Blau




Und jetzt bin ich hier. Ganz plötzlich. Ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern wie ich hergekommen bin, ich stehe einfach hier. Hier am Rand der Steilklippen, an deren unteren Teil, ungefähr 12 Meter unter mir, die Wellen gegen den Fels donnern, ihre weiße Gischt für Sekunden dort hinterlassen und sich dann wieder ganz plötzlich zurückziehen. Täuschend. Wie als hätten sie den Kampf gegen den Stein aufgegeben, doch sie kommen wieder. Heimlich. Sie türmen sich im Stillen auf, bauen eine solche Energie auf und schießen so plötzlich wieder nach vorn, wie sie sich zurückgezogen haben. Erschreckend, wild und unglaublich stark.

Ich fühle mich leer.

Mit Dad war ich früher oft hier gewesen. Meistens haben wir auf den Sonnenuntergang gewartet und dann staunend beobachtet, wie sie als glühender Feuerball förmlich vom Meer verschluckt wurde. Dies waren die schönsten Momente, die schönsten Erinnerungen. Mein Vater sah so jung aus, so unbekümmert, wenn er hier war. Doch jetzt war es aus zweierlei Gründen zu spät dafür. Erstens, war die Sonne schon vor ungefähr vier Stunden im Meer versunken und zweitens war Dad jetzt tot. Vor vier Wochen hatte seine Seele den Körper verlassen und war, laut meiner Mutter, in den Himmel aufgestiegen. Das glaube ich nicht. Ich glaube weder an Gott, noch an ein Leben nach dem Tod. Die Tatsache, das wir auf einem Gas bedeckten Planeten leben, der um einen nuklearen Feuerball, ungefähr 90 Millionen Meilen entfernt, rotiert, und wir das als normal empfinden zeigt, dass es so etwas wie einen Gott wohl kaum geben kann. Aber das ist nicht der Grund, warum ich hier bin. Ich bin hier, weil Dad tot ist, und dass ist alles meine Schuld. Es ist meiner Verantwortungslosigkeit zu verdanken, dass er nicht mehr bei uns ist. Sie ist eine meiner größten Schwächen. Habe ich überhaupt Stärken? Ich weiß es nicht. Die Selbstzweifel nagen an mir und ich kann sie nicht ablegen. Es zerreißt mich.

Die Vorstellung irgendwann einmal Kinder zu haben und die Sicherheit ihnen keine gute Mutter sein zu können, ist schrecklich. Ich will nicht noch mehr Menschen verletzen.

Der letzte Monat war die reine Hölle, würde ich daran glauben. Jede Nacht sah ich ihn vor mir. Wie er mich ansah. Vorwurfsvoll. Ich konnte sehen wie das Leben aus seinen Augen wich. Ich konnte sehen wie er den Kampf verlor, sich dem Tode übergab. In diesen Momenten schien alles was ich je zuvor gefühlt hatte falsch, oberflächlich und unglaublich dumm.

Meine Lungen brennen. Ein Wassertropfen landet auf meiner kalten Haut. Er war ein Teil der Welle, der explosiven, starken Welle. Und dieser Tropfen erinnert mich. Er lässt all meine Erinnerungen und Gefühle für einen Moment wieder hochkochen, und mir wird die Schwere meiner Schuld wieder bewusst. Sie lastet auf meinen Schultern, erdrückt mich.

Mein ganzer Körper zittert vor Kälte.

Der nächste Tropfen. Ohne, dass ich mich überhaupt noch an diesen Tag erinnern kann, erscheinen plötzlich Bilder vor meinem inneren Auge. Ich und mein Vater, vor ungefähr 9 Jahren. Er hatte mich am Wochenende einfach ins Auto gesetzt und war mit mir in die Berge gefahren. Wir mussten etwa vier Stunden laufen, bis wir an einem Bergsee kamen, der so blau war, wie die Farbe seiner Augen.

Ein Blau das mir immer noch, vier Wochen später, jede Nacht in meinen Träumen begegnet.

Kalter Schweiß läuft mir den Rücken herunter und ich erschaudere.

Weitere Tropfen treffen mein Gesicht, meine Hände. Meine Hände, mit denen ich immer gezeichnet hatte. Mit ihm.

Seine Portraits waren voller Liebe, Leidenschaft und Emotion, so wie alles was er tat. Meine Skizzen dagegen sahen aus wie die Zeichnungen eines Kindes. Stumpf und oberflächlich.

Er malte oft mich und meine Mum, wie wir lachten, glücklich waren. Jetzt war keiner von uns mehr glücklich. Seit 4 Wochen hatte sich eine unendliche schwarze Leere in uns ausgebreitet. Ein Loch in das ich immer mehr zu versinken schien.

Es fängt an zu nieseln. Zu viele Erinnerungen, zu viel Trauer. Alles stürzt auf mich ein.

Die Emotionen drohen mich zu überwältigen, doch ich halte stand. Noch.

Meine Sneakers sind völlig durchnässt, mein Brustkorb zugeschnürt, mein Atem geht flach. Der Regen wird heftiger, ebenso wie mein Wille das hier alles zu beenden. Meine Gefühle drohen mich zu überwältigen, sie bauen sich auf, wie die Wellen unter mir. Ich lasse nach, merke nicht mal wie ich nach vorne falle. Das letzte was ich spüre sind die kalten schweren Regentropfen auf meiner Haut, wie sie auf mich einschlagen, mich die Schwere meiner Schuld nur allzu deutlich spüren lassen.

Die kalte, dunkle See schließt ihre Arme um mich, nimmt mich mit in ein neues, ungewisses Land, heißt mich willkommen im tröstenden Dunkel seiner selbst.

Alle Gefühle für die ich keine Worte gefunden hatte, denen keine Worte gerecht geworden waren, strömen nun aus meinem kaputten Inneren und vermischen sich lautlos mit der Gischt des Wassers.

Weg mit ihnen,

weg mit mir.

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