Kapitel 2/ 5 Der Psychather Rosso
Ich sah zur Tür und erkannte einen Mann in einem grauen Mantel. Er stand im Türrahmen und lächelte mich an.
Seine Haare waren schwarz und er sah für einen Vampir ziemlich füllig aus. Bei seiner Verwandlung musste er sehr dick gewesen sein.
„Guten Tag Signore Rosso!“, begrüßte ich ihn missbilligend. Ich mochte ihn nicht. Oder viel mehr mochte ich seine Arbeit nicht. Er war nämlich Arzt und Psychotherapeut und behandelte mich. Ich hatte mich lange dagegen gewehrt, aber Adam hatte mich schließlich überredet.
„Darf ich hereinkommen, Jasper?“, fragte er.
Ich nickte und Rosso betrat den Raum. Er schloss die Tür und sah auf den Fernseher.
„Würdest du das bitte ausschalten“, bat er mich.
Ohne ihm eine Antwort zu geben griff ich zur Fernbedienung und schaltete den Fernseher ab.
„Warum hast du das gerade getan?“, fragte Rosso und kam nun zu mir. Er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich mir gegenüber.
„Keine Ahnung!“, schnaubte ich patzig und drehte mich weg.
„Jasper!“, meinte Rosso, rückte den Stuhl nahe an mich heran und legte mir eine Hand auf die Schulter.
„Du weißt das Adam mich bezahlt, damit ich jede Woche komme. Er bezahlt mich dafür, dir zu helfen. Das werde ich auch tun, Jasper. Egal wie du das findest. Allerdings kann ich nur mit dir Arbeiten, wenn du mitmachst.“
„Warum sollte ich mitmachen? Es quält mich nur!“, schrie ich, „Ich bin so, wie ich bin. Und ich bin gut so.“
„Jasper! Deine Albträume, deinen beschränkten Fähigkeiten dich zu weigern, wenn du um irgendetwas gebeten wirst und deinem krankhaften Drang Befehle zu befolgen, muss entgegengewirkt werden. Das ist nicht normal. Willst du auf ewig wie ein dressierter Hund sofort vor jeden Männchen machen?“, argumentierte Rosso.
Ich sah ihn nur an und seufzte. So etwas Ähnliches hatte Adam auch gesagt. Er hatte es nur mit den Worten: „Du kannst nicht immer Sub sein“, ausgedrückt.
„Okay, was machen wir heute“, zeigte ich ihm ein bisschen Bereitschaft.
„Warum hast du den Fernseher ausgeschaltet?“, fragte er.
„Weil ihr es gesagt habt, Signore“, erwiderte ich wahrheitsgemäß.
„Jasper, dies hier ist dein Zimmer und der Fernseher gehört dir. Du hattest auch die Möglichkeit zu sagen, dass du die Sendung noch zu Ende schauen möchtest. Es wäre nicht unhöflich, sondern du setztest deinen Willen durch“, erklärte Rosso.
Ich dachte ein paar Sekunden nach und bemerkte, dass ich nicht mal die Möglichkeit in Betracht gezogen hatte, es nicht zu tun.
Adam fragte mich jedes Mal irgendwie, wenn er etwas von mir wollte, ob ich bereit dazu war. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass Rossos Worte eine Bitte und kein Befehl gewesen war.
„Okay, Jasper, würdest du dich bitte ausziehen“, gab Rosso neutral von sich. Es war keinerlei Betonung in dem Satz.
Wieder reagierte mein Körper sofort, ehe ich überhaupt nachdenken konnte und die Worte eingeschätzt hatte.
Ich zog das weiße T-Shirt mit dem Dackel über meinen Kopf.
Jahrelanges schnelles Handeln auf Befehle und Bitten hatte mich oft vor Schmerz bewahrt. Deswegen war es zu einer automatischen Reaktion meines Körpers und Gehirns geworden, sofort alles auszuführen, was man mir sagte, ohne es in Frage zu stellen.
Genau das wollte Rosso ändern.
Ich bemerkte erst, dass ich auch meine Hose ausgezogen hatte und die Hände gerade den Rand meiner Unterhose griffen, als Rosso laut Stopp rief.
„Was bin ich, Jasper?“, fragte er.
„Ein Arzt?“, antworte ich.
„Ja und was bin ich bezogen auf dein soziales Umfeld für dich?“, formulierte er seine Frage genauer.
„Ähhhm... Ein Besucher?“, fragte ich unsicher nach.
„Ja, so ähnlich. Ich bin ein Fremder Jasper. Du kennst mich nur flüchtig. Man zieht sich nicht vor einem Fremden aus, wenn man es nicht will. Auch dann nicht, wenn dieser einen darum bittet. Du weißt, dass ich dich jedes Mal auf Wunden untersuche. Deshalb wusstest du eigentlich, dass ich nur deinen Oberkörper unbekleidet brauche. Meine Worte haben nicht bedeutet, dass du dich komplett ausziehen sollst. Du musst lernen die Situation und die Worte abzuwägen, bevor du handelst“,
Ich hörte ihm zu und nickte nur. Doch ich hatte keine Ahnung, wie ich meinem Körper sagen sollte, den Befehl nicht auszuführen. Besonders dann nicht, wenn die Panik einsetzte und ich Angst hatte, bestraft zu werden.
„Ziehe bitte deine Hose wieder an, Jasper. Aber sage mir erst, ob du es möchtest“, meinte Rosso.
Was sollte das jetzt werden?
„Ich bin gerne nackt vor ihnen, Signore“, antwortete ich wahrheitsgemäß. Ich hatte kein richtiges Schamgefühl, was meine Nacktheit anging, da es oft ein normaler Zustand in Rayns Obhut gewesen war. Nur wenn es rausging, hatte ich mich strikt an die Regel: „Anziehen!“ gehalten. Dies war mein Zimmer, also war es nicht draußen. Ich konnte hier herumlaufen, wie ich wollte.
„Jasper es wäre aber angenehmer für mich, nicht deine Unterhose sehen zu müssen“, teilte mir Rosso mit und sank erschöpft auf mein Bett. Ich zog derweil meine Hose wieder an und dachte darüber nach. Er hatte recht. Ich konnte mich doch nicht vor jedem ausziehen.
„Gut, Jasper. Bitte stell dich in die Mitte des Raumes“, befahl mir Rosso.
Ist es ein Befehl?
Rayn hatte, wenn wir in der Öffentlichkeit waren, auch immer Bitte gesagt und so lediglich einen Befehl getarnt, um nicht als Dom oder Herr eines Lustsklaven entlarvt zu werden.
Ich tat, was Rosso von mir wollte und der Arzt begann mich zu untersuchen.
„Was ist mit dem blauen Fleck auf deiner Schulter?“, fragte er hart.
„Ich habe mich am Schrank gestoßen“, sagte ich.
„Du bist nicht mit Absicht dagegen gelaufen?“, hakte er misstrauisch nach.
„Nein, Signore. Wenn ich Schmerz spüren will, ärgere ich meinen Meister und hole mir eine Strafe ab“, erzählte ich ganz ungeniert über meine BDSM-Beziehung.
Rosso erwidert nichts. Er ist ebenso ein Dom. Das war auch der Hauptgrund, warum Adam ihn, unter den infrage kommenden Ärzten, auswählte. Er konnte die Blessuren eines Spiels von echten Rückständen realer Gewalt unterscheiden.
Rosso musterte meinen Rücken und tat so, als ob er die Peitschenhiebe vom letzten Spiel mit Adam übersehen würde. Dann widmete er sich meinen Armen.
Er tastete erst den rechten und dann linken Arm langsam ab.
Dann drehte er meine linke Hand und betrachtete mein Handgelenk.
„Gut, die sind alt!“, quittierte er die Narben auf meinem Arm. Dann wollte er nach meinem rechten Arm greifen und ich versteckte ihn hinter meinem Rücken.
Ich dachte, er würde ihn mal vergessen. Trotz, dass ich Rechtshänder bin, habe ich angefangen mit der linken Hand zu üben. Jetzt bekam ich akzeptable Schnitte auch mit der linken Hand hin.
„Jasper!“, fauchte Rosso mich an.
„Ja!“, meinte ich unschuldig und sah ihn mit meinem Hundeblick an.
„Warum gibst du mir nicht deinen rechten Arm? Verheimlichst du etwas?“, fragte er mich.
„Nein, Signore!“, meinte ich und versuchte meine Stimme fest klingen zu lassen. Aber sie zitterte.
Rosso gab keinen Ton von sich und griff übermenschlich schnell nach meinem Arm. Er zog ihn nach vorne und starrte entsetzt auf die vier Schnitte oberhalb meines Unterarms.
Ich hätte Lorenzo bitten sollen mir ein wenig Spucke von sich zu geben.
So verheimlichte ich sonst, dass ich mich selbst verletzte.
„Jasper! Weiß Adam, dass du dich wieder ritzt?“, fauchte Rosso in knurrendem Tonfall.
„Nein! Bitte er soll es nicht wissen. Ich habe das unter Kontrolle“, bettelte ich mit Panik in der Stimme.
Adam würde mir wieder Bodyguards besorgen, um mich immer überwachen zu lassen.
„Das hast du schon mal gesagt. Sechs Wochen später fand dich Lorenzo halbtot in der Wanne und du sagtest ihm, du wolltest verbluten“, erinnerte er mich an meinen sechsten und bisher letzten Suizidversuch.
„Bitte! Ich weiß, dass es weh tut, mich leiden zu sehen“, bat ich ihn.
„Ja, es tut weh. Es tut Adam schrecklich weh. Dein Meister sorgt sich um dich und scheinbar mit Recht. Du kannst nicht vor deiner Vergangenheit davonlaufen, indem du stirbst. Das ist keine Lösung. Genauso wenig hältst du deine Albträume auf Abstand, wenn du dir vorher Schmerz zufügst. Jasper, du bist zwar Masochist, aber diese Art Schmerz ist Leid, kein Lustschmerz. Es hat nichts mit BDSM zu tun, wenn du dich selbst verletzt, außer du tust es, um einen Orgasmus zu haben, was bei dir nicht der Fall ist. Bitte lass es sein!
Der Schmerz betäubt deine Gefühle von Hilflosigkeit und Angst nur kurzzeitig. Du zerstörst nur deinen Körper. Damit dir das endlich bewusst wird, werde ich mit Graf Lorenzo Drago über dein selbstverletzendes Verhalten sprechen. Dann kommst du nicht mehr an Spucke, um dich zu heilen. Dann kannst du endlich sehen, was du deinem Körper antust“, erklärte Rosso mit Nachdruck.
Ich sah ihn an und erwiderte: „Ich werde es nicht mehr tun.“
Doch ich sagte es nur so. Ich brauchte es und ich musste es tun.
Es hielt Rayn von mir fern.
„Jasper! Das muss aufhören. Ich will nicht mehr, dass du mich anlügst. Ich muss genau wissen, wo deine Verletzungen herkommen, damit ich weiß, wie ich dir helfen kann. Zu diesem Zweck habe ich mit Adam besprochen, dass du mir eine Erklärung zum 'Gesetz zur freien Verfügung der Persönlichkeits- und Gedankengutsrechte' unterzeichnest. Du erlaubst mir quasi straffrei in deine Gedanken einzudringen“, erklärte mir Rosso.
„Nein!“, schrie ich panisch auf und sprang vom Bett auf.
„Niemand außer Adam kommt in meinen Kopf!! Ich bin kein offenes Buch! Nie wieder!!“, schrie ich laut. Rosso starrte mich an und schien nachzudenken.
Ich zitterte am ganzen Körper. Endlich konnte ich etwas verheimlichen. Endlich gehörten meine Gedanken nur mir. Vor 15 Jahren war dies anders gewesen. Rayn und auch alle anderen in seiner „la Familia“ hatten jederzeit einfach meine Gedanken gelesen. Sie hatten mich geärgert und bestraft, wenn ich etwas Beleidigendes über einen von ihnen gedacht hatte. Ich hatte daraufhin gelernt, meinen Schutz aufzubauen. Es war ein Goethe Gedicht aus der Walpurgisnacht, dass ich jedes Mal gedanklich rezitierte, um einfach nichts Relevantes denken zu müssen. Diese Angewohnheit hatte ich nicht vollständig abgelegt. Adam musste mir Anfangs immer wieder auf meine Frage, ob er gerade meine Gedanken las, antworten. Bis er mir eines Tages gesagt hatte, dass es strafbar war, die Gedanken eines anderen Vampirs oder Kindes der Nacht zu lesen. Ein Vampir durfte dies bei Menschen einsetzten, aber wenn er es bei einem Vampir oder Halbvampir tat, braucht er die Erlaubnis von diesem. Ansonsten konnte das Opfer ihn anzeigen und er hatte fünf Jahre Gefängnis zu erwarten. Die Erinnerung und die Gefühle der absoluten Hilflosigkeit, dass ich nur noch eine Marionette war, die nichts für sich hatte, überfielen mich in diesem Moment. Das Gefühl keinerlei Selbstbestimmung zu haben, war wieder so stark, wie seit langem nicht mehr.
Ich sank auf die Knie und presste meine Hände auf mein Gesicht. Ich wollte jetzt nicht weinen. Aber Tränen ließen sich nun mal nicht befehligen.
Ich unterdrückte meine Schluchzer, aber das heftige Zittern konnte ich nicht unterdrücken.
Dann spürte ich eine Hand, die sanft meine Schulter streichelte.
Ich konnte es nicht. Ich wollte nie wieder zulassen, dass man mir meine Gedanken wegnahm; dass ich nicht mehr denken konnte, was ich wollte. Es war so, so anstrengend, sie zu verheimlichen.
„Jasper!“, drang Rossos Stimme an mein Ohr.
„Ich will nicht! Bitte kommen Sie nicht in meinen Kopf! Ich will das nicht mehr“, flüsterte ich mit zittriger Stimme und schluchzte unkontrolliert.
„Jasper! Ich werde nichts tun, was du nicht möchtest. Ich werde deine Gedanken nicht lesen“, versuchte er mich zu beruhigen.
Ich reagierte nicht, weil ich damit beschäftigt war mit dem Heulen aufzuhören.
„Du musst mir keine Erlaubnis dafür erteilen, Jasper. Wir haben zweimal die Woche zwei Sitzungen. Wie wäre es, wenn Adam in der zweiten Sitzung dabei wäre? Er merkt auch anhand deiner Reaktionen, ob du lügst. Was ich nicht kann, weil ich dich nicht kenne. Adam wird deine Gedanken lesen und mir mitteilen, wenn du etwas wirklich Wichtiges verschweigst. Ist das in Ordnung?“, eröffnete mir der Arzt eine Lösung.
Ich hob den Kopf, aber konnte ihn durch den Tränenschleier kaum erkennen. Rosso gab mir ein Taschentuch und ich fühlte mich irgendwie wie ein Sechsjähriger, der um ein Stück Schokolade geweint hatte und dieses gereicht bekommt.
Langsam wischte ich mir die Augen trocken und putzte mir die Nase.
„Ich bin einverstanden, dass Adam das übernimmt und er bei einer Sitzung dabei ist“, sagte ich schwach. Die Heulerei war sehr kräftezehrend.
„Ist alles okay?“, fragte der Psychotherapeut mich.
Ich nickte und stand auf. Doch dabei wankte ich so stark, dass Rosso mich festhalten musste.
Rosso drückte mich auf mein Bett und sah mich ernst an.
„Hör mir jetzt zu. Auch, wenn du dich gerade mies fühlst, ist meine Stunde nun um. Ich habe noch andere Patienten. Aber ich möchte, dass du dir bewusst machst, dass deine Gefühle, die du gerade hast, auf alten Begebenheiten basieren. Du wirst nichts von dem jetzt erleben. Du musst nichts von dem in der Zukunft befürchten. Dein Körper braucht jetzt Ruhe. Es ist besser, wenn du nun schläfst, Jasper. Dann kann dein Körper und auch deine Seele sich erholen“, riet mir Rosso.
Er sah mir fest in die Augen. Es war kein weiß darin zu sehen. Sie waren nur goldbraun.
„Ja, ich habe verstanden, dass es alte Gefühle sind. Ich bin hier sicher“, sagte ich.
Rosso wandte sich nun ab und nahm seine Tasche. Er ging zur Tür.
Dort angekommen hielt er inne und drehte sich noch einmal um.
„Muss ich befürchten, dass du jetzt ins Bad rennst und deine Pulsadern malträtierst?“, fragte er direkt. Das mag ich an ihm. Er redet nicht um den heißen Brei herum, fragt direkt nach und verschönert es nicht.
„Nein, Signore Rosso. Ich werde nicht versuchen mich umzubringen. Das habe ich Adam versprochen und mein Versprechen halte ich“, sagte ich mit fester Stimme, obwohl ich innerlich zitterte.
„Gut, dann buona sera, Jasper!“, verabschiedete sich Rosso und ging durch die Tür. Diese schloss sich wieder und ich seufzte erleichtert auf. Es war wieder mal überstanden.
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