte mir einen herzhaften Bissen. Überrascht stellte ich fest, dass das Gebäck selbstgemacht war und absolut köstlich schmeckte. Ich schnappte mir einen Zweiten.
Judy verschwand im Wohnzimmer nebenan und kam kurz darauf zurück, ein kleines, ledernes Buch in den Händen. Zusammen mit dem frisch aufgebrühten Tee, legte sie es vor mir auf die dunkle Platte des Tisches ab. Der Einband war schwarz, es hatte keinen Titel. Es wirkte allerdings schon sehr abgegriffen, als hätte Mrs. Parker es unzählige Male in Benutzung gehabt. Mein Verdacht, um was es sich hierbei handeln könnte, bestätigte sich durch die Worte, die sie dazu sagte.
»Das ist mein persönliches Notizbuch. Darin steht alles über den Fluch, die Kräfte einer Meerjungfrau sowie einer Hexe. Die Experimente, die Katy und ich unternommen haben – auch die Sache mit Elaine. Zudem habe ich Mackenzie gründlich studiert und hier notiert, was ich in meinen Visionen gesehen habe, außerdem ...«, sie machte eine spannungsgeladene Pause, in der ich förmlich an ihren Lippen hing, weil ich wissen wollte, was sie noch alles da drin gesammelt hatte, »... habe ich die Prophezeiung zusammengetragen«, beendete sie ihren Satz.
»Die Prophezeiung ...?« Meine Augenbrauen wanderten nach oben. »Was denn für eine Prophezeiung?«
»Nach Elaines Tod zeigte mir das Wasserzeichen eine Prophezeiung. Sie handelt von der nächsten Generation, die den Fluch brechen könnte. Zuerst ging ich davon aus, damit seien deine Mutter und ihre Schwester gemeint, doch als diese viel zu früh von uns ging, war ich mir sicher, dass ihr der Schlüssel seid.«
»Oh ...« Das klang nach einer großen Verantwortung, die mir auf einmal schwer auf den Schultern lastete.
»Da ich für eure Mutter wie ein Familienmitglied bin, hatte ich immer ein Auge auf euch beide. Als ihr noch klein wart, habe ich oft auf euch aufgepasst.«
Verwirrt runzelte ich die Stirn. »Ich kann mich daran gar nicht erinnern ... Warum habe ich dann das Gefühl, ich kenne Sie erst seit gestern?«
Judy lächelte mich an und strich mir über den Tisch hinweg sanft über die Wange. »Deine Mutter fand es schrecklich, dass ihr die Auserwählten seid, deshalb solltet ihr so unbeschwert wie möglich aufwachsen. Sie verbot mir nicht ausdrücklich, euch aus dem Weg zu gehen, aber ich wusste, dass ich mich besser im Hintergrund halten sollte. So hatte ich immer von der Ferne einen Blick auf euch. Natürlich möchte auch deine Mutter, dass dieser Spuk endlich ein Ende nimmt, bevor noch einmal etwas Schreckliches passiert. Oder sogar noch Schlimmeres. Und ich habe mir zum Ziel gesetzt, dass nicht noch jemand Unschuldiges zu Schaden kommt.«
»Na schön. Wie genau kann man denn nun diesen verdammten Fluch brechen?« Ich spürte eine Entschlossenheit in mir aufsteigen, die sich von Minute zu Minute verstärkte. Konzentriert blätterte ich durch die alten, vergilbten Seiten des Notizbuches und fuhr dabei vorsichtig über das Papier.
»Zuerst musst du mit Zoey ins Reine kommen. Ihr schafft das nur zu zweit, nur zusammen und nur durch eure vereinten Kräfte. Ein Alleingang ist nicht möglich, damit könnte alles nur noch schlimmer werden«, schärfte mir Judy ausdrücklich ein.
»Was mache ich, wenn Zoey nicht einlenkt?« In ihrem momentanen Zustand würde sie kein vernünftiges Wort mit mir reden. Obwohl sie die ganze Schuld an unserer letzten Auseinandersetzung trug, würde sie das nicht einsehen. Sie würde diesen Fehler nicht zugeben, und auf die Idee sich zu entschuldigen, würde sie erst gar nicht kommen.
»Sie muss. Sie hat keine Wahl. Es wird sie irgendwann zerstören, und das wird ihr früher oder später noch klar, vertraue mir«, sprach Judy beruhigend auf mich ein.
»Na gut. Wir müssen also auf den nächsten Vollmond warten, richtig?«
Mrs. Parker hob einhaltend eine Hand. »Nicht ganz. So einfach ist es nicht. Mackenzie verwendete für ihren Fluch eine bestimmte Planetenkonstellation.«
Ich verkniff mir ein Stöhnen. Selbstverständlich gab es einen komplizierten Haken. Ich war zu naiv an die Sache herangegangen. »Was bedeutet das?«
»Alle Planeten unseres Sonnensystems müssen in einer exakten Linie zueinanderstehen. Das kommt selten vor, aber ihr habt Glück. Dieses Jahr ist es wieder so weit. Das genaue Datum habe ich noch nicht ermitteln können, das Phänomen wird sich jedoch in den nächsten Wochen schon ereignen.«
Plötzlich musste ich an Oscar denken. Das war doch genau sein Gebiet. Und damit kamen all die anderen Empfindungen hinzu, die ich mit ihm verband ... Die Letzten waren die Schlimmsten. Ich schluckte diese Gedanken hinunter, ignorierte den Stich in meiner Brust und versuchte mich wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren. »Wir müssen also auf den richtigen Zeitpunkt warten, Zoey und ich müssen unsere Kräfte vereinen und ...« Ich stockte mitten im Satz. So einfach war es dann doch nicht. Etwas Entscheidendes fehlte.
»Der Stein, den Mackenzie und Giselle für das Ritual verwendet haben. Der Stein, den Mackenzie für den Fluch verwendet hat. Er hat die Insel entstehen lassen ... Er ist der Schlüssel für alles«, bestätigte Mrs. Parker meine Vermutung.
»Und wo ist der Stein?«
»Mit größter Wahrscheinlichkeit befindet er sich noch an seinem Ursprungsort.«
Wir seufzten beide resigniert auf.
»Also irgendwo bei der Insel?«
Sie nickte. »So wird es wohl sein.«
Mit fahrigen Fingern durchkämmte ich mein wirres Haar. »Wenn wir den Stein gefunden haben, dann müssen wir ihn nur noch zerstören. Dann ist es zu Ende, oder?«
»Ich hoffe es.«
Ruckartig stand ich von meinem Stuhl auf, dessen Beine scharrten laut über die Fliesen der Küche. »Dann mache ich mich am besten gleich auf den Weg. Wir haben keine Zeit zu verlieren.«
Mrs. Parker lächelte. »Das ist die richtige Einstellung. Ich wünsche dir viel Glück.« Sie erhob sich ebenfalls, allerdings mühsamer.
Als hätte ich Hummeln im Hintern, eilte ich zur Haustür und vergaß beinahe, mich von Judy zu verabschieden.
»Kaycie, warte!«, rief sie mir nach.
Ich blieb stehen.
Judy wedelte mit dem kleinen, schwarzen Buch in ihrer Hand. Gemächlich kam sie auf mich zu und überreichte es mir feierlich. »Nimm es mit. Es könnte dir helfen. Und noch etwas ...«
Ich nahm das Buch entgegen und umarmte sie stürmisch. »Danke.«
»Du musst deine Kräfte kontrollieren. Gehe nicht blauäugig an diese Sache heran«, warnte sie.
»Okay, ich werde es mir merken. Danke, Mrs. Parker. Für alles.«
Sanft strich sie mir über den Oberarm, ihre grauen Augen glänzten feucht, aber auch entschlossen. »Ich weiß, dass du es schaffen wirst. Du bist stark. Stärker, als du vermutlich glaubst.«
Auf dem Heimweg dachte ich lange über das nach, was mir Judy erzählt hatte. Endlich war die Lösung zum Greifen nahe. Ich musste nur noch ein paar Weichen stellen, dann könnte alles wieder wie zuvor werden. Ich könnte meine Schwester wieder zurückbekommen. Meine nervige und insgeheim liebevolle Schwester. Mit der man Spaß haben konnte, und die mein Ein und Alles war. Ich sehnte die alten Zeiten zurück, auch wenn sich immer wieder der Kuss zwischen ihr und Oscar in meine Gedanken drängte. Die alte Zoey hätte das niemals gemacht, sie mochte Oscar nicht einmal. Na schön, sie mochte ihn auch jetzt nicht. Sie hatte es bloß getan, um mich zu verletzen und zu provozieren.
Ehe ich mich versah, befand ich mich auch schon wieder am Strand. Ich zog meine Schuhe aus und ließ die Zehen zwischen die warmen Sandkörner gleiten. Das türkisblaue Wasser schwemmte träge ans Ufer. Warum sah es hier immer so friedlich und paradiesisch schön aus? Selbst wenn ein Mord passieren würde, beeinträchtigte das niemals die natürliche Schönheit dieses Ortes.
Wie kam ich denn jetzt darauf? Kopfschüttelnd watete ich weiter durch den feinen Sand und merkte gar nicht, dass jemand direkt auf mich zuhielt. Erst als ich gegen eine starke Brust stieß, kam ich wieder zur Besinnung.
Mir entfuhr ein erschrockener Laut. Hastig sprang ich zur Seite. »O mein Gott!«, rief ich. »Das tut mir schrecklich leid! Wo hatte ich nur meine Augen?«
»Kein Problem. Ich habe gerade sowieso nach dir gesucht«, antwortete eine wohl bekannte, tiefe Stimme, bei der sich mir unwillkürlich die Härchen am Nacken sträubten.
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