25 | In der Falle
Geduldig ging Arvid hinter Lucinda her. Seit sie beschlossen hatten, ihr Glück zu versuchen, war die Lucy, die er am Vortag kennengelernt hatte, wieder da: entschlossen, zielstrebig, selbstbewusst. All ihre Unsicherheit und Verletzlichkeit waren verschwunden und er hatte wieder jene starke Frau an seiner Seite, die ihm das Leben gerettet hatte.
Er sollte sich darüber freuen, immerhin führte sie ihn gerade zu einem geheimen Treffen mit jemandem, der ihm endlich Freiheit von seiner Familie schenken könnte. Doch ein Teil von ihm konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass er eine Chance verpasst hatte. Dass Lucinda sich weiter geöffnet hätte, wenn er es nur zugelassen hätte.
Er war froh, dass sie vor ihm ging und so nicht sehen konnte, wie er immer wieder grummelnd den Kopf schüttelte. Er kannte diese junge Frau keine zwei Tage. Was war nur los mit ihm? Wenn sie ihr Ziel erreicht hatten, würden sie wieder getrennter Wege gehen. Es gab nichts, was sie verband, außer die Lebensgefahr, in der sie gerade wegen ihm schwebten. Er kannte sie nicht einmal wirklich. Gewiss, sie beide fühlten diese unglaubliche Anziehungskraft zwischen ihnen, aber das waren nur ihre Körper, die aufeinander reagierten.
Er hatte erwartet, dass Sex helfen würde. Dass er über seine körperliche Reaktion auf sie hinwegkommen würde, wenn er sie einmal gehabt hatte. Nichts dergleichen war passiert, im Gegenteil. Er wollte mehr. Viel mehr. Mehr, als sie ihm geben konnte. Mehr als irgendeine Frau ihm jemals geben konnte.
Innerlich fluchend beschleunigte er seine Schritte. Er sollte sich eine Scheibe von Lucinda abschneiden. Die Nacht hatte bei ihr offensichtlich auch Eindruck hinterlassen, aber sie ließ sich davon nicht beirren und war ganz auf ihre Aufgabe fokussiert. Und es war nicht einmal wirklich ihre Aufgabe, es war seine. Er sollte der konzentriertere von beiden sein.
Es war gut, dass alles bald ein Ende hatte und er Lucy dann nie wieder sehen musste. Ihre Gegenwart war eine Gefahr für ihn.
***
»Auf der nächsten Lichtung müsste das alte Fabrikgelände sichtbar werden!«, rief Lucinda ihm über die Schulter zu.
Nach einem stundenlangen Marsch quer durch die Natur, abseits aller Wege und Straßen, schien sie tatsächlich das Ziel gefunden zu haben. Er bewunderte sie dafür, ohne GPS in einem Wald nicht die Orientierung zu verlieren. Genauso wie er sie dafür bewunderte, dass sie am Telefon stur geblieben war und sich nicht dazu hatte überreden lassen, ins Büro ihres Kontaktes zu kommen. Ein Treffen abseits der Zivilisation war definitiv das beste in der gegebenen Situation.
»Jetzt müssen wir nur noch hoffen, dass meine Familie uns nicht auflauert.«
Lucinda verlangsamte ihre Schritte, so dass er zu ihr aufschließen konnte. Dann schaute sie ihn mit einem milde genervten Gesichtsausdruck an. »Du musst das Unglück ja nicht hinauf beschwören.«
Er hob beide Hände hoch. »Hatte ich nicht vor.«
»Ich habe deine Familie in dem Gespräch überhaupt nicht erwähnt. Ich habe nicht einmal dich erwähnt. Es gibt keinen Grund, warum irgendjemand in deiner Familie mitbekommen haben sollte, dass wir uns hier treffen. Du musst dir keine Sorgen machen.« Sie sagte diese Worte mit einem Nachdruck und einer Bestimmtheit, die ihn fast überzeugten.
Aber nur fast. Er kannte seine Familie viel besser als sie. Sie hatten Augen und Ohren überall. Es war nicht so unwahrscheinlich, dass sie Wind von diesem Treffen bekommen würden. Insbesondere weil die Kontaktperson sicherlich nicht stillschweigend hergekommen war, sondern jemanden über ihre Absichten informiert hatte.
Der Wald lichtete sich und in einiger Entfernung konnte Arvid jetzt tatsächlich die Ruine einer alten Fabrik aufragen sehen. Ermutigt schaute Lucinda zu ihm auf. »Komm. Wir haben es fast geschafft.«
***
»Ich verstehe jetzt, warum du dich abseits treffen wolltest. Wow.« Die ältere Frau mit kurzen schwarzen Haaren fuhr sich mehrmals über den Mund, während sie in der Lagerhalle auf und ab lief. Arvid konnte ihre Anspannung beinahe mit den Händen greifen. Er spürte sie selbst.
»Können wir damit was machen?«, hakte Lucinda nach. Sie hatte ein groben Zügen erzählt, was er ihr erzählt hatte, so dass er selbst nur wenige Details hinzufügen musste.
Es dauerte eine Weile, bis sie eine Antwort bekamen. »Das kann ich so spontan nicht sagen. Und es hängt natürlich von den Informationen auf dem Stick ab. Ich persönlich bin geneigt, dir zu glauben, Lucy. Aber das liegt daran, dass ich jahrelang eng mit deinen Eltern gearbeitet habe und weiß, dass sie dir kritisches Denken beigebracht haben. Ohne hieb- und stichfeste Beweise können wir gar nichts anstellen.«
Die stämmige Frau unterbrach ihr nervöses Herumlaufen. »Aber wenn das, was ihr sagt, stimmt, ist da schon das nächste Problem. Ich muss die Daten alleine auswerten, weil ich nicht wissen kann, wer kompromittiert ist. Verflucht. Wir bekommen ständig Antikorruptionstrainings, aber niemand hat mich darauf vorbereitet, wie isolierend sich das anfühlt.«
Sie schüttelte den Kopf und setzte sich auf einen Stapel alter Ziegelsteine. »Aber das ist mein Problem. Es ist nicht so, als wüssten wir nicht alle, dass Spione in den eigenen Reihen sitzen können. Das ist Teil des Jobs. Es war nur noch nie so real wie jetzt. Ich kümmere mich darum. Wichtiger ist jetzt, was wir mit euch beiden machen. Ihr braucht Schutz, aber den kann ich euch von uns aus nicht garantieren. Das muss ebenfalls am System vorbeilaufen, wenn wir eine Chance haben wollen.«
Mit vor der Brust verschränkten Armen lehnte Arvid sich an einen Stützbalken und schaute auf Maria hinab. »Wir können noch ein paar Tage da unterkriechen, wo wir bisher waren.«
Ein ungläubiges Lachen von Lucinda widersprach ihm sofort. »Absolut nicht. Für eine Nacht oder zwei, okay. Aber zu zweit da drin, ohne Dusche? Keine Chance.«
In der Stille, die darauf folgte, war nur das leise Knarzen des Balkens zu hören, an den Arvid sich lehnte. Und so horchten sie alle drei gleichzeitig auf, als ein weiteres Geräusch an ihre Ohren drang.
»Schritte«, hauchte Maria kaum hörbar, während sie gleichzeitig mit einer geübten Bewegung ihre Waffe unter ihrer Jacke hervorzog.
Arvids ganzer Körper spannte sich an. Er hatte es gewusst. Es war unmöglich, irgendetwas an seiner Familie vorbei zu bekommen, selbst ein harmloses, kurzes Telefongespräch wie das zwischen Lucinda und Maria. Und jetzt saßen sie in der Falle, mitten im Nirgendwo, zu dritt in einer eingefallenen Lagerhalle.
Maria hob einen Finger an ihre Lippen und schaute sie beide bedeutungsvoll an. Dann machte sie eine zackige Bewegung mit ihrer Hand, um ihnen zu bedeuten, ihr dicht auf den Fersen zu folgen. Arvid hatte gut Lust, sich Lucinda zu schnappen und zu rennen, doch er wusste, das wäre Selbstmord. Unwillig schloss er sich den beiden Frauen an, die auf leisen Sohlen zu einem Durchbruch in der Wand schlichen.
Mit klopfendem Herzen und angehaltenem Atem presste er sich neben Lucinda gegen die Wand, während sie darauf warteten, dass Maria in den Gang hinter dem Durchbruch spähte und das Signal gab, dass die Luft rein war.
Auf ihr Handzeichen hin setzten sie sich alle in Bewegung. Noch immer um Geräuschlosigkeit bemüht, aber mit großer Hast, eilten sie durch den fensterlosen Gang. Arvid betete, dass sie ihre Verfolger umgehen konnten, doch er ahnte, dass ihre Chancen gering waren.
Als Maria einen Fluch ausstieß, kaum dass sie um die Ecke bog, wusste er, dass sie in der Falle saßen.
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