6 | Mord also?

Ein schrilles Klingeln riss Arvid aus seinem Schlaf. Mit einem Ruck setzte er sich auf, um seine Umgebung zu scannen. Das Zimmer, in dem er war, kam ihm ebenso unbekannt vor wie das Bett, in dem er offensichtlich geschlafen hatte. Sein Oberarm pochte schmerzhaft und erinnerte ihn daran, was am Abend zuvor geschehen war.

Seine verfluchte Familie hatte ihn tatsächlich gefunden.

Erneut schrillte die Klingel. Er blinzelte im schummrigen Licht, während er sich vorsichtig vom Bett erhob. Langsam kehrte der Rest seiner Erinnerung zurück: Er war von einer guten Seele namens Lucinda gefunden worden, die ihn nicht nur verarztet hatte, sondern ihn auch in ihrem Haus hatte übernachten lassen. Sein Plan war gewesen, sich davonzuschleichen, ehe sie aufwachte.

Das schrille Klingeln hatte das vermutlich gerade vereitelt.

Im Zwielicht spähte Arvid auf seine Armbanduhr. Es war kurz nach sieben Uhr. Wer würde um diese Zeit hier klingeln, noch dazu an einem Samstag? Unruhig huschte er zur Zimmertür und öffnete sie einen Spalt, um in den Flur schauen zu können. Dort sah er gerade noch, wie Lucinda zur Haustür ging, während sie offenbar genauso schlaftrunken wie er ihren seidenen Morgenmantel zuknotete.

Er presste sich angespannt neben die leicht geöffnete Zimmertür und schloss die Augen, um über die Entfernung dem Gespräch an der Tür zu lauschen.

»Guten Morgen, verzeihen Sie die frühe Störung.« Es war eine tiefe Männerstimme, sachlich, ruhig, aber auch fordernd. »Wir sind auf der Suche nach einem Mann, dessen letzter Aufenthaltsort hier in der Gegend war.«

Arvids Herzschlag beschleunigte sich. Das klang nach der Polizei. So, wie der Mann das Gespräch eröffnet hatte, klang es nicht so, als ob sie auf Lucindas Anruf hin gekommen wären, aber er wusste nur zu gut, dass sie die Polizei hatte rufen wollen. Sie hatte jeden Grund, den Polizisten zu sagen, dass er sich bei ihr im Haus aufhielt.

»Können Sie sich ausweisen?« Die helle Stimme gehörte Lucinda.

»Natürlich, entschuldigen Sie, damit hätten wir eröffnen sollen. Mark, zeig deinen auch.« Die Männerstimme klang noch immer ruhig.

Für einige Momente blieb es still, in denen Lucinda vermutlich die Ausweise der beiden Polizisten studierte. Dass sie überhaupt auf die Idee gekommen war, danach zu fragen, war ein Wunder. Die meisten Menschen dachten da gar nicht dran und ließen sich von einer Uniform einschüchtern. Aber jetzt hatte sie noch weniger Grund, seine Anwesenheit zu verbergen. Arvid war sich sicher, dass die beiden Männer an der Tür echte Polizisten waren.

»Danke. Können Sie mir noch mal erklären, was genau Sie hier suchen?« Erneut überraschte Lucinda ihn. Sie schien doch nicht so gierig darauf, ihn zu verraten, wie er befürchtet hatte.

»Unsere Kollegen und wir gehen gerade von Haus zu Haus, um zu sehen, ob es Augenzeugen gibt. Wir suchen einen Mann mittleren Alters, der hier gestern Nacht durchgekommen sein soll.«

Mit angehaltenem Atem lauschte Arvid, während er gleichzeitig das Fenster am anderen Ende des Raumes fixierte. Es war definitiv groß genug, dass er durchpassen würde. Wenn Lucinda auch nur ein Wort über ihn verlor, würde er sich verdrücken.

»Tut mir leid, ich kann Ihnen da nicht weiterhelfen.«

Zischend stieß Arvid die Luft aus. Sie log für ihn? Warum? Er hätte erleichtert sein sollen, doch stattdessen spürte er wieder Misstrauen in ihm aufsteigen. Kein normaler Mensch würde einfach so die Polizei anlügen, insbesondere nicht in dieser Situation. Lucinda findet einen blutenden Fremden und versorgt ihn. Dann, als sie die Polizei rufen will, überredet er sie, das nicht zu tun. Alles daran wirkte verdächtig – warum also sprach sie das nicht aus?

»Sind Sie sich sicher?« Eine höhere Männerstimme war zu hören, vermutlich von dem, der Mark genannt wurde. »Es müsste so um Mitternacht passiert sein. Sie haben hier nichts mitbekommen?«

Diesmal schien Lucinda keine Sekunde zu zögern. »Nein, da habe ich schon geschlafen.«

»Ist außer Ihnen sonst noch jemand im Haus?«

»Nein, ich lebe hier alleine. Kein Ehemann oder so.«

Je länger das Gespräch ging, umso unwohler fühlte Arvid sich. Etwas an der Art, wie die beiden Polizisten immer wieder nachhakten, erweckte in ihm den Eindruck, dass sie Lucinda nicht glaubten. Aber warum sollten sie einer unbescholtenen Bürgerin keinen Glauben schenken? Selbst wenn seine Familie mit diesen beiden Polizisten zusammenarbeitete, es sollte nichts geben, was deren Misstrauen speziell gegen Lucinda weckte. Sie hatte ihm versichert, das Blut aus dem Vorgarten vollständig aufgewischt zu haben.

»Falls Ihnen noch etwas einfällt oder Sie etwas sehen, können Sie uns unter dieser Nummer erreichen.« Die Polizisten schienen endlich begriffen zu haben, dass sie hier nicht weiterkamen.

»Vielen Dank«, kam es von Lucinda, deren Stimme seltsam angespannt klang.

Er hörte, wie sich zwei Paar schwere Schritte von der Tür entfernten. Er wollte schon erleichtert aufatmen, da rief Lucinda den beiden hinterher. »Weswegen wird der Mann eigentlich gesucht?«

Obwohl die beiden inzwischen weiter von der Eingangstür entfernt waren, schienen die Worte glasklar an Arvids Ohr zu dringen, als würden sie direkt neben ihm stehen, während sie sprachen. »Er wird wegen Mordes gesucht.«

Eiseskälte erfasste seinen ganzen Körper, als hätte jemand einen Eimer kalten Wassers über ihm ausgeschüttet. Mord? Das war der Vorwand? Hatte er vorher Zweifel gehabt, ob die beiden mit seiner Familie unter einer Decke steckten, so war er sich jetzt sicher. Sie mussten das mit dem Mord von seinem Onkel gehört haben, nichts anderes ergab Sinn.

Zitternd wartete er darauf, dass Lucinda es sich anders überlegte. Niemand würde einen Mörder einfach so bei sich verstecken, selbst jemand wie Lucinda nicht. Doch erneut wurde seine Erwartung negiert. »Dann drücken ich Ihnen mal die Daumen, dass Sie ihn schnell finden!«

Kurz darauf fiel die Eingangstür ins Schloss. Kaum hörbare Schritte näherten sich ihm, doch Arvid konnte sich keinen Zentimeter bewegen. Wie festgefroren stand er neben der Tür und versuchte, das gerade Gehörte zu verarbeiten. Egal, wie er es drehte und wendete, mit Lucinda stimmte etwas nicht.

Die Tür schwang lautlos auf. Lucinda, in ihrem seidenen Morgenmantel und mit zerzausten Haaren, stellte sich mit vor der Brust verschränkten Armen vor ihn und musterte ihn streng. »Mord also, mh?«




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