Kapitel 12 - Vollmond

Wir blieben noch eine Weile im Café. Langweiliger, wie Zuhause darauf zu warten, dass etwas passierte, war es jedenfalls nicht. Erst als die Sonne schon untergegangen war, stand Oscar von seinem Platz auf. »Komm, ich denke jetzt ist es selbst Zoey zu langweilig geworden – was auch immer sie vorhat«, meinte er.

Zusammen gingen wir nach draußen. Die Luft frischte jetzt am Abend vom Meer her auf. Der immer dunkler werdende Himmel war klar und die ersten Sterne leuchteten auf. Der Mond schien heller als je zuvor. Zumindest kam es mir so vor, denn er zog mich geradezu magisch an. Ich konnte gar nicht anders, als ihn anzustarren. So blieb ich mitten auf der Straße stehen. Meine Hand, die Oscar zuvor gehalten hatte, wurde schlaff und entglitt seiner.

»Kaycie?«, fragte Oscar.

Doch ich vernahm seine Stimme nur noch am Rande meiner Wahrnehmung. Plötzlich hatte ich einen unbändigen Hunger nach Fisch und ich wollte schwimmen, hinüber zur Insel. Ich brauchte das Wasser – und es brauchte mich!

Eine starke Hand griff nach meinem Arm, ich wollte sie wegwischen, doch sie hielt mich eisern fest. Wütend fuhr ich zu meinem Widersacher herum.

Oscars blaue Augen schauten mich verwirrt an. »Was ist mit dir?«

Verwundert blinzelte ich, als seine Stimme zu mir durchdrang. Für einen Moment hatte ich völlig vergessen, wer ich war, und dass Oscar direkt neben mir stand, und wir eigentlich nach Hause gehen wollten. Mein wütender Blick verschwand. Allerdings blieb die magische Anziehungskraft der Insel und der nagende Hunger. Ich fuhr mir durch die Haare. »Es tut mir leid. Ich weiß nicht, was mit mir los ist«, sagte ich verzweifelt.

Oscar betrachtete mich eine Weile nachdenklich. »Wenn Zoey heute Morgen auch so etwas hatte, dann ...« Er legte den Kopf in den Nacken, blickte zum Mond weit über uns. Voll und hell strahlte er, und immer wieder sah ich zu ihm auf, auch wenn ich es gar nicht wollte. »Natürlich! Es liegt am Vollmond. Irgendwie beeinflusst er euch beide.« Oscar schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn, als könnte er es nicht fassen, dass er erst jetzt darauf gekommen war. »Aber Zoey ist doch keine Meerjungfrau, oder?«

»Nein, Zoey ist nicht wie ich«, bestätigte ich.

Auf einmal knurrte mein Magen. Ziemlich laut, denn Oscar warf mir einen erschrockenen Blick zu. »Alles okay?«

Ich hielt mir den Bauch. »Ich habe Hunger!«, jammerte ich.

Und nie hatte sich der so schmerzhaft angefühlt. Ich war mir sicher, dass ich die Nacht nicht überleben würde, sollte ich jetzt nichts zwischen die Zähne bekommen. Ich krümmte mich zusammen und sank auf die Knie. Besorgt ging Oscar neben mir in die Hocke.

Meine Sinne trübten sich, und auf einmal tanzten flauschige pinkfarbene Wolken um mich herum, aus denen kleine, aber auch große Fische sprangen. Und Oscar hatte einen riesigen Fisch als Kopf, mit großen Glupschaugen. Hysterisch keuchte ich auf, dann fing ich an zu kichern.

»Kaycie? Kann ich dir irgendwie helfen, du machst mir langsam Angst«, sagte Oscar.

Es sah so irrsinnig witzig aus, wie er mit seinem Fischmund sprach, dass ich mich vor Lachen auf dem Boden wand, und nicht mehr aufhören konnte. Mein Bauch schmerzte jetzt nicht mehr nur wegen des starken Hungers. »Du siehst so lustig aus!«, gackerte ich und streckte meine Hände nach seinem Fischgesicht aus.

Doch er packte mich an den Handgelenken und zog mich wieder auf die Füße. »Ich glaube, dass wir dich jetzt nach Hause bringen«, bestimmte er.

»Nein! Neeeiiinnn! Ich will aber nicht!« Wie ein kleines, bockiges Kind zerrte ich an seinem starken Griff. »Ich will ins Wasser! Zur Insel. Zum Mondsee. Schwimmen. Schwimmmeeeennnnn!«

Ich wehrte mich, trat um mich und biss sogar zu, als er mich noch fester packen wollte. Er schrie auf, zog seine Hand zurück und presste sie gegen seine Brust. Genau diese Chance nutzte ich und rannte los. Die Holzbretter des Stegs knarzten und polterten unter meinen schnellen Schritten. Für mich sahen sie wie Wellen aus, auf denen ich lief. An seinem Ende sprang ich ins Wasser.

»Kaycie!«, rief Oscar mir nach.

Unterwasser fühlte es sich herrlich an. Hier war ich zuhause. Alles schimmerte und funkelte in einem mystischen Blau. Die Korallen unter mir glitzerten im Mondlicht und sandten Lichtpunkte nach oben, an die Oberfläche. Vergnügt drehte ich mich im Wasser, und ließ mich von der Strömung zur Insel geleiten.

Ich wusste nicht mehr, wie viel Zeit vergangen war, während ich im See dahintrieb und den Mondschein auf meiner Haut genoss, als ich von irgendwoher lautes Rufen vernahm. Jemand war hier auf der Insel. Seltsamerweise kam mir die Stimme bekannt vor und sie näherte sich von Sekunde zu Sekunde.

Kurz war ich wieder bei klarem Verstand. Es war Oscar! Und er war mir auf die Insel gefolgt. Ich wusste nicht, ob ich wegen seiner Besorgnis um mich gerührt oder wütend sein sollte. Letztendlich entschied ich mich dazu, mich ihm erkenntlich zu zeigen. »Ich bin hier!«, brüllte ich.

Wenig später betrat er unter lautem Ächzen die Höhle. Er musste fast auf Knien kriechen, so groß war er. Staunend sah er sich um, nachdem er sich den Staub von der Kleidung geklopft hatte. Er trug eine Tasche bei sich. Mein Verstand verabschiedete sich wieder.

Neugierig betrachtete ich sein Mitbringsel. »Was ist da drin?«, wollte ich wissen und streckte meine Arme danach aus.

Vorsichtig kam Oscar auf mich zu. Sobald er in meiner Griffweite war, zerrte ich ihn am Kragen zu mir an den Beckenrand und entriss ihm die Träger.

»Hey! Ich hätte sie dir auch so gegeben«, beschwerte er sich. »Da ist etwas zu Essen drin und Kleidung. Deine Klamotten, die im Hafen herumgetrieben sind, habe ich dir nach Hause gebracht. Du solltest echt aufpassen«, hielt er mir vor.

Damit er endlich Ruhe gab, legte ich einen Finger an seine Lippen. »Scht«, machte ich. Er erstarrte und blickte mich mit weit aufgerissenen Augen an.

Ich ignorierte seinen Gesichtsausdruck und rupfte am Reißverschluss herum. Ein Haufen Dosen offenbarte sich mir, und in den Dosen war ... Fisch! Mit leuchtenden Augen schüttelte ich den gesamten Inhalt auf den Steinboden und zog sogleich den Deckel der Erstbesten auf. »Fiiischhh!«, schmatzte ich genüsslich und schloss die Lider.

»Ja, du hast vorhin noch irgendwas von Fisch gebrabbelt, während du dich nicht mehr vor Lachen einkriegen konntest – deshalb habe ich mir euren gesamten Vorrat stibitzt«, erklärte Oscar und setzte sich im Schneidersitz an den Rand des Sees. Mit gerunzelter Stirn beobachtete er jetzt, wie ich den öligen Fisch verschlang.

Ich verputzte über die Hälfte der mitgebrachten Konserven, bis ich erneut einen klaren Gedanken fassen konnte, dann hielt ich inne und reichte Oscar die Halbleere in meinen Händen. »Möchtest du auch etwas?«, fragte ich verschmitzt lächelnd.

Er verzog das Gesicht. »Lieber nicht, mir ist gerade nicht nach Fisch.«

Ich zuckte die Achseln und aß weiter.

Später lag ich wieder auf dem Rücken im Wasser und blickte verträumt in die Sterne weit über mir am Himmelszelt. Ich atmete tief durch. »Es ist herrlich hier drin, willst du nicht auch mit reinkommen?«, fragte ich Oscar.

»Kaycie ...« Er klang als wollte er mir etwas sagen, haderte aber noch mit sich.

Ich sah zu ihm auf. Seine Gesichtszüge wirkten im diffusen Licht nicht länger menschlich, sondern unheimlich anziehend auf mich, mit den markanten Wangenknochen und den hell leuchtenden Iriden.

Ich drehte mich um und setzte mich zu ihm an den Rand. Oscar ließ es geschehen, wie ich mit meinen feuchten Fingerspitzen über seine glatte Haut strich, die Umrandung seiner Lippen entlangfuhr. Meine Finger hinterließen eine feuchte Spur, die im Licht des Mondes bläulich schimmerte.

Seine Pupillen weiteten sich. Den Mund leicht geöffnet, schloss er die Lider.

Ich streichelte seine Wangen, strich ihm das dunkle, gelockte Haar aus der Stirn. So hatte ich ihn in all den Jahren noch nie berührt. Es fühlte sich verlockend an, und schnell wollte ich mehr.

Oscar schien es ebenso zu gehen: Er rückte näher, umschlang meine Hüften mit seinen großen Händen, und dann waren sich unsere Gesichter so nah, dass ich seinen warmen Atem an meiner Kehle spüren konnte. Er sah mir tief in die Augen. Ich verlor mich in diesem Blick, der mich zu mehr verleitete. Schließlich beugte ich mich das letzte, winzige Stück nach vorn und küsste ihn.

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