83. Kapitel
Konstantin Gregorovich brauchte zum ersten Mal seit langem wieder einen kurzen Moment, um zu realisieren, was gerade passierte.
Normalerweise war sein Gehirn das schnellste. Er dachte mit, dachte schnell, handelte schnell. Er war keine Person, die immer etwas länger brauchte, um Sachen zu verstehen und langsame Menschen nervten ihn. Er arbeitete schnell und akzeptierte es ungern, wenn andere langsamer dachten oder handelten, als er selbst. Am liebsten war ihm diese unausgesprochene Synchronisation mit seiner Schwester. Liza schien immer genau zu wissen, was er als nächstes tun würde.
Aber in diesem Moment ärgerte Konstantin sich, weil er tatsächlich einen Moment brauchte, um nachzudenken. Nicht, dass es wirklich aufgefallen wäre, denn auch die anderen Auroren, die immer etwas langsamer waren, waren noch keinen Schritt weiter gekommen, als er, aber Konstantin selbst ärgerte sich über sich selbst.
Es war nicht die Grausamkeit, die ihn erwarten würde. Er wusste, was ihn erwarten würde. Zwei Tote, das Dunkle Mal über dem Haus, ein zerstörtes Haus im Inneren. Eigentlich lagen alle Karten aufgedeckt vor ihm und normalerweise wäre Konstantin einfach über die Leichen gestiegen, hätte sich umgeschaut und wäre zu demselben Schluss gekommen, wie seine Vorgesetzten: Es waren Todesser gewesen und wenn sie auch nur die Chance hatten, die Verantwortlichen zu fassen, wären sie schon längst in Askaban.
Aber es war Routine, dass Auroren sich noch einmal den Tatort ansahen und alles besichtigen, obwohl die Antworten, die sie bekommen würden, schon vorhanden waren.
Aber genau das war es, was Konstantin stocken ließ. Es war Routine.
Wann war es zur Routine geworden, dass Auroren ein Haus mit Leichen betrat? Wann war es für ihn normal geworden, dass er Tote sah und wusste, es waren Todesser gewesen? Wann war es für ihn Routine geworden, die Leichen kaum zu beachten und einfach über sie zu steigen, als wären sie nie Menschen gewesen?
War es gewesen, bevor Sirius gestorben war oder erst danach?
Dann gab es noch weitere Fragen, die Konstantin für sich selbst klären musste – wenn es erst nach Sirius' Tod gewesen war, war diese Kälte mit diesem Verlust gekommen oder war sie schon immer in Konstantin vorhanden gewesen und nur die Routine, die sich eingebürgert hatte, hatte ihn so gleichgültig werden lassen?
Konstantin hatte keine Antworten dafür und das ärgerte ihn. Er hasste es, wenn er eine Antwort nicht kannte. Er hasste es, wenn er keine Informationen bekam oder schon hatte und alles erst erfuhr, wenn es schon zu spät war.
Andererseits war er Konstantin Gregorovich und er war in der Lage, seine eigenen Zerrüttungen in seinem Inneren erst einmal ganz weit nach hinten in seinen Gedanken zu schieben und sich auf das konzentrieren, das vor ihn lag – ein Haus mit einem Dunklen Mal darüber mit zwei Leichen darin.
Und Konstantin bemerkte selbst, wie er mit diesen Gedanken auch seine Gefühle ausschaltete und ohne jegliche Trauer oder Schrecken das Haus betrat, als würde er keinen Mord untersuchen, sondern einen einfachen Diebstahl oder noch etwas Unwichtigeres.
„Wir sollten rein, Dawlish", schlug Konstantin seinem Vorgesetzten in diesem Fall vor.
Dawlish führte das Kommando aus drei Auroren an. Wäre es ein anderer Fall gewesen, dann wären mehr Auroren gekommen, aber in diesem Fall (wie in so vielen anderen auch) wussten die Auroren, dass eigentlich keine Gefahr mehr bestand und sie musste nur aus Routine kommen.
Neben Dawlish war auch noch Tonks dabei.
Konstantin kannte Tonks schon unglaublich lange. Die jüngere Aurorin hatte häufig bei ihnen zu Hause übernachtet, war zu Besuch gekommen und irgendwie war sie doch Familie geworden, nachdem sie die beste Freundin seiner Schwester war. Es war vollkommen normal geworden, Tonks zu sehen. Nur war es lange Zeit nicht normal gewesen, Tonks mit normalen Haaren zu sehen. Doch seit Remus Lupin sie abgewiesen hatte (wie Konstantin wusste), war Tonks verändert. Ruhiger, erwachsener und außerdem hatte sie ihre beinahe einzigartige Fähigkeit verloren, ihr Aussehen mit einem Gedanken zu verändern. Nun waren ihre Haare mausbraun und im Gegensatz zu früher einfach nur farblos, als wäre alles an Tonks farblos und trostlos geworden.
Auch sie schien es nicht zu interessieren, dass im Haus Leichen waren. Ihr Blick war genauso kühl und gleichgültig, wie der von Konstantin.
Dawlish war damit also der einzige anwesende Auror mit menschlichen Gefühlen.
„Wir halten uns an das Protokoll", schnauzte Dawlish Konstantin wenig freundlich an, „Zuerst vergewissern wir uns, dass der Täter nicht mehr hier ist."
„Ich bezweifle, dass noch irgendjemand hier ist", bemerkte Tonks trocken, „Außer natürlich, wir zählen die Travis' dazu. Zählen Leichen als Personen – dann sollten wir aufpassen."
„Jetzt ist nicht der Moment für Scherze", schnauzte Dawlish auch sie unfreundlich an, obwohl Tonks das überhaupt nicht als Scherz gemeint hatte – es war ihr voller Ernst gewesen. Schwarzer Humor war eine neue Fähigkeit, die sie sich statt dem Metamorphmagus-Sein zugelegt hatte.
Konstantin seufzte und zückte seinen Zauberstab. Es dauerte eigentlich nicht lange, die vorgeschriebenen Sicherheitszauber zu verüben. Es war Routine geworden, schon bevor Sirius gestorben war und wenn man etwas oft genug machte, wurde man auch schneller darin.
Mit stummen Zaubern kontrollierte Konstantin, ob sich noch lebende Personen im Haus aufhielten, in der Nähe waren oder ob irgendwelche schwarzmagischen Fallen aufgestellt worden waren.
Es dauerte vielleicht fünf Minuten, aber für Konstantin war es eine Routine, die er lieber manchmal ausfallen ließ.
„Nichts", bemerkte er trocken, „Es ist sicher. Gehen wir jetzt hinein?"
„Wen werden wir drinnen vorfinden?", fragte Dawlish – eine Frage, die ebenfalls vorgeschrieben war. So gingen sie sicher, dass jeder dieselben Informationen hatte, wie bei einer Operation in der Muggel-Welt.
„Augenzeugen haben berichtet, dass in diesem Haus zurzeit nur Lydia und Henry Travis leben", seufzte Tonks, ebenfalls genervt von dieser Routine, „Sie haben eine achtzehnjährige Tochter – Leanne Travis, die zurzeit aber sicher in Hogwarts ist."
Verdammt, dachte sich Konstantin. Leanne Travis... diesen Namen kannte er. Hatte nicht Tia Fuego ihn einmal erwähnt. Bestimmt waren sie Freunde. Und jetzt waren die Eltern ihrer Freundin tot. So wie viele andere auch. Also war das Konstantin bis zu einem gewissen Grad egal, er hatte später noch Zeit, sich um diese Gefühle zu kümmern. Teilweise fand er sie schon ziemlich nervig.
„Und beide sind Betroffene?", fragte Dawlish nach.
Betroffene... nicht Leichen oder Tote. Betroffenehatten aber noch die Chance, am Leben zu sein... Leichen und Tote waren das selten. Und genau das würde sie doch im Inneren erwarten, oder nicht? Es war naiv, wie Konstantin glaubte, zu denken, dass Todesser Lebende zurücklassen würde. Das wäre dann mehr Glück, als Verstand und bisher (bei den vielen Einsätzen davor), war das ja auch nie der Fall gewesen.
Aber Konstantin sagte nichts dazu. Immerhin war Dawlish einer, der sich immer an die Vorschriften hielt und die psychologischen Vorschriften in solchen Fällen war es immer, davon auszugehen, dass es Lebende gab, die so schnell wie möglich ins St. Mungos mussten.
Wenn man schon von Anfang an nicht daran glaubte, dass noch jemand leben könnte, dann untersuchte man die vermeidlichen Leichen nicht genauer und die Betroffenen könnten sterben, obwohl Hilfe schon angekommen war.
„Ja, wahrscheinlich", beantwortete Konstantin die Frage, „Beide sind diesen Morgen schon als vermisst gemeldet worden und man hat beobachtet, wie die Nachbarn berichtet haben, dass beide von ihnen das Haus betreten, aber nicht mehr verlassen haben."
„Es besteht also die Möglichkeit, dass einer von beiden das Haus per apparieren wieder verlassen hat und sich versteckt", meinte Dawlish.
Konstantin verdrehte die Augen, ohne dass sein derzeitiger Vorgesetzter es sehen konnte. Natürlich war das möglich, aber unwahrscheinlich. Die Todesser hätten dafür gesorgt, dass es keine Augenzeugen gab und niemand lebend davonkam.
„Dann betreten wir jetzt das Haus", beschloss Dawlish und sowohl Konstantin, als auch Tonks schienen erleichtert über diese Entscheidung zu sein. Je schneller sie dieses Haus betraten, desto schnell brachten sie es auch hinter sich und konnte sich wieder weniger endgültigen Dingen zuwenden.
Sie betraten mit gezückten Zauberstäben das Haus, obwohl Konstantin nicht das Gefühl hatte, als müsste er irgendeinen Angriff erwarten. Dawlish sollte sich da wohl eher Sorgen machen, wenn er weiterhin so vorsichtig und langsam vorging, denn sowohl Tonks, als auch Konstantin waren mit ihrer Geduld am Ende und es brauchte nicht mehr viel, um sie zu reizen.
Die Tür war nicht versperrt. Vielleicht waren Mr und Mrs Travis sich sicher gewesen, dass so etwas, wie letzte Nacht nicht passieren würde. Vielleicht lag es auch nur daran, dass man die Tür gar nicht mehr verschließen konnte, nachdem sie mehr oder weniger aus den Angeln gesprengt worden war und nur noch an einer Angel schief im Türrahmen hing.
Konstantin war nicht überrascht, als er drinnen vom Chaos begrüßt wurde. Es schien wohl eine Aufgabe der Todesser gewesen zu sein, jedes einzelne Möbelstück zu zerstören und in die Luft zu sprengen. Das machten sie manchmal (meistens, wenn einer der labileren unter ihnen dabei war (wie Agnolia oder Bellatrix)), aber manchmal überlebte die Möblierung auch solche Angriffe. In diesem Fall wohl eher nicht. Konstantin fragte sich, ob die Todesser das einfach nebenbei auf dem Weg zu ihren Opfern machten, oder ob sie nach den Morden sich noch einmal Zeit nahmen, alles zu zerstören.
Konstantin stieg über eine zerstückelte Kommode und rümpfte die Nase. Er hasste Unordnung.
Dawlish und Tonks waren direkt vor ihm und bei jeder Tür schauten sie sich erst um, um sicher zu gehen, dass niemand da war, aber Konstantin hatte mit Zauber schon herausgefunden, dass niemand da war.
Als Tonks vor ihm über eine umgefallene Lampe steigen wollte, stolperte sie über den Teppich, der nur etwas angebrannt am Boden lag und fiel beinahe nach vorne genau auf Dawlish, aber Konstantin packte sie schnell am Umhang und zog sie zurück. Sie beide blickten zu Dawlish, der aber zu beschäftigt war, um das mitbekommen zu haben und sie tauschten amüsierte Blicke aus und musste beide sogar beinahe zu lachen anfangen, was Dawlish überhaupt nicht gutgeheißen hätte, aber sie rissen sich zusammen.
„Hier sind sie", rief Dawlish ihnen zu, als er in einen der Räume blickte und sofort verschwand dieser winzige Moment, der an frühere Zeiten erinnerte und die beiden Auroren folgten dem dritten.
Es schien einmal ein Wohnzimmer gewesen zu sein. Eine zerfetzte Couch stand umgekippt gegen eine Wand gelehnt und darauf waren die Splitter des Holztisches, der bestimmt schon alt gewesen war.
Mr und Mrs Travis lagen beinahe nebeneinander, als wären sie Hand in Hand gestorben.
Beide hatten im Ministerium gearbeitet – in führenden Positionen. Das war dann wohl auch der Grund, warum sie gestorben waren, wie Konstantin vermutete, aber eigentlich war das nicht wichtig. Wichtig war nur, dass so ziemlich jeder, der im Moment kein Todesser war, in Gefahr war, also machte es auch keinen Unterschied, warum jemand starb.
Lydia Travis wirkte friedlich. Konstantin hatte sie ein oder zweimal im Ministerium gesehen und immer hatte sie gestresst ausgesehen mit Falten auf der Stirn, die sich auch eingebrannt hatten in ihre Haut. Jetzt waren alle Falten wie weggezaubert und wäre sie nicht so bleich gewesen, hätte man denken können, sie würde nur schlafen.
Henry Travis lag am Bauch, mit einem Arm über Lydia, als hätte er versucht, ihre Leiche mit seinem Körper abzuschirmen. Wahrscheinlich war er in dieser Position auch von einem tödlichen Zauber getroffen worden. Auch er wirkte friedlich mit seiner Frau vereint. Wenigstens waren sie wohl schnell gestorben und nicht unter Schmerzen – solche Leichen sahen dann anders aus, wie Konstantin wusste (sie lagen dann in anderen Positionen da und der Schmerz kurz vor dem Tod schien sich immer in die Gesichter der Toten einzubrennen).
„Protokoll ausführen", befahl Dawlish steif und Tonks und Konstantin machten sich an die Arbeit.
Zuerst rollten sie zusammen sanft Mr Travis auf den Rücken und dabei fiel etwas aus seiner Hand, das Tonks behutsam aufhob und ansah, während Konstantin schon mit den Zaubern begann.
Beide Toten hatten die Augen geschlossen, als hätten sie den Tod begrüßt und erwartet, sodass sie so aussahen, als würden sie schlafen.
Es gab Zauber, um festzustellen, ob jemand wirklich tot war. Es war kein schwieriger Zauber, aber nicht viele kannten ihn. Er gehörte aber zur Grundausbildung von jedem Auror und Heiler. Selbst, wenn kein Puls zu spüren war und keine Atmung feststellbar war, so gab es noch diesen Zauber, um festzustellen, ob eine Person wirklich tot war, oder ob nur menschliches Versagen an der Toderklärung schuld war.
In früheren Zeiten war so häufig verhindert worden, dass Menschen lebendig begraben worden waren, als die Muggel-Medizin noch nicht so fortgeschritten gewesen war, aber mittlerweile vertraute Konstantin auf beide Methoden. Aber das Protokoll besagte, dass man diesen Zauber an jedem Betroffenen anwenden musste.
Die Zauber ergaben das, was Konstantin schon vermutet hatte – Mr und Mrs Travis waren tot.
„Sie sind– was ist los?", fragte Konstantin an Tonks gerichtet, die noch immer auf das starrte, was Mr Travis aus der Hand gefallen war. Es war ein eingerahmtes Foto, wie Konstantin erkannte und wortlos reichte Tonks es an Konstantin weiter.
Es war ein Familienfoto. Mr und Mrs Travis waren abgebildet und Konstantin fiel auf, dass sie auch auf diesem Foto nicht so gestresst aussahen, wie immer im Ministerium, wie Konstantin sie kennengelernt hatte.
In ihrer Mitte war ein Mädchen, vielleicht fünfzehn oder sechzehn Jahre alt. Sie hatte die blonden Haare ihrer Mutter und sah eigentlich allgemein wie eine jüngere Version ihrer Mutter aus. Alle drei grinsten in die Kamera und winkten – das Bild bewegte sich, wie bei Zauberer-Bildern üblich.
Konstantin erlaubte sich einen kurzen Moment der Sentimentalität. Jemand würde heute noch diesem Mädchen auf dem Bild erzählen, dass ihre Eltern tot waren und sie nicht mehr nach Hause konnte, solange es noch Tatort war und so zerstört.
Ihr Name war Leanne, wie Konstantin sich erinnerte. Sie konnte heute nicht viel älter sein, als zu dem Zeitpunkt des Fotos. So ein Erlebnis konnte Menschen verändern – er selbst hatte das an sich beobachten können.
„Dawlish", rief Konstantin den Vorgesetzten zu sich, der sich in der Zwischenzeit genau im Raum umgesehen hatte und (wie Konstantin vermutete) vermieden hatte, auf die Leichen zu sehen, die Konstantin und Tonks untersuchten, „Sie sind tot."
„Wir sollten das an die Zentrale weiterleiten", meinte Tonks und ihr Ton war wieder emotionslos, „Unsere Arbeit hier ist getan."
Erst, als Konstantin am Abend nach Hause kam, ließ er zu, den Tag noch einmal revoir passieren zu lassen.
Er war allein. Liza war noch im Krankenhaus (wie immer). Die Wohnung war dunkel und einsam. Konstantin fiel auf, wie spartanisch seine Wohnung eingerichtet war, im Gegensatz zu der der Travis'. Als würde er gar nicht darin leben. Und doch war das Haus der Travis' zerstört worden und seins nicht.
Die Travis' waren tot und hinterließen eine Waise. Leanne Travis war jetzt wohl allein.
All die Gefühle, die Konstantin den ganzen Tag über ausgesperrt hatte, brachen auf einen Schlag auf ihn ein und überrumpelten ihn wie eine riesige Welle, die alles ertränken wollte und für einen Moment lang dachte Konstantin wirklich, er wäre unter Wasser – er bekam keine Luft mehr.
Seine Knie gaben nach und er fiel einfach auf den Boden.
Was war aus ihm passiert? Wann war das alles Routine geworden? Wann war er so kalt und gefühlslos geworden, dass er sich selbst vor sich ekelte?
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