5 | Unhilfreiche Impulse
Er konnte deutlich sehen, dass Lucinda ihm kein Wort glaubte. Sie hatte keinen Grund dazu, immerhin hatte er ihr noch nicht einmal seinen echten Namen verraten. Aber der Name Arvid von Thulen war gerade zu heiß, um ihn einer fremden Person gegenüber auszusprechen. Lucinda war ihm vom ersten Moment an mit Misstrauen, aber dennoch großer Empathie begegnet. Er sollte sie nicht weiter in seine Probleme reinziehen, als unbedingt nötig war.
»Die Leute, die mir das hier angetan haben«, erklärte er mit einer Geste zu seinem verletzten Oberarm, »sind gut vernetzt. Ich bin mit sicher, dass sie mitbekommen würden, wenn du die Polizei ausgerechnet in der Nähe von dem Ort, wo sie meine Spur verloren haben, rufen würdest. Und dann haben wir beide ein Problem.«
Sie schaute ihn ausdruckslos von ihrem Sessel aus an, den Rücken durchgedrückt, beide Hände um ihr Handy geklammert. Er konnte nicht sagen, ob sie über seine Worte ernsthaft nachdachte. So offen und zugewandt ihr Gesichtsausdruck auch beim Verbinden der Wunde gewesen war, so verschlossen wirkte sie jetzt.
Schließlich ließ sie die Schultern sinken und lehnte sich zurück. »Okay, das ist nicht völlig abwegig, da muss ich dir leider zustimmen.«
Schon wieder überraschte diese junge Frau ihn. Sie kannte ihn nicht und nahm ihm trotzdem ab, dass es zu ihrem eigenen Schutz war, die Polizei nicht zu rufen? Er spürte wieder Zweifel in ihm aufsteigen. Wie geübt sie seine Wunde verbunden hatte. Wie unbeeindruckt sie das Blut vom Gehweg entfernt hatte. Wie schnell sie ihm jetzt Glauben schenkte. Diese vielen Kleinigkeiten, die er innerhalb von kaum zwei Stunden bei ihr beobachtet hatte, ergaben nicht das Bild einer verängstigten, alleine lebenden jungen Frau.
»Du schluckst das einfach so? Ich hätte mehr Gegenwehr erwartet.« Er musste sein Misstrauen aussprechen, sonst würde er keine ruhige Nacht haben.
Sie zuckte nur mit den Schultern. »Du bist mit einer blutenden Schussverletzung hier aufgetaucht, offensichtlich auf der Flucht vor irgendjemandem. Du reagierst aggressiv, wann immer ich die Polizei erwähne. Es ist nicht völlig unlogisch, dass du Angst vor der Polizei hast, weil deine Verfolger sie ausnutzen könnten. Und bisher bin ich noch gewillt, dir zu vertrauen, John.«
Die Art, wie sie seinen Namen betont aussprach, machte ihm klar, dass sie genau wusste, dass es nicht sein echter war. Er fluchte innerlich. Lucinda hatte ihm das Leben gerettet und dafür war er ihr dankbar. Aber da war eine Cleverness in ihr, die ihm missfiel. Alles an dieser Situation war zu einfach, zu gut für ihn gelaufen. Das passierte ihm nicht. Nicht mehr. In seinen über dreißig Jahren auf dieser Welt hatte er eines schnell gelernt: Wenn er keinen perfekten Plan hatte, lief nichts gut für ihn. Nie.
Müde fuhr er sich mit einer Hand übers Gesicht. Es half nicht, dass seine Gedanken immer wieder zu dem Moment zurückkehrten, in dem sie ihn durch ein sanftes Streicheln geweckt hatte. Die warme Neugier und Bewunderung, die so deutlich aus ihren Augen geschienen hatte, hatten ihm einen Stromschlag versetzt, der ihn augenblicklich aus seinem Schlaf gerissen hatte.
Sein Blick wanderte wieder zu ihr. Da waren sie wieder, diese großen, grauen Augen, die ihm bis auf den Grund der Seele zu sehen schienen. Er fühlte sich seltsam nackt unter Lucindas Blick. Als wäre es das Normalste der Welt, starrte sie ihn an, ohne sich ertappt oder verlegen zu fühlen. Arvid schluckte, aber zwang sich, nicht wegzuschauen.
Schließlich war Lucinda es, die den Blickkontakt abbrach. Sie erhob sich mit trägen Bewegungen von ihrem Sessel und deutete durch die offenstehende Wohnzimmertür. »Neben der Küche ist ein kleines WC und am Ende des Ganges ist mein Arbeitszimmer. Ich hab da ein Gästebett stehen, frisch bezogen und gemacht. Du kannst das gerne nutzen. Dusche ist oben, links von der Treppe, falls du sie brauchst.«
Er nickte mechanisch. Sie schaute ihn nicht an, während sie das erklärte, und er selbst blickte ebenfalls starr auf den Boden. Sie war zu freundlich. Zu vertrauensvoll, obwohl sie ihn jeden Schritt entlang des Weges in Frage gestellt hatte. Zu aufmerksam. Das Beste wäre, wenn er am frühen Morgen verschwinden konnte, ehe sie wach wurde. Wenn sein Körper nicht so schwach gewesen wäre, hätte er sich jetzt schon davon gemacht, aber er wusste, dass das unmöglich war.
Mit einem Nicken erhob er sich vom Sofa im selben Moment, als Lucinda von ihrem Sessel wegtreten wollte. Für einen Herzschlag berührten sich ihre Körper beinahe. Er konnte ihre Wärme spüren und den fruchtigen Duft ihres Shampoos riechen. Hitze durchfuhr ihn. Es wäre so leicht, sie gegen die Wand zu drücken und besinnungslos zu küssen. Und dem Hauch von Rosa auf ihren Wangen nach zu urteilen, wäre sie dem Gedanken nicht ganz abgeneigt.
Hastig trat er an ihr vorbei. Er war müde und verletzt, hatte Schmerzen und wenig im Magen. Kein Wunder, dass sein Körper sich plötzlich nach Nähe und Geborgenheit sehnte und ihm ganz und gar unhilfreiche Impulse schickte. Es war definitiv besser, wenn er nur ein paar Stunden schlief und dann verschwand.
An der Tür zum Flur blieb er noch einmal stehen und drehte sich zu Lucinda um. »Danke. Für alles. Du hast mir mein Leben gerettet.«
Sie schaute ihn mit einem neutralen Gesichtsausdruck an. »Ich lasse ungerne fremde Menschen in meinem Vorgarten ausbluten. Ich hoffe nur, dass ich meine gute Tat nicht bereuen werden.«
Bei den letzten Worten zog sie eine Augenbraue hoch und blickte ihm direkt in die Augen. Er verstand die Botschaft. Sie vertraute ihm nicht, nicht wirklich zumindest, aber sie war bereit, ihn in ihrem Haus zu dulden. Was sie vermutlich als Misstrauen und Zweifel sah, kam ihm wie ein riesiger Vertrauensvorschuss und Gefallen vor. Er würde das nicht aufs Spiel setzen, indem er etwas unbedachtes tat.
»Gute Nacht, Lucinda.«
»Gute Nacht, John.«
Er durchquerte den Flur und öffnete vorsichtig die Tür zum beschriebenen Zimmer. Da war tatsächlich ein gemachtes Bett direkt am Fenster. Ohne das Licht anzumachen, durchquerte Arvid den Raum und zog die Vorhänge zu. Es war besser, wenn kein zufälliger Beobachter ihn in diesem Haus erspähen konnte. Dann zog er sich unter Stöhnen die Schuhe, Socken und Hose aus und ließ sich erschöpft aufs Bett fallen.
Während er sich langsam dem Schlaf übergab, ging ihm auf, dass Lucinda am Ende ihr Handy doch behalten hatte. Er schmunzelte.
Was für ein gerissenes Biest.
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