Kapitel 16.1
Die Sonne neigte sich so langsam dem Horizont zu, obwohl sie noch immer den Himmel erhellte. Die Stallungen waren zwar noch gut besucht, doch sollte das Lina diesmal nicht stören. Es war irgendwie merkwürdig Kivan so arbeiten zu sehen. Als wäre nie etwas gewesen. Ebenso wie es merkwürdig war zu sehen, wie Lateux dort auf der Wiese stand und sein Fell an den warmen Sonnenstrahlen aufwärmte. Er spielte seine Rolle als Meloceros wirklich gut. Oder er war einfach generell ein leicht arroganter Kerl, der gern im Mittelpunkt stand. Abwegig war es nicht.
Lina lachte leise, als sie auf Kivan zuging. „Ich würde mir ... den Meloceros gern für einen Ausritt ausleihen", sagte sie. Es war ihr erlaubt auszureiten. Lateux war zwar kein Pferd, doch als Gast des Königshauses, konnte sie sicherlich auch den Hirsch nehmen.
Kurz schielte Kivan zu ihr, um sie zu mustern. Es mochte bedeutungslos wirken, doch war sich Lina bewusst, dass es wohl auch für ihn eigenartig sein musste. Er legte die Bürste in seiner Hand zur Seite und verneigte sich leicht, als er sich Lina zuwandte. „Aber sicher, Lady Zaratus. Ich werde mich umgehend darum kümmern", versicherte er. Einen Augenblick sah er fragend zu der kleinen Ledertasche, die an ihrer Seite baumelte, doch hinterfragte er es nicht weiter. Sie würde ihm ohnehin keine Antwort geben können, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Etwas was sie tunlichst vermeiden würde. Es war ohnehin schon anstrengend genug, dass die Madam sie ununterbrochen Dinge zu einem Mann fragte, von dem Lina bisher kaum gewusst hatte, dass er existierte.
Sie antwortete meist recht schnell, ohne zu wissen, ob es stimmte. Meist war es ihr sogar egal. Sie hatte sowieso nicht vor, sich mit den Folgen zu beschäftigen.
Lina lächelte dankbar und legte ihren Arm ein wenig über die Tasche, in dem Versuch sie zu verstecken. In dieser befanden sich ein paar Utensilien, die sie brauchen würde. Wenn sie sich mit Rathan traf, wollte sie ein wenig Blut nehmen. Mit diesem würde sie hoffentlich Marel testen können.
Es dauerte nicht lange, da kam der fertig gesattelte Meloceros auch schon aus dem Stall, geführt von Kivan selbst. Irgendwie erklärte es nun doch einiges, dass sich das Tier nicht gern von anderen anfassen ließ, außer von Kivan. Zumindest schien es bisher so, als würden sich die beiden schon länger kennen.
Mit einem vielsagenden Blick legte der Stallbursche Lina die Züge in die Hand. „Braucht Ihr Hilfe beim Aufsteigen?", fragte Kivan höflich, doch Lina konnte das kaum merkliche Schmunzeln spüren, welches er versuchte zu unterdrücken.
Ihr Blick sprach Bände, bevor sie lächelte. „Das wäre sehr freundlich", antwortete sie, weil sie sich an Lateux' Worte erinnerte. Sie wollte ihm den Gefallen tun und sich helfen lassen, damit es nicht zu unangenehm wurde. Bevor sie jedoch aufstieg, klopfte sie ihm sanft die Flanke.
Der Hirsch brummte leise, während Kivan ihr mit einer Räuberleiter half, sich mit Schwung in den Sattel zu begeben. Sobald Lina sicher im Sattel saß, strich Kivan dem Hirsch nochmal über den Hals und flüsterte diesem ein: „Treib es nicht zu wild", zu.
Lina ließen diese Worte schmunzeln. „Wir sehen uns in ein paar Stunden wieder", sagte sie, auch wenn sie eigentlich nicht so große Lust hatte, wiederzukommen. Sie wollte viel lieber so weit wie möglich weg. Nur war das noch nicht möglich.
Sie konnte die verborgene Skepsis in Kivans Blick sehen, als sich Lateux mit ihr gemeinsam von den Stallungen abwandte und in einem langsamen Tempo zum Tor des Palasts ging. Es war offensichtlich, dass Kivan ihr noch nicht so wirklich vertraute, womöglich auch um Lateux' Offenheit auszugleichen. Der Gestaltwandler kannte Lina immerhin noch weniger und doch hatte er sich im Grunde sofort einverstanden erklärt.
Lina ließ sich davon nicht stören. Sie hatte nicht vor einen von beiden zu verletzen. „Ich bin in der Nähe der Wassermühle verabredet", erklärte Lina Lateux leise. „Ich bin sicher, dass er dich auch interessieren könnte."
„Bei der Wassermühle?", hallte Lateux' Stimme in Linas Kopf wider und klang irgendwie verwundert. „Ist lange her, dass ich da war."
„Ja. Ich kenne es, weil Kivan ja dort wohnt, daher habe ich einen Platz in der Nähe gewählt, um mich mit Rathan zu treffen", erklärte sie, da sie sich fast sicher war, dass Lateux diesen kannte. Ob dem jedoch so war, würde sie hoffentlich aus seiner Reaktion heraus feststellen können.
Lateux lief weiterhin ruhig, auch nachdem sie das Tor mit den Wachsen passierten. „Ja, ich kenne die Mühle. Als wir nach Windfall kamen, bin ich eine Weile mit Kivan dortgeblieben", erklärte Lateux wieder in ihren Gedanken. Irgendwie war es merkwürdig. Er als Hirsch bewegte weder sein Maul noch gab er andere Geräusche von sich. Für Lina war es etwas sehr Intimes, fühlte sich aber nicht falsch an. Es war wirklich, als würde er seine Worte genau an ihre Gedanken schicken.
Das war gut, denn so würde nicht direkt auffallen, dass sie sich unterhielten. Wahrscheinlich würde man Lina für verrückt halten, weil sie Selbstgespräche führte, doch das war ihr egal.
„Kennst du auch Rathan?", fragte sie leise murmelnd, weil sie sich mittlerweile in einer Gegend befanden, in der viele Leute waren.
„Hm ... Rathan ...", wiederholte Lateux nachdenklich den Namen, doch wirklich überzeugt schien er nicht. „Nie gehört. Sollte mir das ein Begriff sein?"
„Er ist eine Wache im Schloss und ... na ja ... dein Halbbruder", sagte sie mit einem belustigten Schmunzeln.
Eine Weile lang war es still in ihrem Kopf. Nur die Leute, die sich vor den Toren rumtrieben, füllten ihre Ohren mit wahllosen Stimmen und Gesprächen. Erst, als sich der Weg ein wenig lichtete und wieder den Pfad auf die Weiten der Felder freigab, meldete sich Lateux wieder. „Ich wünschte, ich wäre überrascht, aber im Endeffekt tut er mir nur leid."
„Ich enthalte mich in dieser Sache", murmelte Lina leise. Sie sah das Ganze immerhin ein wenig anders. „Aber er ist sehr neugierig, da er seinen Vater nicht kennt. Sei ihm deshalb nicht böse", flüsterte sie und tätschelte den Hirsch ein wenig.
Der Meloceros gab ein muhendes Brummen von sich und schüttelte leicht den Kopf, als würde ihn etwas irritieren. „Klingt anstrengend und naiv", erwiderte er und Lina konnte sich förmlich vorstellen, wie er wohl das Gesicht verziehen würde, wenn er als Mensch vor ihr stehen würde.
Das ließ sie leise lachen und sie tätschelte ihn noch einmal, bevor sie sich wieder richtig hinsetzte und versuchte ihm leicht zu führen. „Ich bin wirklich neugierig, wie ihr euch anstellt." Wie das erste Treffen wohl laufen würde?
Vermutlich würde Rathan erstmal einen halben Herzinfarkt erleiden, wenn er erfuhr, dass er mit einem Hirsch verwandt sein sollte. Doch so begeistert wie Lateux bereits jetzt wirkte, konnte es nur besser werden.
Sobald sie sich aus der Menge ein wenig entfernt hatten, nahm Lateux auch schon an Fahrt auf. Wirklich führen ließ er sich dabei nicht. Man könnte meinen, dass er sowas wie einen inneren Kompass besaß, was nicht unbedingt verwunderlich wäre, bedachte man seine tierischen Instinkte. Diesmal sprang er jedoch nicht in die Höhe, sondern blieb auf dem Boden und galoppierte in schnellen und großen Schritten über das saftige Grün der Landschaft. Bei der Wassermühle machte er jedoch einen großen Bogen. Vermutlich wollte er nicht die Aufmerksamkeit von Ravina und Maari auf sich ziehen.
Lina lachte. Es gefiel ihr sehr gut, so schnell zu reiten. Lateux war ein faszinierender Mann und ein interessantes Tier. Auf ihm zu reiten war befreiend und wenn es nach ihr ginge, würde sie gern noch viel länger so rennen. Allerdings waren sie bald da.
Seine Tempo verlangsamte sich rasch, während das gedämpfte Donnern seine Hufe auf dem Gras ruhiger wurde. „Ist er das, da hinten?", fragte Lateux und blickte gezielt in die Richtung des Waldrandes. Es war der gleiche Ort, an dem Kivan zuvor Beeren gesammelt hatte, doch erkennen konnte Lina nichts außer einem kleinen Punkt. Vermutlich besaß der Gestaltwandler wesentlich feinere Sinne als eine normale Magierin.
Lina kniff die Augen zusammen, um wenigsten eine Farbe zu erkennen, doch selbst das gelang ihr nicht so wirklich. „Keine Ahnung, ich sehe nichts", gestand sie und wartete, bis sie weiter dran waren. Es war tatsächlich Rathan.
In einer angenehmen Geschwindigkeit ritt Lateux auf den Halbstarken zu und hielt letztlich einige Schritte vor diesem an. Rathans Blick sagte eigentlich so ziemlich alles. Er wirkte nervös, unruhig, rastlos und irgendwie auch ungläubig, als würde er denken, dass Lina nun schon begann königliches Eigentum, wie den Meloceros, zu entwenden.
„Sicher, dass wir verwandt sind?", fragte Lateux skeptisch an Lina, ohne den Blick von Rathan abzuwenden.
Sie lachte leise, bevor sie vorsichtig von Lateux herunterrutschte und ihn noch einmal tätschelte.
„Rathan. Alles in Ordnung?", fragte sie als Begrüßung, da sie seine Nervosität sehen konnte.
„Ob alles in Ordnung ist, fragst du mich?", flüsterte er eindringlich zurück, als hätte er Mühe, überhaupt noch an sich zu halten. Erst jetzt als sie ihn genauer betrachtete, merkte sie, dass ihm bereits der Angstschweiß die Stirn hinablief. „Hast du noch nichts davon gehört, dass General Zaratus in einigen Tagen zu Besuch kommt?", fragte er eindringlich, als wäre Lina nun vollkommen verrückt geworden. Natürlich wurde bereits das gesamte Schloss informiert, weshalb auch Rathan davon wusste. In den Stallungen war das ganze jedoch wohl eher ein weniger gängiges Thema.
Lina verzog das Gesicht. „Ja. Darum will ich auch mit dir reden. Ich brauch etwas von deinem Blut, um einen Trank herzustellen, damit ich den Letzten testen kann", erklärte sie. „Sobald ich mir sicher bin, sollten wir tatsächlich langsam von hier verschwinden", bemerkte sie und hoffte, dass sich Rathan noch daran erinnerte, dass sie darüber schon einmal gesprochen hatten.
„Mein ... mein Blut?", wiederholte Rathan fragend und wurde ein wenig bleich bei der Vorstellung.
Lateux dagegen wandte sich derweil dem Wald zu und ging mit langsamen Schritten hinein. „Ich kenne einen ruhigen Ort, der sich dafür eignet. Folgt mir."
Lina deutete Rathan an, ihr und dem Meloceros zu folgen. „Komm mit", sagte sie mit einem Lächeln, das hoffentlich beruhigend wirkte. „Übrigens ist das hier Lateux", stellte sie erst einmal den Meloceros vor.
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