18 | Ein guter Geist


Nachdenklich starrte Lucinda in den Himmel. Nachdem Arvid ihr seine Geschichte erzählt hatte, hatte sie ihm ein wenig Raum geben wollen. Sie war kurzentschlossen aufs Dach der Hütte geklettert, um sich einen Überblick über die Umgebung zu verschaffen. Nachdem sie eine halbe Stunde lang intensiv alle Richtungen beobachtet hatte, lag sie jetzt auf dem Rücken und starrte durch die blätterlosen Äste nach oben.

Nicht nur Arvid brauchte gerade Abstand. Seine Erzählung hatte ihr Weltbild erschüttert und so gerne sie auch sagen wollte, dass sie ihm kein Wort glaubte, sie konnte nicht. Sie hatte in der Therapie gelernt, sich bewusst für die Emotionen anderer Menschen zu öffnen, wenn sie sich nur genug konzentrierte. Was sie von ihm gefühlt hatte, hatte zu jedem Wort gepasst. Wut, Traurigkeit, Enttäuschung, Verzweiflung, Angst. Natürlich konnte das gespielt sein. Sie war kein menschlicher Lügendetektor.

Aber ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass sie ihm zumindest in diesem Punkt vertrauen konnte.

Wärme breitete sich in ihr aus, doch sie unterdrückte das Gefühl verbissen. Wann immer Arvids Gesicht vor ihren Augen auftauchte, wie er so offen über seine Erfahrungen gesprochen hatte, rollte eine Welle der Zuneigung über sie. Sie wollte ihn in ihre Arme schließen und an sich drücken. Und ihn dann zum Bett rüber ziehen.

Verletzlichkeit war sexy.

Ein Grinsen huschte über ihr Gesicht. Seit sie in Gruppentherapien erfahren hatte, wie wenige Menschen sich tatsächlich öffnen konnte, hatte sie neuen Respekt gewonnen für jene, die sich verletzlich zeigen konnte. Es zeigte eine innere Stärke, die sie unwiderstehlich fand. Insbesondere, wenn sie so heiß verpackt war wie Arvid.

Kopfschüttelnd schloss sie die Augen. Jetzt gerade war der denkbar schlechteste Zeitpunkt, um ausgerechnet über so etwas nachzudenken. Sie hatten wichtigere Dinge zu tun. Zum Beispiel einen Ausweg für Arvids festgefahrene Situation zu finden. Seine Familie war ihm auf den Fersen und offensichtlich der Absicht, ihn aus der Welt zu schaffen. Warum auch immer sie plötzlich ihren Sündenbock opfern wollten, sie würden nicht lockerlassen, bis das Werk vollbracht war.

Ihr eigenes Leben war entsprechend ebenso in Gefahr. Spätestens jetzt, wo ihr klargeworden war, dass man absichtlich auf sie gezielt hatte, musste sie der Tatsache ins Auge sehen, dass sie aus Sicht der von Thulens zu viel wusste. Vermutlich war ihr Schicksal besiegelt in dem Moment, da sie Arvid über ihre Türschwelle gelassen hatte.

Sie war dankbar für ihren Hang, zu viel zu planen. Arvids Rucksack war voll mit Lebensmitteln, die sie für eine Handvoll Tage über die Runden kommen lassen sollten. Mit zwei oder drei Tagen Ruhe sollte ihnen ein Plan einfallen, wie sie zurück in die Zivilisation kehren konnten, ohne sofort umgelegt zu werden. Und vielleicht sogar ein Plan, wie sie ihrer beider Zukunft retten konnten.

»Hier versteckst du dich also!« Arvids Stimme ließ sie ruckartig aufsitzen.

Lucinda schaute nach rechts, wo sein Kopf gerade so über das Dach schaute. Er musste auf einen Stuhl geklettert sein, um sie sehen zu können. Sie zog ihre Beine an und schlang ihre Arme um die Knie, während sie ihn vorsichtig beobachtete. »Hätte nicht gedacht, dass du mich hier so schnell findest.«

»Die Hütte ist hauptsächlich aus Holz und schlecht isoliert.« Sie konnte ein Lachen aus seiner Stimme raushören.

Gespielt empört zog sie eine Augenbraue hoch. »Willst du damit andeuten, ich wäre ein Trampeltier?«

Arvid stützte beide Hände auf die Dachkante und zog sich mit viel zu großer Leichtigkeit hoch. Lucinda selbst hatte einiges an Schweiß investieren müssen, um aufs Dach zu kommen – und das war es vermutlich, was er gehört hatte. Mit einigem Abstand zu ihr setzte Arvid sich im Schneidersitz hin und schüttelte den Kopf. »Nein, natürlich nicht. Du bist leise wie ein Ninja.«

Gegen ihren Willen musste sie grinsen. »Lautlosigkeit ist mein Spezialgebiet. Nur alte Holzhütten sind mein Todfeind.«

»Na klar, Tierärzte sind bekannt dafür, dass man sie nicht hören kann!«

»Tiermedizinische Fachangestellte, bitte! Ich bin kein Arzt, ich helfe nur. Und von uns sagt man in der Tat, dass wir die nicht wahrnehmbaren guten Geister der Praxis sind.«

Arvid rückte ein Stück näher an sie ran und imitierte ihre Körperhaltung. Mit auf den Knien abgestütztem Kopf schaute er sie von der Seite an. »Ich habe keine Sekunde daran gezweifelt, dass du ein guter Geist bist.«

Lucinda schluckte. So scherzend er gerade noch gesprochen hatte, so ernsthaft klang er jetzt. Unsicher erwiderte sie seinen Blick. Gegen die volle Macht seiner offenen Gefühle hatte sie keine Chance. Hitze stieg ihr in die Wangen. Um davon abzulenken, schaute sie betont auf ihre nicht existente Armbanduhr. »In den letzten knapp zwölf Stunden scheinst du deine Meinung über mich mehrmals extrem geändert zu haben. Sicher, dass du mich als guten Geist gesehen hast, als du mir vor einer Stunde beinahe den Arm zerquetscht hättest?«

Arvids Kopf schoss ruckartig in die Höhe. »Das war keine Absicht. Shit. Hab ich dir wehgetan? Zeig mal her.«

Sie schüttelte den Kopf und hielt ihr Handgelenk in die Höhe, um ihn zu beruhigen. »Nein, nein, so meinte ich das nicht. Hier, alles in Ordnung. Was ich sagen wollte, du hast heute mehrmals deutlich gemacht, dass du mir nicht weiter traust als ich dir.«

Trotz ihrer Beschwichtigungen griff Arvid sanft nach ihrer Hand und zog ihren Arm ein Stück zu sich. Nachdem er das Handgelenk intensiv gemustert hatte, ließ er wieder los und seufzte tief. »Kannst du mir das übelnehmen? Was sollte ich denn davon halten, dass du aus heiterem Himmel meinen Namen kennst?«

Dort, wo seine Finger ihren Arm berührt hatten, schien Lucindas Haut in Flammen zu stehen. Sie hasste es, wie sehr sie sich zu ihm hingezogen fühlte. Das war einfach nicht hilfreich. Angespannt leckte sie sich über die Lippen. »Das meine ich nicht. Natürlich verstehe ich dein Misstrauen. Aber in dem Moment war ich für dich doch wahrlich kein guter Geist, oder?«

Er zuckte mit den Schultern, den Blick immer noch auf sie gerichtet, als wollte er sie mit der Glut, die in seinen Augen stand, in Flammen setzen. »Ich weiß nicht. Du hast mir das Leben gerettet. Egal, wie viel Misstrauen ich gegen dich gefühlt hab in dem Moment. Du warst trotzdem das Wunder, das ich nicht verdient hatte.«

Lucinda meinte, ihr Herz stolpern zu fühlen. Ihr Gesicht stand in Flammen und sie wusste, dass er die Röte sehen konnte, was es nur noch schlimmer machte. Es sollte verboten sein, solche unfassbaren Worte auszusprechen und dabei so ernsthaft zu wirken. Wie sollte sich frau dagegen wehren?

Noch einmal fuhr sie sich mit der Zunge über die Lippen. Arvids Blick folgte der Bewegung im selben Moment, als ihr Blick auf seine Lippen fiel. Beinahe gleichzeitig schnappten ihre beiden Blicke zueinander zurück. Mit einem Herz, das ihr bis in die Kehle klopfte, und angehaltenem Atem starrte sie zu ihm. Ohne ihr Zutun breitete sich die Wärme wieder in ihr aus.

Es war das denkbar dümmste, was sie in dieser Situation tun konnten. Es war unhilfreich, es war gefährlich, es lenkte ab, es vernebelte die Sinne von ihnen beiden. Aber sie hatte dem Impuls ihres Körpers nichts mehr entgegenzusetzen.

Noch während ihre Gedanken wie ein Strudel durcheinander wirbelten, spürte sie, wie sie sich vorbeugte. Als hätte er nur auf ein Zeichen gewartet, griff Arvid mit beiden Händen nach ihren Schultern und zog sie zu sich ran. Kurz wartete er, als ob er ihr eine letzte Chance geben wollte zu fliehen, dann schloss er den letzten Abstand zwischen ihnen.

Der Kuss, den er sie ihr gab, verwandelte die Wärme in ihr in ein Strohfeuer, das sie augenblicklich verzehrte und all ihre Gedanken in Luft auflöste.




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