Kapitel 13 - Anker
Mir stieg ein seltsamer Geruch in die Nase. Salzig und noch etwas anderes ... irgendwie nach Fisch. Warum roch es hier so fischig? Ich schlug meine Augen auf. Mich traf der Schlag, als ich merkte, dass ich nicht in meinem Zimmer war. Überall auf dem Boden verteilt lagen Dosen herum. Von ihnen kamen auch die starken Ausdünstungen nach Fisch. Ich befand mich in der Grotte, und die Sonne ging langsam auf. Das konnte ich am dämmrigen Licht ausmachen, das durch die Öffnung des Vulkans hereinschien.
Na super, es war wie am Anfang: Ich wachte ohne eine Erinnerung an die vergangene Nacht auf. Aber diesmal war ich nicht allein. Oscar lag direkt neben mir und hatte einen Arm um mich geschlungen. Er wirkte friedlich im Schlaf. Vorsichtig schob ich seinen Arm von mir weg, doch plötzlich regte er sich und zog mich noch näher an sich. Sein warmer Atem strich über meinen Nacken, es kitzelte leicht.
Ich erstarrte. Ein seltsames Kribbeln breitete sich in meinem Bauch aus, gleichzeitig fühlte ich mich bedrängt. Als er dann auch noch zarte Küsse auf meine Haut hauchte, war es mit der Zurückhaltung vorbei. Ich stieß einen Fluch aus und schubste ihn von mir. »Was soll denn das?«, rief ich empört.
Zum Glück trug ich meine Kleidung. Ich konnte mich zwar nicht daran erinnern, dass ich mich umgezogen hatte, aber immerhin war doch offensichtlich nicht viel zwischen uns passiert. Das Herz schlug mir vor Aufregung wild in der Brust. Mir war das irgendwie ... peinlich. Wir waren doch beste Freunde und jetzt tat er auf einmal so vertraut.
Benommen rieb sich Oscar den Schlaf aus den Augen. »Stimmt etwas nicht?«, fragte er und kam zu mir rüber.
Ich wich vor ihm zurück. »Fass mich nicht an!« Um ihn auf Abstand zu halten, streckte ich einen Arm nach vorn.
Verwirrt blieb er stehen. »Was ist los?«, wollte er wissen. »Ich dachte-«
»Was dachtest du?«, fuhr ich dazwischen. »Was zum Teufel ist gestern passiert? Sag bloß nicht, dass wir ...« Meine Atmung kam keuchend, ich konnte es einfach nicht aussprechen. Es war zu viel.
»Es ist nichts passiert!«, lenkte Oscar ein. »Okay, doch ... wir haben uns geküsst – nur geküsst –, dann bist du eingeschlafen ... war wohl etwas zu viel Fisch.« Er kratzte sich mit leicht geröteten Wangen den Nacken.
Ich runzelte die Stirn, dann ließ ich mich an der Wand entlang auf den Boden gleiten und stützte meinen Kopf in die Hände. »Ich kann mich an nichts erinnern!«, wisperte ich verzweifelt.
Vorsichtig kam Oscar näher. Als ich mich nicht bewegte, kniete er sich vor mich.
»Oder doch ... es war Vollmond, mehr weiß ich nicht«, fügte ich noch hinzu.
»Komm, wir sollten von hier verschwinden«, meinte er schließlich und hielt mir seine Hand hin.
Wir sprachen kein Wort, während wir uns durch den dichten Dschungel einen Weg zum Strand bahnten. Meine Gedanken waren völlig durcheinander. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass ich Oscar geküsst haben sollte. Wie war das nur passiert? Stand ich wirklich so neben mir?
Natürlich war Oscar alles andere als hässlich. Er sah schon irgendwie ... süß aus. Aber ich war erstens immer davon ausgegangen, dass er nicht an mir oder sonst einem Mädchen interessiert war, und zweitens kannten wir uns eine halbe Ewigkeit. Da dachte ich einfach, dass nie etwas zwischen uns passieren würde. Jetzt sollte ich ihn geküsst haben und wusste nicht einmal, wie sich das anfühlte.
Wir fuhren mit dem Boot zurück zum Hafen, wo an einem Samstagmorgen einiges los war. Viele machten zusammen mit der Familie einen Ausflug auf einem der Schiffe oder gingen am Hafen spazieren.
»Hey ...« Oscar wollte nach meinem Arm greifen, als ich aufstand.
Ich wich seinem Blick aus und er nahm seine Hand zurück. »Sorry, ich brauche etwas Zeit ... allein«, murmelte ich und ging. Ich wusste, dass er mir mit seinem traurigen Blick nachschaute, aber ich blieb standhaft und wagte es nicht mich umzudrehen.
Zuhause stürmte Mom besorgt auf mich zu. »Liebling! Wo warst du denn nun schon wieder?«, wollte sie wissen. Ich ließ mich von ihr in eine feste Umarmung ziehen. Als ich ihre Wärme spürte und mich unendlich geborgen dabei fühlte, fing ich an zu schluchzen. Mom schob mich ein Stück von sich, um mich genauer betrachten zu können. Behutsam strich sie mir eine Strähne aus dem Gesicht. »Es ist wegen Oscar, nicht wahr?«
Hilflos zuckte ich mit den Schultern und schluchzte erneut auf.
»Komm, ich mache dir einen Tee, und dann kannst du mit mir in Ruhe über alles reden.«
Sie zog mich sanft in die Küche und drückte mich dort auf einen Stuhl am Esstisch, während sie in ihrem Element war, um mir mit ihrem Essen zu helfen. Wenn Mom sagte, sie würde einen Tee kochen, dann hieß das auch Kuchen backen, oder Muffins, oder Kekse, oder ... irgendetwas halt, das furchtbar lecker schmeckte und einen für kurze Zeit vergessen ließ, warum man sich so schlecht fühlte. Also genau das, was ich jetzt brauchte.
»Hat er dir wehgetan?«, fragte sie, unterdessen suchte sie die Zutaten zusammen.
»Nein.«
»Gut, aber irgendetwas ist zwischen euch passiert, sonst wärst du nicht so aufgewühlt. Ich kenne dich doch – Oscar ist dein Anker«, meinte sie. »Im übertragenen Sinn, natürlich.«
Ich runzelte die Stirn. Wenn ich genau darüber nachdachte, dann war ich unter anderem auch wegen Oscar so aufgebracht. Es stimmte, er war in gewisser Weise mein Anker, aber nun wusste ich nicht mehr, wie lange noch. Das, was zwischen uns passiert war, ließ die Verbindung an den Grundsteinen erzittern.
Ich seufzte. Mir schwirrte zu viel im Kopf herum: Die ganze Sache mit der Verwandlung und dem Wasser, Zoeys unerklärlichem Angriff und jetzt auch noch letzte Nacht, an die ich überhaupt keine Erinnerung hatte ...
»Weißt du, als ich in deinem Alter war, ist bei mir auch viel auf einmal passiert«, riss Mom mich aus meinen Gedankengängen.
Sie rührte einen Teig um, der jetzt schon verführerisch duftete. Neugierig lugte ich über ihre Schulter. »Wie meinst du das?« Plötzlich waren meine Probleme in den Hintergrund gerückt und mich interessierte viel mehr, was Mom zu erzählen hatte.
Etwas verlegen strich sie sich eine Strähne ihrer rötlich braunen Haare hinter das Ohr. Sie lächelte in meine Richtung. »Nun ja, ich war auch einmal jung ... und verliebt«, setzte sie zu einer Erklärung an.
Meine Augen wurden groß. »Redest du von Dad?« Ein trauriges Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht, aber auch auf Moms Zügen aus.
»Ja, ich rede von deinem und Zoeys Dad.« Ihre blauen Augen glänzten.
Noch nie hatte Mom bereitwillig über Dad geredet. Sie hatte nie erzählt, wie sie sich kennenlernten. Jetzt hatte ich die einmalige Chance, das zu erfahren. Stets hütete sie seine Existenz und ihre gemeinsame Vergangenheit wie ein Geheimnis oder einen Schatz, obwohl er auch zu unserem Leben gehörte. Aber Dad lebte schließlich in unseren Erinnerungen weiter, wie es auf seinem Grabstein eingraviert war ...
Ich legte Mom eine Hand auf die Schulter. »Bitte, erzähl mir von ihm. Wie war es, ihn kennenzulernen?«
Mom schob den Kuchenteig in den Ofen, dann nahm sie seufzend Platz. Sie suchte meinen Blick. Ich griff nach ihren Händen, hielt sie fest. Und dann eröffnete sie mir ihre Geschichte.
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