Kapitel 14 - Familiengeheimnis
»Weißt du, dein Vater war ziemlich stur. Wenn er etwas unbedingt wollte, dann bekam er das auch.« Mom lächelte und sah in die Ferne, wahrscheinlich kamen ihr gerade all die Erinnerungen an meinen Dad wieder in den Sinn.
Gespannt stützte ich mein Kinn auf eine Hand und sah sie abwartend an.
»Aber genau diesen Ehrgeiz liebte ich an ihm. So brachte er mich auch vor langer Zeit dazu, mit ihm zur Insel zu fahren.«
Also war sie auch auf der Insel gewesen. Ich wusste es. Ich hatte schon etwas in der Art geahnt, als sie Zoey und mich zuerst dazu drängte, und uns danach so ausfragte.
»Und wie habt ihr euch jetzt kennengelernt?«
Mom grinste. »Das war in der Schule. Wir sind uns zufällig über den Weg gelaufen. Er hat mich aus Versehen angerempelt, und dabei sind meine Bücher heruntergefallen. Du glaubst nicht, wie unbeholfen wir uns angestellt haben, die Bücher wieder einzusammeln.« Amüsiert darüber schüttelte Mom den Kopf. »Es war eine dieser Begegnungen, die einem zu oft passieren. Vor allem, wenn man so schusselig ist wie ich«, erzählte sie.
»Klingt für mich nach dem Anfang eines Hollywoodfilms«, stellte ich fest.
Moms rechte Augenbraue fuhr in die Höhe, nachdenklich strich sie sich über den Hals. »Mh, ja. Irgendwie muss ich dir da recht geben ... nur ist meine Geschichte aufregender.« Sie zwinkerte mir verschwörerisch zu.
»Lass mich raten, er hat dich gleich nach deiner Telefonnummer gefragt?«, merkte ich ironisch an.
Sie winkte ab. »Das kam erst später.« Mit leuchtenden Augen erzählte sie weiter: »Wir haben uns am Nachmittag vor der Schule noch einmal getroffen. Dein Dad hatte damals so eine Wahnsinnsmaschine-«
»Du meinst ein Motorrad? Dad hatte ein Motorrad?«, wollte ich wissen.
Sie nickte. »Und mich hat er mit seinem charmanten Lächeln gefragt, ob ich denn nicht Lust hätte, eine Runde mit ihm darauf zu drehen. Ich war völlig außer mir. Aber natürlich zeigte ich ihm das nicht so offen.«
»Klar, du wolltest wenigstens etwas cool rüberkommen«, kommentierte ich.
»Ich wollte schließlich nicht wie diese oberflächlichen, blonden Tussis ausflippen ... du weißt schon ... die gibt es bestimmt auch bei dir an der Schule«, meinte sie.
»Und ob! Die sind einfach nur ... unter jedem Niveau. Dad hatte wirklich Geschmack.« Ich zwinkerte Mom zu und sie streichelte über meine Hand. Ein warmes Gefühl machte sich in meiner Brust breit.
»Vielen Dank, Liebling. Also, wo war ich? ... Ich konnte natürlich nicht Nein sagen, und bin zu ihm auf das Motorrad gestiegen. Ich habe mich plötzlich so besonders gefühlt, weißt du. Alles war perfekt.« Mom sah wieder in die Ferne.
»Gab es irgendeinen Haken?«, fragte ich.
»Was denn für einen Haken? Nein, wir waren füreinander bestimmt, bis-« Ihre Augen nahmen einen traurigen Glanz an. »Ja, wo du es sagst ... einen Haken gab es dann doch. Dein Dad war krank, und er wusste das schon, als wir uns kennengelernt haben. Er hat es mir aber erst erzählt, als es fast schon zu spät war ... Das war der Haken, den es wohl immer gibt.« Sie presste die Lippen fest aufeinander, ehe sie wieder etwas beherrschter fortfuhr: »An dem Tag fuhren wir zum Hafen, und dein Dad verliebte sich nicht nur in mich, sondern auch in die Insel. Seitdem wollte er unbedingt einmal mit mir dorthin-«
Plötzlich wurden wir beide durch das Läuten der Klingel erschreckt.
»Kaycie! Das ist wieder dein dämlicher Freund!«, rief Zoey von ihrem Zimmer aus. Damit war die Geschichtsstunde wohl vorerst beendet.
Mom lächelte mich aufmunternd an und tätschelte sanft meine Wange. »Rede mit ihm. Er ist es wert, glaube mir«, sagte sie, wie die allwissende Großmutter, obwohl sie noch lange nicht dieses Alter erreicht hatte.
Ich seufzte tief. »Okay. Können wir das wiederholen? Über Dad zu sprechen, meine ich?«
»Aber klar, und jetzt geh!« Lachend scheuchte sie mich aus der Küche. »Wenn du wiederkommst, gibt es Kuchen, der nur auf dich wartet!«, teilte sie mir noch mit.
»Mom, willst du etwa, dass Kaycie fett wird?«, quakte Zoey von oben.
Ich verdrehte meine Augen. Musste sie denn immer ihren Senf dazugeben? Anschließend öffnete ich die Tür. »Komm, lass uns ein Stück gehen«, sagte ich zu Oscar, der ziemlich zerknirscht wirkte.
Wir liefen am Strand entlang, der Wind zerrte an unseren Haaren und der Kleidung.
»Ich weiß, dass du gesagt hast, du brauchst Zeit ...«, fing er an.
»Aber trotzdem sind wir hier«, stellte ich fest, und machte eine ausladende Geste, die den gesamten Strand umfassen sollte.
Oscar stöhnte leise. Er fuhr sich mehrmals durch das zerzauste Haar. Er war nervös, was ziemlich selten bei ihm vorkam.
Ich blieb stehen und hielt ihn am Arm fest. »Bitte sag mir, was du zu sagen hast.«
Er wich meinem Blick aus. »Kaycie ... Ich weiß nicht genau, wie ich da anfangen soll ...« Er zupfte an seinen Fingern.
Mit gerunzelter Stirn beobachtete ich sein Verhalten. So hatte er sich noch nie in meiner Gegenwart benommen. Schließlich ging ich einen Schritt auf ihn zu und legte meine Hände auf seine Schultern, damit er mich endlich ansah. »Was ist los? Ich sehe doch, dass etwas nicht stimmt«, forderte ich ihn auf.
Seine blauen Augen trafen auf meine. »Das gestern war mehr für mich ... auch wenn du dich an nichts erinnern kannst«, gab er zu.
Ich unterdrückte den Impuls, von ihm abzuweichen. Wie sollte ich denn darauf reagieren? Mir kam das alles unwirklich vor. Wie in einem Traum, der sich doch so real anfühlte. »Weißt du, ich dachte immer, dass aus uns nie etwas werden würde«, sagte ich schief lächelnd, nachdem lange keiner ein Wort von sich gegeben hatte.
»Warum das?«, fragte er erstaunt.
Nun wollte ich meine Hände doch wieder zurücknehmen, aber Oscar hielt sie fest umschlossen. »Naja, ich dachte immer, du interessierst dich nicht ... für Mädchen.« Jetzt war ich es, die den Kopf abwandte.
Oscar fing an zu lachen. »Was? Du dachtest, ich wäre schwul?«, hakte er ungläubig nach.
Sein Grinsen steckte mich an. »Ja, genau das dachte ich! Und es hat mir auch nichts ausgemacht. Ich habe dich immer nur als meinen besten Freund gesehen ... Jetzt ist es verwirrend für mich, dass ich die ganze Zeit falsch lag«, erklärte ich.
»Kaycie, ich werde dich zu nichts drängen. Wir sind immer noch beste Freunde, egal was passiert. Das verspreche ich.« Er hielt mein Gesicht in seinen Händen.
Wir sahen uns eine geraume Zeit nur an, und kurz war ich versucht gleich herauszufinden, wie sich ein Kuss mit ihm wohl anfühlen würde. Meine Lippen wollten sich schon öffnen, aber dann entschied ich mich dagegen und presste sie zusammen. »Okay«, flüsterte ich schließlich. Vorsichtig befreite ich mich aus seinem sanften Griff und starrte zum Meer hinaus.
»Kaycie, wenn du weißt, was das Richtige ist ... komm zu mir«, sagte Oscar noch, dann entfernte er sich von mir.
Ich war hin und hergerissen, als ich ihm nachblickte. Auf der einen Seite war er mein bester Freund und wie ein großer Bruder für mich, aber auf der anderen Seite ... wollte ich herausfinden, was gestern Nacht zwischen uns passiert war, das ihn dermaßen überzeugte.
Um das Chaos in meinem Kopf besser ordnen zu können, ging ich ins Wasser. Dort schien die Zeit stillzustehen und meine Probleme und wirren Gedanken lösten sich in Luft auf. Ich tauchte bis zur Insel, wollte aber nicht in die Höhle. Dort hatten wir uns gestern geküsst – jetzt diesen Ort aufzusuchen würde meine Gefühle zu sehr aufwirbeln.
Also betrachtete ich die Fische um mich herum, deren Schuppen in den Sonnenstrahlen schimmerten, die durch die Wasseroberfläche drangen. Der Sand tief unter mir glitzerte ebenfalls ... und dann sah ich auf einmal einen Gegenstand, der hell glänzte, und mich blendete. Neugierig schwamm ich darauf zu. Es war ein Medaillon aus Silber. Es wirkte etwas zerkratzt und es hatte eine kleine Delle, weshalb ich es nicht gleich aufbekam.
Ich schwamm zurück zum Strand, um es mir an Land genauer ansehen zu können. Nachdem ich wieder trocken und angezogen war und den Anhänger mit dem Saum meines Shirts vorsichtig gesäubert hatte, versuchte ich ihn erneut zu öffnen. Erst nach dem dritten Versuch klappte es.
Lange starrte ich das Bild an, das auf der Innenseite befestigt war. Durch den festen Verschluss war es noch in einem sehr guten Zustand. Irgendwie kam es mir bekannt vor ... Zwei Teenager waren darauf abgebildet: ein hübsches Mädchen mit langen, rötlichen Haaren und blauen Augen und ein Junge mit dunklen Augen und kurzen schwarzen Haaren. Beide lächelten in die Kamera – es sah aus wie ein Selfie. Sie wirkten glücklich zusammen. Wahrscheinlich ein Liebespaar.
Nachdenklich fuhr ich mit dem Finger darüber. Dann hatte ich einen Geistesblitz und augenblicklich wusste ich, woher ich dieses Bild kannte. Ein Ausschnitt von diesem Foto hing bei uns im Wohnzimmer ... Die zwei Teenager waren meine Eltern! Vor Aufregung über meine Entdeckung, hätte ich den Anhänger beinahe fallen gelassen.
Ich nahm die Abbildung noch genauer unter die Lupe. Der Ausschnitt war größer als bei uns Zuhause. Mom trug die Kette, die ich gerade in den Händen hielt ... und Moment mal, was war das hinter ihr? Täuschte ich mich, oder hatte sie etwa eine Schwanzflosse?
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