101. Kapitel
Es war das erste Mal, dass Konstantin Tia gegenüber Wut verspürte.
„Das ist nicht der Moment für schlechte Witze", schnaubte er und wandte sich von ihr ab, damit sie nicht seinen verletzten Blick sehen konnte.
Sirius war tot. Das hatte er sich so lange eingeredet, bis er es akzeptiert hatte. Er spürte, wie er langsam heilte. Sirius Tod lag noch immer über ihm, wie eine dunkle Gewitterwolke, aber er funktionierte langsam wieder. Er musste sich nicht mehr um sich selbst sorgen, sondern um andere auch. Liza und Tia... Harry und die Weasleys. Sie alle waren da draußen und er musste dafür sorgen, dass sie den Krieg überstanden.
„Ich mache keine Witze!", rief Tia aufgebracht, „Ich habe es zuerst auch nicht geglaubt, aber dann bin ich der Spur gefolgt und –"
„Tia, es reicht!", schrie Konstantin sie an und drehte sich wieder um und Tia zuckte zurück, „Sirius ist tot! Du musst dich irren!"
Tia schaute ihn kühl an und hob stolz ihren Kopf. „Es ist möglich, dass ich mich bei Sirius geirrt habe, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich Agnes gerochen habe. Ich habe auch Leichen gefunden – sie sind von einem Werwolf umgebracht worden."
„Es könnte auch ein anderer Werwolf gewesen sein", schlug Liza sanft vor, die selbst überrascht davon war, wie Konstantin reagiert hatte.
„Nein." Tia schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin mir ganz sicher. Ich kenne Agnes und ihren Geruch. Ich kenne eigentlich auch Sirius und seinen Geruch, aber... er ist doch gestorben."
„Man hat nie eine Leiche gefunden", zeigte Liza auf und sofort wandte Konstantin sich seiner Schwester zu und sah sie warnend an.
„Nein!", widersprach er scharf, „Sirius ist tot. Akzeptiert es einfach."
„Ich verstehe, dass du dir keine Hoffnungen machen willst, aber...", begann Tia unsicher, „Vielleicht sollten wir der Sache einmal nachgehen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Agnes noch lebt und irgendwo da draußen ist und wir sollten sie suchen."
„Aber wo beginnen wir mit unserer Suche?", fragte Liza sich.
„Sie sind am Bach appariert, also können wir sie dort nicht mehr verfolgen", seufzte Tia.
„Vielleicht können wir irgendwie vermuten, wo sie sind. Wir könnten im Orden nachfragen, ob sie etwas von ihnen gehört haben."
„Denkst du wirklich, dass Agnes und Sirius zum Orden gehen?"
„Warum nicht? Wohin sollten sie zuerst gehen?"
Konstantin lauschte der Unterhaltung der beiden. Er wollte nicht glauben, dass Sirius wirklich lebte, aus Angst, dass er erfahren würde, dass er doch tot war.
Aber Tia könnte Recht behalten, was Agnes betraf. Agnes war vielleicht wirklich nicht umgebracht worden, wie die meisten im Orden (außer Fred) geglaubt hatten.
Konstantin hatte mit Agnes nie wirklich viel zu tun gehabt, aber für Tia war sie eine Schwester geworden. Remus hatte das Mädchen einfach so gut wie adoptiert, nachdem sie von einem Werwolf gebissen worden war und hin und wieder hatte Remus sie auch als seine „Tochter", bezeichnet, als wäre sie seine Tochter, wie auch Tia.
Agnes bedeutete Tia viel, deswegen wunderte es Konstantin nicht, dass das Mädchen so vehement darauf bestand, nach ihr zu suchen.
„Ich hätte eine Idee, wie wir sie finden könnten", gestand Konstantin schließlich seufzend und Liza und Tia drehten sich zu ihm um.
„Wirklich?", fragte Tia und lächelte hoffnungsvoll.
Konstantin zögerte einen Moment. Was war, wenn sie sich doch irrte und nicht einmal Agnes mehr lebte? Was war, wenn Tia enttäuscht wurde? Aber Konstantin bezweifelte, dass Tia Ruhe finden würde, wenn sie es nicht wenigstens versucht hatten. Vielleicht führte der Weg ja in Enttäuschungen, aber vielleicht auch nicht. Wenn sie es nicht versuchten, dann würden sie es nie wissen und was hatten sie schon zu verlieren? Eigentlich gab es nur Gewissheit. Wenn sie dann endlich mit Sicherheit wussten, dass Agnes tot war, würden alle weitergehen können, so wie Konstantin versuchte, nach Sirius' Tod weiterzugehen.
Wenn es auch nur einen kleinen Hoffnungsschimmer gab, dann mussten sie dem wohl folgen und in der Zwischenzeit saßen sie sowieso mit ihren Plänen für das Ministerium fest.
„Ich kenne einen Zauber", gestand Konstantin, „Aber wir brauchen etwas von Agnes – einen persönlichen Gegenstand, Kleidung oder... sonst irgendetwas, das sie bei sich getragen hat in letzter Zeit. Je länger es her ist, desto ungenauer ist der Zauber."
„Wir könnten auf der Lichtung nachsehen", schlug Tia sofort begeistert vor, „Ich kann euch hinapparieren."
„Es ist einen Versuch wert", Konstantin bemühte sich, zu lächeln, „Packen wir unsere Sachen – vielleicht kommen wir nicht mehr hierher zurück."
„Danke, Kon", grinste Tia breit.
Liza lächelte ebenfalls und nickte Konstantin stumm, aber dankbar zu und Konstantin verstand ihren Blick. Sie wollte es auch nur versuchen, um sicher zu sein.
Es war, wie Tia erzählt hatte.
Dort im Gras lagen zwei Leichen und Liza fühlte sich schlecht, dass Tia diese Lichtung ganz alleine gefunden hatte.
Die Leichen waren schon älter und stanken schon. Insekten und Tiere hatten schon an ihnen gefressen und es waren keine sauberen, schönen Leichen.
Die Kehlen der beiden waren zerfetzt und so auch ihre Gesichter. Liza hätte nicht erkennen können, wer diese Männer gewesen waren, so blutig und zerfleischt waren die Gesichter und Körper.
Tia hätte diese Leichen nicht alleine sehen sollen – sie hätte jemanden gebraucht, der bei ihr war, wenn sie diesen Anblick ertragen musste.
Liza selbst war den Anblick von Leichen gewohnt, auch wenn die Leichen der Leute, die im St. Mungos verstarben bei weitem nicht so zugerichtet waren, die diese hier, aber sie hatte auch schon ältere Leichen gesehen.
Konstantin war den Umgang mit solchen Leichen schon gewohnt, denn Mordfälle klärte man selten wegen eines lebenden Opfers auf.
Dementsprechend kühl näherte er sich den beiden Männern am Boden und schien überhaupt keine Gefühlsregung in seinem Gesicht zu zeigen. Er untersuchte sie mit einem neugierigen Blick, der Liza für einen Moment anwiderte.
Es war nicht einmal für Konstantin normal, beim Anblick von Leichen kein Gefühl zu zeigen, besonders da er nur von Freunden, denen er vertraute umgeben war.
Aber Konstantin schien es überhaupt nicht zu interessieren, ob diese Männer hier lebten oder schon tot waren – für sie waren sie vermutlich niemals Menschen gewesen. Für ihn waren es nur interessante Gegenstände, deren Untersuchung ihn weiterbrachten.
Liza war nicht aufgefallen, dass Konstantin Toten und dem Tod gegenüber schon beinahe respektlos geworden war. Wann war er so kühl geworden, dass nicht einmal der Anblick von so hässlich zugerichteten Leichen ein Gefühl in ihm regten.
Liza fragte sich, ob Konstantin überhaupt noch in der Lage war, Gefühle zu zeigen. War alles, was er ihnen zeigte nur eine Maske? Konnte Konstantin überhaupt noch Freude verspüren, oder war nur noch Wut und Trauer zurückgeblieben?
Sirius' Tod hatte ihren Bruder verändert, das wusste Liza, aber in welchem Ausmaß, das konnte man nur ahnen. Aber es schien weitaus schlimmer zu sein, als Liza bisher angenommen hatte.
Allein die Trennung von Charlie war für Liza auf eine gewisse Art und Weise schmerzvoll. Sie war nicht vollkommen auf ihn angewiesen und sie konnte auch sehr gut ohne ihn leben, aber da war diese ständige Sorge und Angst, die sie nicht ruhen ließ. Es war ein stechen im Herzen, wenn sie ohne ihn aufwachte oder wenn sie mitten in der Nacht aufwachte, neben sich griff und für einen kurzen Moment ihr Herz stehenblieb, wenn sie bemerkte, dass Charlie nicht neben ihr war, bevor ihr einfiel, dass er sicher im Fuchsbau war.
Aber Konstantin musste sich keine Sorgen mehr um Sirius machen – er war tot. Vielleicht war ein Stück von Konstantin zusammen mit Sirius gestorben und es war nur noch eine gefühlslose, leere Hülle zurückgeblieben, die sich Gefühlsmasken aufsetzen konnte.
„Sind das Werwolfbisse?", fragte Konstantin an sie gerichtet und riss sie damit aus ihren Gedanken, „Du kennst dich vermutlich besser damit aus."
Liza näherte sich ebenfalls den Leichen und hockte sich neben ihrem Bruder ins Gras. Altes, getrocknetes Blut klebte noch an den grasgrünen Stängeln und der metallische Geruch von Blut lag in der Luft.
Tia blieb mit etwas Abstand zurück und beobachtete die beiden neugierig, vermied aber offensichtlich, auf die Leichen zu sehen.
Liza konnte es ihr nicht verübeln und war sogar froh darüber, dass das Mädchen nicht hinsah. Mit so jungem Alter musste man das nicht sehen, obwohl in Kriegszeiten junge Menschen leider viel zu oft mit solchen Anblicken konfrontiert wurden. Tia sollte noch Kind sein können, aber stattdessen war sie einen Krieg geworfen worden, den sie niemals hatte haben wollen. Keiner wollte Krieg, aber doch gab es ihn überall auf der Welt.
„Das sind Verletzungen von einem Werwolf. Sie liegen schon etwas länger da, aber man erkennt es noch gut", erklärte Liza seufzend und beugte sich vor, um die Augen von einem der Männer zu schließen. Sie hatten glasig und leer hinauf in den blauen Himmel geblickt, aber Liza fand, man sollte jeden Toten ehren – egal, ob er Freund oder Feind gewesen war. Nach dem Tod konnte selbst der schlimmste Feind nichts mehr anrichten.
Die Augen des anderen Mannes waren ausgekratzt und blutige Höhlen waren zurückgeblieben. Liza vermied es, ihn anzusehen.
Konstantin stand zuerst auf und entfernte sich von den Leichen, als wären es wirklich nur Gegenstände, während Liza noch einen Moment neben den beiden sitzenblieb, um ihnen Respekt zu zollen, bevor sie dem Beispiel ihres Bruders folgte.
„Wir suchen Kleidung oder andere Gegenstände", erklärte Konstantin und sah sich selbst um, „Alles, was Agnes eventuell getragen hat."
Tia war sofort begeistert dabei, etwas zu suchen und schnüffelte sich über die Lichtung, wie Liza bemerkte. Das Mädchen war schon bewundernswert und langsam verstand Liza, warum Konstantin darauf bestanden hatte, sie mitzunehmen. Ihre Talente waren in vielen Lebenslagen praktisch und trotz allem war Tia eine intelligente, junge Hexe.
„Danke, Kon", flüsterte Liza ihm leise zu, als Tia außer Hörweite war, „Das bedeutet ihr viel."
„Ich hoffe, sie wird nicht enttäuscht", murmelte er, „Ich hoffe, wir tun das richtige für sie."
„Ich bin zuversichtlich", bestimmte Liza.
„Ich hab etwas!", rief Tia plötzlich und die beiden Geschwister sahen schon beinahe überrascht auf, dass Tia so schnell etwas gefunden hatte, von dem sie alle gedacht hatten, dass sie es überhaupt nicht finden würden.
Tia zeigte auf den Boden und die beiden Gregoroviches gingen zu ihr.
Dort am Boden lagen einige Fetzen, die Liza niemals als Kleidung erkannt hätte. Es waren dreckige Reste von einem Hemd oder T-Shirt, aber sie waren so zerfetzt und schmutzig, dass man nicht einmal mehr die Farbe sehen konnte.
Blut klebte am Stoff, aber es war schon alt und getrocknet.
„Das muss Agnes gehört haben", sagte Tia aufgeregt und deutete auf die Fetzen im Gras, „Es riecht sehr stark nach ihr. Sie muss es zerrissen haben, als sie sich verwandelt hat."
„Klingt logisch", stimmte Liza ihr nachdenklich zu und bückte sich, um die Fetzen näher zu untersuchen.
„Bist du dir sicher?", fragte Konstantin an Tia gerichtet, „Sie könnten auch einem Opfer gehören."
Tia nickte. „Ganz sicher. Es stinkt schon nahezu nach ihr. Sie muss es sehr lange getragen haben."
„Dem Zustand der Leichen nach zu urteilen muss das schon einige Tage her sein", überlegte Liza und blickte zurück zu den beiden Toten, „Funktioniert der Zauber dann noch?"
„Es sollte noch funktionieren", murmelte Konstantin nachdenklich, „Nicht so genau, wie bei frischen Spuren, aber besser, als nichts."
Liza konnte noch immer nicht fassen, dass Agnes wirklich nur kurz vor ihnen in diesem Wald gewesen war. Sie musste doch auch irgendwie hierher gekommen sein.
Allein, um diese Geschichte zu hören, würde er sie gerne finden. Es klang so, als hätte sie so einiges überlebt und erlebt.
Konstantin hielt seinen Zauberstab in Richtung eines Fetzens und murmelte den Zauberspruch und zur Überraschung aller flog der Fetzen auf einmal in die Luft.
„Schnell! Ihm hinterher!", rief Konstantin aufgeregt und die drei beeilten sich, um diesem Fetzen schnell zu folgen und sich nicht abhängen zu lassen.
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